Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Inhaltsangabe
Das von Johann Wolfgang von Goethe verfasste Gedicht „Ganymed“ aus dem Jahr 1774, zur Zeit des Sturm und Drang, handelt von der Vereinigung des lyrischen Ichs mit der göttlichen Natur.
Die erste der fünf unterschiedlich langen Strophen beschreibt zunächst die Zeit des Geschehens, es ist ein Frühlingsmorgen. Die Natur bewegt sich dabei auf den Sprecher hin, welche „rings“ um ihn herum ist und ihn „anglüht“. In den folgenden Versen liegt die Vetonung auf der Gefühlsintensität des Sprechers gegenüber der Natur.
Die zweiversige zweite Strophe zeigt die Befindlichkeit und die Sehnsucht des Sprechers auf, welcher die Natur „fassen möcht“.
Einen Wechselprozess stellt die anschließende, dritte Strophe dar. Die Natur „drängt sich an sein Herz“, die Sehnsucht steigert sich. Darauf antwortet der Vogel der Liebenden, die Nachtigall.
Die Überraschung des dadurch orientierungslosen Sprechers zeigt Strophe 4: „Ich komme!“ - „Ach wohin?“
In der letzten Strophe ist der Sprecher von der Natur „umfangen“, die sich Liebenden sind ineinander. Die senkrechte Richtung der Liebe („Hinauf – Abwärts – Aufwärts“) zeigt letztendlich auf den „alliebenden Vater“.
Analyse
Auffällig in Goethes „Ganymed“ ist die deutliche Ausprägung des Pantheismus, d. h., dass sich das Göttliche überall in der Natur findet. Deswegen gehört „Ganymed“ der Naturlyrik an.
Von den Regeln der Poetik hat es sich dabei weitgehend gelöst. Es gibt kein Reimschema, kein festes Metrum1 und unterschiedlich klingende Kadenzen2. Formal auffällig ist ansonsten die Häufung der Enjambements3 in der dritten Strophe, welche im Bezug auf die Sehnsucht des Sprechers Dynamik ausdrücken. Des Weiteren lassen sich in der vierten und fünften Strophe viele Wiederholungen erkennen, wie beispielsweise: „Ich komme! Ich komme! Ach wohin? Ach, wohin?“ oder „Mir,mir!“. Ersteres soll die Orientierungslosigkeit des Sprechers nach der überraschenden Antwort der Nachtigall verdeutlichen, das zweite Zitat die Wichtigkeit des Selbst, die eigene Schönheit bei einer gegenseitigen Liebe.
Inhaltlich auffällig ist das in der ersten Strophe in Vers zwei angesprochene „rings“. Dies bedeutet, dass der Sprecher von der geliebten und liebenden Natur umringt ist.
Die Formulierungen „anglühst“ und „sich an mein Herz drängt“ zeigen die Glut des Herzens, die übergroße Liebe und somit eine hohe Gefühlsintensität auf, was auch die Hyperbel4 in Zeile fünf verdeutlicht („tausendfacher Liebeswonne“) Die drei religiösen Begrifflichkeiten zum Ende der ersten Strophe „ewig, heilig, unendlich“ zeigen Züge des Göttlichen auf, welche sich in der Natur widerspiegelt. So ist der „alliebende Vater!“ am Ende des Gedichts auch als geliebte Natur zu verstehen, von welcher das lyrische Ich „umfangen“ ist. Zu erwähnen ist außerdem die Gefühlsleitung des Sprechers durch sein Herz, es ist die Rede von „Durst meines Busens“ und „drängen sich an mein Herz“.
Die senkrechte Richtung der Liebe in der letzten Strophe könnte auf das Göttliche im Himmel hindeuten, zumal im letzten Vers auch der „alliebende Vater“ angesprochen wird. Dagegen spricht jedoch, dass der Sprecher von der göttlichen Natur „umfangen“ ist und dies „rings“ um ihn ist.
Der Titel „Ganymed“ weist auf die griechische Mythologie hin, auf den Schönsten der Sterblichen. Dieses Motiv der Schönheit findet sich in dem Gedicht wieder, da nur die gegenseitige Liebe Nutzen bringen kann, wofür die Schönheit des Sprechers vorausgesetzt wird.
