Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Szenen-Analyse und Interpretation
Das von Johann W. Goethe verfasste Drama „Faust – Der Tragödie erster Teil“ (1808) thematisiert die Leidensgeschichte eines Liebespaares. Der zutiefst erbitterte, alte Gelehrte Heinrich Faust befindet sich in einer Existenzkrise (Gelehrtentragödie), da er nach überirdischer Bestimmung strebt, die er nicht erreichen kann. Nachdem drei seiner Entgrenzungsversuche gescheitert sind, schließt er einen Pakt mit dem Teufel Mephisto, der versucht, Faust unersättliches Streben durch irdischen Genuss wie Sexualität zu befriedigen. Zuvor wettet er mit Gott, dass er es schaffe, Gottes Knecht Faust vom rechten Weg abzubringen. Faust beginnt mit Mephistos Hilfe eine Liebesbeziehung zu der jungen Margarete (Gretchentragödie), nachdem er sich um 30 Jahre verjüngen lassen hat. Diese endet im Tod ihrer Mutter, im Mord ihres Bruders Valentin und in der Kindestötung ihres Neugeborenen, nachdem Gretchen unehelich von Faust geschwängert wird.
Der zu analysierende Szenenausschnitt aus „Wald und Höhle“ zeigt Faust, einen Monolog haltend, nachdem es zu einem ersten Rendezvous in Marthes Garten – Gretchens Nachbarin – mit Gretchen kommt. Dies gelingt nach einer lügenhaften Manipulation Mephistos, so dass dieser Marthe für seine Zwecke instrumentalisieren konnte und ein Treffen zwischen Faust und Gretchen arrangieren konnte. Dabei unterwirft sich auch Faust Mephistos Lüge und macht sich somit selbst zum Lügner.
Im späteren Verlauf der Szene tritt Mephisto auf und erniedrigt Faust, indem er sich über ihn lustig macht. Faust äußert Abscheu gegenüber Mephisto, der versucht Faust ein schlechtes Gewissen bezüglich Gretchen einzureden.
Der Monolog lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen, die durch einen Umbruch markiert sind. Im ersten Abschnitt (V. 3217-3239) spricht Faust den Erdgeist an und befindet sich in einer recht positiven und feierlichen Stimmung. Diese wendet sich im zweiten Abschnitt (V. 3240-3250) zu einem sehr negativen – triebgeleiteten – Bild.
Zunächst spricht Faust den Erdgeist als „[e]rhabe[n] Geist“ (V. 3217) an, wodurch er seine Ehrfurcht und seinen Respekt gegenüber höher gestellten Wesen verdeutlicht. Mit der Aussage „du gabst mir, gabst mir alles“ (ebd.), die parallelistisch aufgebaut ist, zeigt er, dass er seine existenzielle Krise vermeintlich überkommen konnte. Die Klimax steht hierbei für eine durch Gretchen erfolgte Kompensation seiner Krise. Faust spielt auf die erste Begegnung mit dem Geist in seinem Studierzimmer an (vgl. V. 3219), so dass man schon fast meinen könnte, Faust sähe seinen Sinneswandel als göttliches Zeichen. Dieser Kontrast zwischen der positiven Ansprache des Geistes und der ersten – gescheiterten, da er dem Erdgeist nicht gewachsen ist- Begegnung, unterstreicht die Ironie der Szene. Faust redet überschwänglich von der „herrliche[n] Natur zum Königreich“ (V. 3220), was seinen euphorischen Zustand widerspiegelt. Seine innige Beziehung zu Gretchen (vgl. V. 3223 f.) demonstriert er mit dem Vergleich „wie in den Busen eines Freundes zu schauen“ (V. 3224). Es wird deutlich, dass das Treffen mit Gretchen innere Befindlichkeiten bei Faust auslöst. Da Faust von einem „Freund“ (ebd.) spricht, wird klar, dass Faust nach jetzigem Verständnis mehr als sexuelle Lustbefriedigung in Gretchen sieht, sondern vielmehr eine tiefgründige Beziehung, was durch die ehrliche und tiefgründige Unterhaltung in Marthes Garten (siehe Gretchenfrage) verdeutlicht wird. Die Dankbarkeit gegenüber dieser Erlebnisse unterstreicht Faust durch die Verwendung des Verbes „[v]ergönne[n]“ (V. 3223), was gleichzeitig ein äußerst positives Erlebnis widerspiegelt. Die Antithese1 „Luft und Wasser“ (V. 3227), welche die Gegensätzlichkeit von feucht und trocken darstellt, steht für die Vielschichtigkeit der Beziehung und im übertragenem Sinne des Lebens, die Faust erlebt. Faust innere, selige Wonne wird durch seinen positiv konnotierten Sprachgebrauch wie „herrlich“ (V. 3220), „vergönnest“ (V. 3223) und „Freunds“ (V. 3224) unterstrichen. Besonders das Nomen „Kraft“ (V. 3221) unterstreicht Fausts aufstrebendes Dasein, das sich von der Beschränktheit seiner Existenzkrise loslösen konnte. Die Verwendung von romantischen Motiven wie der Natursymbolik (vgl. V. 3228-3235) spiegelt Fausts erregten Zustand wider; so beschreibt er die Natur sehr detailreich