Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Tragödie „Faust I“ von Johann Wolfgang von Goethe, veröffentlicht 1808, thematisiert die Suche des Wissenschaftlers Heinrich Faust nach ganzheitlicher Erfahrung, welche er durch einen Pakt mit dem Teufel Mephistopheles erreichen möchte. Dies führt dazu, dass er sich in das sehr junge und naive Mädchen Gretchen verliebt, sie schwängert und Faust zum Verantwortlichen für den Tod von Gretchens Mutter, Bruder, ihrem gemeinsamen neugeborenen Kind und ihr selbst macht. In der zu analysierenden Szene „Straße I“, welche von Vers 2606 bis 2677 geht, treten als Gesprächspartner Faust, Gretchen und Mephistopheles auf.
Das Thema der Szene ist die erste Begegnung zwischen Faust und Gretchen. Faust, der nach seinem Besuch in der Hexenküche auf die Straße geht, sieht Gretchen, die gerade von der Beichte aus der Kirche kommt. Er entwickelt sofort Liebesgefühle für das junge Mädchen und spricht sie mit schmeichelnden Worten an, worauf sie abweisend reagiert. Nachdem Mephistopheles erschienen ist, unterhält Faust sich mit diesem darüber, wie er durch seine Unterstützung schnellstmöglich ein Verhältnis mit Gretchen beginnen und sie verführen kann.
Die vorliegende Szene kann ungefähr in die Mitte der Tragödie eingeordnet werden. Vor der Szene befindet sich Faust in einer Hexenküche, in die er von Mephistopheles gebracht wurde, damit er endlich Freude verspürt und Mephisto somit seine Wette um Faust mit Gott gewinnt. Obwohl er anfangs skeptisch ist, bekommt er einen Hexentrunk verabreicht, der ihn von einem alten Mann in einen jungen verwandelt und zu der Entstehung starker Liebesgefühle führt, die durch Helena aus der griechischen Mythologie repräsentiert werden. Nach der Szene statten Faust und Mephistopheles Gretchens Zimmer in ihrer Abwesenheit einen Besuch ab, wie es Faust von Mephisto versprochen worden ist. Dort ist Faust völlig eingenommen von Gretchens Aura und fühlt sich noch mehr hingezogen zu ihr. Die beiden hinterlassen Gretchen das ebenfalls von Mephisto versprochene Schmuckkästchen.
Den Anlass der Szene stellt eben diese Verwandlung Fausts dar, die ihn dazu verleitet, sich in die erste Frau zu verlieben, der er begegnet, was in diesem Fall Gretchen ist. Aufgrund dieser äußerst intensiven Gefühle möchte er dem Mädchen unbedingt näher kommen und sucht deshalb Mephistos Hilfe, der sich durch den Pakt in Form einer Wette zu seinem Diener verpflichtet hat, wenn auch nur um Diesseits.
Die Szene kann in drei Textabschnitte gegliedert werden. Der erste Textabschnitt geht von Vers 1 bis 17, der zweite von Vers 18 bis 39 und der dritte von Vers 40 bis 80.
Im ersten Abschnitt findet die erste Begegnung zwischen Faust und Gretchen auf der Straße statt, bei der Faust versucht, durch Komplimente Gretchens Aufmerksamkeit zu erlangen, welche jedoch ablehnend reagiert und „ungeleitet nach Hause“ (V. 6) geht, nachdem sie sich von Fausts Arm befreit hat. Faust verspürt Liebe und Bewunderung für das „Kind“ (V. 8), welche sich „tief [in] [s]ein Herz geprägt [habe]“ (V. 15). Faust, der das Gespräch mit Gretchen initiiert, kann keine Bindung zu ihr aufbauen und kann den Dialog nicht halten, obwohl er großes Interesse an Gretchen hat. Diese beendet das Gespräch abrupt, indem sie nach Hause geht, und macht so ihre ablehnende Haltung gegenüber Faust deutlich, von dessen nicht standesgemäßem Verhalten sie überrascht und überrumpelt ist.