Die Sprachauffassung des lyrischen Ichs ist weitgehend sehr frei. Die Verse und Strophen sind unterschiedlich lang aufgebaut und es finden sich freie Ausrufe, wie z. B. „Ich komme! Ich komme!“ Dies sind Aspekte für die Spontanität und die Echtheit der Gefühle. Die Gefühle sind dabei stark ausgeprägt, das lyrische Ich spricht sehr gefühlsbetont. Teilweise sind die Sätze auch abgebrochen und kurz, was ebenfalls für die gefühlsbetonte Spontanität spricht.
Das Gedich „Ganymed“ kann insgesamt betrachtet als eine sprachliche Umsetzung der Skulptur des „Stein des guten Glück“ angesehen werden, in dem alle Gegensätze in Harmonie und als Darstellung der Schönheit gesehen werden (erfahren nach Goethe Gegensätze Gleichzeitigkeit, vervielfältigen sich die Fähigkeiten des Menschen).
Ausführliche Epocheneinodnung
Das Gedicht „Ganymed“ lässt sich in die Epoche des Sturm und Drang einordnen. Typisch für die Epoche ist der Pantheismus, welcher im „Ganymed“ umfangreich thematisiert wird. Außerdem wendete sich die Epoche gegen überkommene Traditionen in der Literatur, deswegen ging sie mit den Regeln der Poetik frei um, so findet man in dem Gedicht auch keine festgesetzten, poetischen Regeln. In der Gesellschaft wirkte die Epoche oft geschmacksverletzend, wie das zeitgleich entstandene Gedicht „Prometheus“, welches sich ausdrücklich gegen das göttliche wendet. Des Weiteren lässt sich im „Ganymed“ gut erkennen, dass die für die Zeit typischen Emotionen ins Zentrum rücken. Spontan ausgesprochene Sätze stehen im Sturm und Drang im Vordergrund, so finden sich im „Ganymed“ Sätze wie „Ich komme! Ich komme! - Ach wohin? Ach, wohin?“. Zudem finden sich Schlüsselwörter der Zeit wie das „Herz“. Der Geniegedanke lässt sich besonders im mit dem „Ganymed“ verknüpften Gedicht „Prometheus“ erkennen. Ebenfalls das Jahr 1774 deutet auf die Epoche des Sturm und Drang hin.
Vergleich zu der Hymne „Prometheus“
Die beiden Gedichte „Ganymed“ und „Prometheus“ können als Komplemetärgedichte angesehen werden, wobei diese trotzdem gemeinsam betrachtet werden müssen, zumal sie von Goethe 1774 zusammen veröffentlicht wurden.
Zunächst ist formal auffällig, dass beide gedichte Hymnen darstellen. In „Prometheus“ wird das Herz des Menschen auf eine göttliche Ebene gestellt. Das lyrische Ich verfolgt die Motive Aufbegehren, Verselbstung, Ich-Werdung sowie Selbstständigkeit gegenüber dem Göttlichen. Das Göttliche wird verhöhnt und als „kümmerlich“ dargestellt.
Der für diese Zeit aüßerst aufwühlende Charakter wird durch das zeitlich entstandene Gedicht „Ganymed“ relativiert, bei welchem der Pantheismus äußerst positiv und umfangreich dargestellt wird. Die Sehnsucht nach der göttlichen Natur ist stark ausgeprägt, sie wird sogar geliebt. Sie wirkt schmerzlindernd, „heilig“ und „unendlich schön“ auf den Sprecher. Rhetorische Fragen gibt es im Gegensatz zu „Ganymed“ im „Prometheus“ sehr viele, was wiederum verhöhnenden Charakter besitzt.
Ein Beleg für Goethes Willen, die beiden Gedichte miteinander vergleichen zu müssen, welche gegensätzlicher kaum sein könnten, ist neben der zeitgleichen Veröffentlichung, der „Stein des guten Glücks“. Es ist ein Symbol der Gegensätze, welche der Mensch nach Goethes Auffassung in Einklang bringen muss. Schafft er es, dass die Polarität Gleichzeitigkeit erfährt, würden sich seine Fähigkeiten vervielfältigen.