Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Szenen-Analyse und Interpretation
Nicht nur Faust verarbeitet seine Gefühle nach dem Rendezvous, sondern auch Gretchen macht ihrem Herzen am Spinnrade Luft. Aus diesem Grund bietet sich ein Vergleich bezüglich der Erfahrung der existenziellen Erschütterung durch die Liebe der beiden Protagonisten an.
Die Szene „Gretchens Stube“ zeigt einen Monolog Gretchens nach ihrem Treffen mit Faust in Martes Garten.
Ihr Monolog lässt sich in zehn Strophen unterteilen und zeigt lyrischen Charakter.
Gretchen ist durch die Erfahrung der Liebe erschüttert, was die Metapher1 „Mein Herz ist schwer“ (V. 3375) symbolisiert wird. Die Liebe stellt ihr Leben auf den Kopf, denn sie ist in der Unruhe gefangen, was die Klimax2 „ich finde sie nimmer / und nimmermehr“ (V. 3376 f.) deutlich wird. Dabei wiederholt sie die Worte „Meine Ruh‘ ist hin, / Mein Herz ist schwer; / Ich finde sie nimmer / und nimmermehr“ (V. 3374 ff.) im Folgenden dreimal, so dass es als eine Art Refrain oder Mantra, das als die existenziellen Folgen der Liebe gesehen werden kann. Die dramatische Hyperbel3 „wo ich ihn [Faust] nicht hab‘, / Ist mir das Grab, / Die ganze Welt / Ist mir vergällt“ (V. 3378 ff.) zeigt Gretchens Abhängigkeit von Faust, wobei die negative Konnotation4 „Grab“ und „vergällt“ ihre völlige Unterwerfung widerspiegeln. Der Parallelismus „Mein armer Kopf / Ist mir verrückt, / Mein armer Sinn / ist mir zerstückt“ (V. 3382 ff.) zeigt die Zwangsläufigkeit mit der die Liebe Besitz von der Rationalität ergreift, so dass Gretchen verrückt vor Liebe ist. Nochmals wiederholt sie den Refrain (das Mantra).
Die fünfte Strophe ist ebenfalls parallelistisch aufgebaut. Die Verkürzung der Verben „schau‘“ (V. 3390) und „geh‘“ (V. 3392) steht für die existenzielle Beschränkung, die durch die Liebe verursacht wird. Liebe wird zum Lebensinhalt (vgl. Strophe 5), denn Gretchen richtet auch ihren Tagesablauf nach ihrem Geliebten.
In der sechsten Strophe beschreibt sie Fausts äußerliches Erscheinungsbild, wobei die Anapher5 „Sein (…) (ebd.) die Omnipräsenz seiner positiven Eigenschaften unterstreichen soll.
Diese positiven Beschreibungen setzt sie in der siebten Strophe auf verschiedenen Ebenen wie seiner Rede, seinem Händedruck und Kuss (vgl. ebd.) fort. Ihr Ausruf „ach“ (V. 3401) verdeutlicht die starke Sehnsucht, die sie zu Faust verspürt. Dies ist mit ihrer Unruhe verbunden, weshalb sie zum dritten Mal ihr Mantra aufsagt (vgl. Strophe 8). Diese Unruhe und Sehnsucht intensiviert sich zu einer körperlichen Reaktion: „Mein Busen drängt / Sich nach ihm hin“ (V. 3405 f.). Der Busen als Ort des Herzens steht dafür, wie Faust von Gretchens Herz Besitz ergreift. Das Modalverb „dürf[en]“ (V. 3407) in Bezug auf eine Berührung und in Kombination mit dem Ausruf „Ach“ (ebd.) unterstreicht erneut die schmerzliche Sehnsucht, die Gretchen verspürt. Dies bezieht sich vor allem auf eine körperliche Ebene, wie die des Küssens (vgl. Strophe 10).
Es wird deutlich, dass Gretchen krank vor Liebe ist, was durch negativ konnotierte Wörter wie „arm“ (V. 3384), „verrückt“ (V. 3383) oder „Grab“ (V. 3379) deutlich wird. Sie ist angetan und hin- und hergerissen von Faust, was durch die positive Beschreibung zum Ausdruck kommt.
Die Liebe steht für Gretchen für einen existenziellen Einschritt in ihr Leben, denn ein Leben ohne die Liebe zu Faust scheint unmöglich. Aus diesem Grund wird dem Spinnrad eine symbolische Bedeutung eines ewigen Kreislaufes zugemessen.
Faust reagiert weniger dramatisch. Doch auch ihn erschüttert die Liebe existenziell, so dass er über das Leben philosophiert. Die Erfahrungen werden auf die Natur übertragen, also auf die Weite der Welt, wohingegen Gretchen gegensätzlich reagiert; die Liebe befreit sie nicht, sondern engt sie ein und löst Unruhe aus. Faust reagiert ruhig, sucht die weite Welt, statt wie Gretchen die Stube, in der sie auf ihren Geliebten wartet.
Faust reagiert auf die existenzielle Erschütterung durch die Liebe rein mental, was sich in seinem weitläufigen Monolog äußert. Gretchens Reaktion erfolgt intensiver, da sie auch körperliche Symptome aufweist (siehe Unruhe, Beengung des Brustbereichs). Somit scheinen diese Erfahrungen einen tieferen Einschnitt als bei Faust zu verursachen. Hier werden die Unterschiede der Protagonisten deutlich; Liebe nimmt für Gretchen unterschiedliche Dimensionen an: körperliche Nähe ist zwar Bestandteil, doch nicht primäre Zutat. Vielmehr spielt die persönliche Ebene eine große Rolle. Faust sieht letztendlich nur ein erotisches Abenteuer (siehe 2. Abschnitt „Wald und Höhle“) in Gretchen und sieht anders als sie keine dauerhafte Bindung.
Die unterschiedlichen Reaktionen unterstreichen das Maß der Beziehung: Gretchen reagiert überfordert, so dass der Altersunterschied wie ihre Unschuld demonstriert wird. Auch die Weltauffassungen der beiden werden demonstriert. Faust sieht Gretchen als Teil der gewaltigen Natur, also Plan eines genialen Schöpfungsplans, den Faust zu durchschauen versucht. Faust ist „lediglich“ Gretchens Lebensinhalt. Faust strebt immer noch nach überirdischer Erkenntnis, anders als Gretchen, die irdische Zufriedenheit in der Beziehung findet.
Zwar reagieren beide äußerst emotional und bewegt, zeigen aber deutliche persönliche Unterschiede. Gretchen reagiert unruhig und eingeschränkt, anders als Faust, der sich dem menschlichen Streben erst recht bewusst ist, gleichzeitig aber sexuelle Befriedigung sucht.