Den Übergang zum zweiten Abschnitt stellt der Auftritt Mephistos dar. Faust bittet Mephisto darum, eine Beziehung zwischen ihm und Gretchen einzufädeln, woraufhin dieser entgegnet, dass er über dieses „gar unschuldig Ding“ (V. 25), welches gerade von der Beichte kommt, als Teufel keine „Gewalt“ (V. 27) habe. Des Weiteren macht er Faust darauf aufmerksam, dass ihm nicht jede Frau zur Verfügung steht, womit er sich abfinden sollte. Faust droht Mephisto damit, dass er bei Nichterfüllen dieses Wunsches den Pakt beenden werde. Als Mephisto beginnt, Faust zu kritisieren, stellt er diesem direkt ein Ultimatum, dass die Beziehung der beiden auf die Probe stellt. Faust richtet dabei zu Beginn ihres Gespräches seinen Wunsch nach einer Liebesbeziehung mit Gretchen an Mephisto, welcher ihm diesen erfüllen soll.
Im dritten Abschnitt wird der Plan von Mephisto zur Verführung Gretchens thematisiert. Mephisto erklärt, dass er etwas mehr Zeit braucht, um Gretchen zu beeinflussen, dies aber mithilfe einer „List“ (V. 59) erreichen könne. Er schlägt vor, Gretchens Haus am Abend zu besuchen, damit Faust sich dort „[i]n ihrem Dunstkreis satt […] werden“ (V. 73) kann und sie ihr ein Geschenk hinterlassen können. Hier ist Mephistos Redeanteil deutlich größer als der von Faust, da er hier direkte Lösungsvorschläge für Fausts Problem präsentiert und ihn nicht mehr abweist. Der Konflikt, der durch ihre abweichenden Meinungen im Bezug auf Gretchen ausgelöst wurde, gerät hier wieder in den Hintergrund, da Mephisto Faust entgegenkommt und ihm konkrete Vorschläge und Versprechungen wie den Besuch in Gretchens Zimmer macht, um ihn zu beruhigen. Obwohl die Beziehung zwischen Faust und Mephistopheles immer noch relativ kühl erscheint, was an Befehlen (vgl. V. 76) erkennbar ist, hat sie sich wieder normalisiert.
Alle Dialogpartner, aber hauptsächlich Mephistopheles, setzen eine spezielle Gesprächsstrategie ein, an der ihre jeweiligen Intentionen klar werden. Dies spiegelt sich auch in ihrer Sprache wider, die von besonderen sprachlichen Figuren gekennzeichnet ist.
Zu Beginn der Textstelle spricht Faust Gretchen, da er positiv auf sich aufmerksam machen möchte und Gretchens Interesse wecken will. Er nennt sie ein „schönes Fräulein“ (V. 3), was als Anrede normalerweise adeligen Frauen vorbehalten ist und für Gretchen als Angehörige des dritten Standes unpassend wirkt. Faust bezweckt damit, dass Gretchen sich geschmeichelt fühlt, damit er sie leichter verführen kann. Dies wird verstärkt, indem er Körperkontakt zu ihr aufnimmt. Gretchen jedoch zeigt durch die Anapher1 „Bin weder Fräulein, weder schön“ (V. 5), dass sie kein Interesse hat, in Ruhe gelassen werden möchte und als selbstbewusste, junge Frau nicht auf einen solchen Mann angewiesen ist. Darauf folgt ein Monolog von Faust, in dem er auf romantische Weise Gretchens Charakter, der „sitt- und tugendreich“ (V. 10), aber auch „etwas schnippisch“ (V. 11) ist und ihr Aussehen, das sich durch rote Lippen und schöne Wangen auszeichnet (vgl. V. 13), beschreibt. Diese plötzliche Verliebtheit von Faust, die hier deutlich wird, passt nicht zu dem rational denkenden Wissenschaftler Faust vor seiner Verwandlung und zeigt, dass „Helena“ seine Gedanken- und Gefühlswelt vollständig übernommen hat. Dabei wird auch klar, dass er eigentlich kaum Interesse an Gretchen als Mensch hat, sondern von seinen Trieben gesteuert wird. Als Faust Mephisto auf das Mädchen anspricht, in das er sich frisch verliebt hat, berichtet er davon, dass sie gerade von der Beichte bei „ihrem Pfaffen“ (V. 22) gekommen ist, obwohl sie keine wirkliche Sünde begangen hat. Hier wird Gretchens tiefe Religiosität deutlich, die im weiteren Verlauf