und hebt Sinneseindrucke durch dynamische Verben wie „braus[en] und knarr[en]“ (V. 3228) und „donner[n]“ (V. 3231) hervor. Die Gewaltigkeit der Natur und somit der göttlichen Schöpfung wird durch die Beschreibungen „(…) wenn der Sturm braust und knarrt, / Die Riesenfichte stürzend (…) quetschend niederstreift (…) ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert“ (V. 3229-3231) besonders deutlich, so dass das gewaltige Erscheinungsbild der Natur furchteinflößend wirkt. Im Kontrast dazu steht die „sicher[e] Höhle“ (V. 3232), die analog zu Gretchen steht und somit als Metapher2 des geborgenen Ortes und Refugiums verstanden werden kann. Die Aussage „zeigst / Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust / Geheime tiefe Wunden öffnen sich.“ (V. 3232 ff.) zeigt die existenziellen Möglichkeiten und ferner auch Verwundbarkeit durch die Liebe. Die Beschreibung des „reine[n] Mond[es]“ (V. 3235) kann als Metapher für Gretchen und ihre Unschuld und Frömmigkeit verstanden werden. Faust ist sich dessen bewusst, dass Gretchens Wesen für reinste Unschuld steht. Gerade diese Tatsache unterstützt den „besänftigend[en]“ (V. 3236) Effekt, den Gretchen auf Faust hat. Sie hat einen solch seligen Einfluss auf ihn, dass Faust an positive Gestalten der Vergangenheit denken muss (vgl. V. 3238). Diese lindere Betrachtung der strengen Lust, die Gretchen auf ihn ausübt (vgl. ebd.) verdeutlicht den erotischen Effekt, den Gretchen bei Faust verursacht und führt bei diesem Gedanken zum Umbruch.
Faust äußert seine Wehmut („O“, V. 3240), dass der Mensch nicht Vollkommenheit erlangen kann (vgl. ebd.). Auf der einen Seite ist Gretchens Wesen positiv konnotiert, da sie Faust „diese Wonne“ (V. 3241) gäbe, welche zur Vollkommenheit verhilft. Dies wird durch die Klimax mit dem Komparativ3 „Die mich den Göttern nah und näher bringt“ (V. 3242) deutlich: durch Gretchen und ihre fromme Gottverbundenheit gelangt Faust zu höherem. Doch dies ist nur restriktiv möglich, denn die Beziehung mit Gretchen ist an eine Bedingung geknüpft, nämlich die Anwesenheit des Teufels und dessen Pakt mit Faust. Faust Charakterisierung Mephistos fällt sehr negativ aus, so beschreibt er ihn als „kalt und frech“ (V. 3244), wodurch er das Teuflische in Mephisto hervorhebt. Die Aussage „Mich vor mir selbst erniedrigt“ (V. 3245) verallgegenwärtigt die menschenverachtenden Charakterzüge Mephistos. Mit seinen Worten „und zu Nichts, / Mit einem Worthauch, deine Gaben wandelt“ (V. 3245 f.) erzeugt er eine starke Polarität der zwei weltlichen Extreme von Gut und Böse, Gott und Mephisto. Des Weiteren wird Mephistos nihilistisches Weltbild aufgegriffen, das konträr zu Gretchens erfüllenden Wesen steht. Mephistos entfache „ein wildes Feuer“ (V. 3247) in Fausts Brust, was einer eher animalischen Beschreibung gleicht. Das trifft auch auf das „schöne Bild“ (V. 3248) das „Begierde“ (V. 3249) auslöst, i.e. Fausts Triebe herausfordert, zu. Das negativ konnotierte Verb „verschmacht[en]“ (V. 3250) unterstützt die animalische und triebgeleitete Charakterisierung, die Mephisto bei Faust auslöst. Faust ist sich Mephistos dunkel Macht bewusst und wie er ihn manipuliert.
Somit stehen sich tiefgründige Liebe (siehe 1. Absatz) und Erotik, das Mephistophelische, d. h. das Dunkele (siehe 2. Abschnitt) gegenüber. Diese Polarität zeigt Fausts zentrales Dilemma, gefangen und beschränkt in der Materie und das Streben nach Überirdischen, was mitunter auch durch seinen hypotaktischen Satzbau transportiert wird. Faust ist erregt und macht seinem Herzen Luft.
Es lässt sich festhalten, dass Fausts Rendezvous mit Gretchen starke Sehnsucht ausgelöst hat. Dies wird durch die positiv konnotierte Wortwahl, rhetorische Mittel wie Klimaxe5 und Naturmotivik unterstützt. Die hypotaktische Syntax unterstreicht Fausts erregten Gemütszustand. Auf der anderen Seite löst die Sehnsucht starke sexuelle Begierde bei Faust aus, was durch Mephistos teuflisches Auftreten provoziert wird und somit im starken Kontrast steht.
Der Szenenausschnitt ist insofern von zentraler Wichtigkeit, weil er Fausts irdischen Ziele zeigt und somit Gretchens Schicksal herausfordert. Denn im Folgenden nutzt Faust Gretchens Vertrauen aus, um seine sexuellen, triebgesteuerten Ziele umzusetzen, wobei er Gretchen schwängert und mitverantwortlich für den Tod ihrer Mutter ist. Die Schwangerschaft stellt den Wendepunkt der Gretchentragödie dar.