Ballade: Erlkönig / Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? (1778)
Autor/in: Johann Wolfgang von GoetheEpoche: Sturm und Drang / Geniezeit
Strophen: 8, Verse: 32
Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-4, 4-4, 5-4, 6-4, 7-4, 8-4
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? | ||
Es ist der Vater mit seinem Kind; | ||
Er hat den Knaben wohl in dem Arm, | ||
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. | ||
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? - | ||
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht? | ||
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? - | ||
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. - | ||
"Du liebes Kind, komm, geh mit mir! | ||
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir; | ||
Manch bunte Blumen sind an dem Strand, | ||
Meine Mutter hat manch gülden Gewand." | ||
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, | ||
Was Erlenkönig mir leise verspricht? - | ||
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; | ||
In dürren Blättern säuselt der Wind. - | ||
"Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? | ||
Meine Töchter sollen dich warten schön; | ||
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn | ||
Und wiegen und tanzen und singen dich ein." | ||
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort | ||
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? - | ||
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: | ||
Es scheinen die alten Weiden so grau. - | ||
"Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; | ||
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." | ||
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! | ||
Erlkönig hat mir ein Leids getan! - | ||
Dem Vater grauset's, er reitet geschwind, | ||
Er hält in den Armen das ächzende Kind, | ||
Erreicht den Hof mit Mühe und Not; | ||
In seinen Armen das Kind war tot. |
Inhalt
Der Vater reitet in der Nacht mit seinem kranken Jungen zurück zum Hof durch einen magischen und gespenstischen Erlenbruchwald (woraus sich vermutlich das Wort "Erlkönig" ableitet). Das Kind leidet dabei an zunehmend schweren Halluzinationen, bei dem ihm immer wieder der bedrohlich anmutende Erlkönig erscheint und ihn in sein Reich zu seinen Töchtern locken will. Der Vater versucht den Jungen zu beruhigen und beeilt sich nach Hause zu kommen. Die rechtzeitige Rückkehr misslingt und das Kind verstirbt in seinen Armen.
Interpretationsansätze
Es gibt im Wesentlichen 3 Interpretationen:
Interpretation A) Die offensichtliche Interpretation ist praktisch deckungsgleich mit der Inhaltsangabe, nämlich dass der Junge unter Fieber o.ä. leidet und schließlich im Wahn verstirbt.
Interpretation B) Eine andere Interpretation ist, dass der Junge Opfer sexuellen Missbrauchs durch seinen Vater ist. Dabei ist der Vater zweigesichtig zu betrachten: Es gibt den missbrauchenden Vater (den Erlkönig) und es gibt den guten und beschützenden Vater, der die Folgen seines Missbrauchs schön redet, indem er seinen Jungen beruhigt.
Interpretation C) Die dritte Variante ist, dass der Erlkönig für die beginnende pubertäre Lust des Knabens steht, der versucht ihn mit erotischen Fantasien in sein Reich zu locken. Der Junge verliert seine Unschuld und seine Kindheit. Der Tod des Jungens steht dabei für den endgültigen Übertritt in die Erwachsenenwelt, in die Sexualität und der Ablösung von der Familie. Der Vater versucht dies zu verhindern, indem er ihn rechtzeitig ins elterliche Heim zurückbringen will, aber die aufkommenden männlichen Triebe des Jungen sind unaufhaltsam.
Alle 3 zuvor genannten Interpretationen gehen davon aus, dass der Erlkönig reine Fiktion des Jungen ist und in Wirklichkeit nicht existiert. Ein weiterer, aber selten beachteter Interpretationsansatz ist, die Erscheinung des Erlkönigs nicht nur der Einbildung des Jungen zuzuschreiben, sondern als physisches Erlebnis zu betrachten.