der Tragödie eine wichtige Rolle spielt. Des Weiteren zeigt Mephisto, dass seine Macht eingeschränkt ist und gegenüber Personen, die an Gott glauben, keine Wirkung zeigt. Er gesteht sich also ein, dass Gott, mit dem er eine Wette abgeschlossen hat, mächtiger als er selbst ist. Mephisto bezeichnet Faust als einen „Hans Liederlich! (V. 29), der „jede liebe Blum für sich (V. 30), also mit jedem hübschen Mädchen eine Affäre haben möchte. Durch diese Aussage versucht er, Faust von seinem Wunsch abzubringen und ihn wieder zur Vernunft kommen zu lassen, da er weiß, dass er Faust diesen Wunsch aufgrund seiner nicht existenten Macht gegenüber Gott und damit auch gottesfürchtigen Menschen nicht erfüllen kann. Faust bezeichnet ihn wiederum mit dem akademischen Titel „Herr Magister Lobesan“ (V. 34), der zwar typisch für Fausts Charakter als Wissenschaftler ist, in diesem Fall jedoch ironisch gemeint ist. Mephisto argumentiert damit, dass Fausts Verhalten nicht richtig sei (vgl. V. 33), wovon Faust nichts wissen will (vgl. V. 35). Faust verfolgt das Ziel, „das süße junge Blut“ (V. 37) in seinen Armen zu halten, und ist bereit, dafür sogar den Pakt mit Mephisto aufzulösen, wenn dieser ihm den Wunsch nicht erfüllt. Daran wird deutlich, dass Faust sich völlig außerhalb seines Verstandes befindet und von seiner Liebe zu Gretchen so eingenommen ist, dass er sogar die Autorität des Teufels infrage stellt, um mit ihr eine Affäre einzugehen. Nachdem Faust diese Drohung geäußert hat, ändert sich Mephistos Gesprächsstrategie schlagartig, da er große Angst vor einer Auflösung des Paktes hat. Dazu relativiert er seine Aussage, dass er Fausts Wunsch nicht erfüllen könne, und setzt eine Frist von „vierzehn Tag“ (V. 41), um Faust zu beruhigen und ihn von seinem Vorschlag zu entfernen. Faust hingegen zweifelt weiterhin an der Notwendigkeit des Paktes, was an seiner Behauptung, selbst in „nur sieben Stunden Ruh“ (V. 43) so ein „Geschöpfchen“ (V. 45) wie Gretchen verführen zu können, deutlich wird. Mephisto versucht, Faust von seinen Zweifeln abzubringen, indem er ihn davon überzeugen will, dass „[d]ie Freud lange nicht so groß [ist]“ (V. 49), wenn er Gretchen sofort bekommt. Er beginnt, seinen Plan zur Verführung des „Püppchen[s]“ (V. 52) darzulegen. An dieser Bezeichnung für Gretchen wird deutlich, dass sie noch sehr kindlich, naiv und deshalb leicht beeinflussbar ist, was ihm bei der Durchführung seiner „List“ (V. 59) zugute kommt. An dem Verlangen Fausts nach einem „Halstuch von ihrer Brust“ (V. 62) und einem „Strumpfband [s]einer Liebeslust“ (V. 63) wird gezeigt, dass er sich weniger eine emotionale Verbindung zu Gretchen wünscht als eine reine körperliche Nähe, was durch die „Liebesglut“ ausgelöst wurde. Mephistopheles präsentiert sich selbst als „förderlich und dienstlich“ (V. 65), um einen erneuten Bezug zum Pakt herzustellen, den er unbedingt erhalten möchte. Er verfolgt das Ziel, Faust davon zu überzeugen, dass er immer noch sein treuer Knecht und Geselle ist und seine Pflichten, die im Pakt festgelegt worden sind, keineswegs vergessen hat. Um dies weiter zu verstärken, macht er Faust Versprechungen von einem Besuch in Gretchens Zimmer (vgl. V. 67), der am Abend stattfinden soll. Obwohl er Faust die Grenze setzt, dass er Gretchen nicht treffen darf, ist dieser sehr erfreut über „die Hoffnung künft’ger Freuden“ (V. 77, die ihm versprochen werden. Mephisto hat damit sein Ziel erreicht, da nunmehr nicht die Gefahr besteht, dass Faust den Pakt auflöst. Als weiteres Mittel zur geplanten Verführung Gretchens wollen sie ein „Geschenk“ (V. 76) besorgen, das das Mädchen beeindrucken und Faust seinen Wünschen damit noch näher bringen soll.