Aufgabenstellung: Verfassen Sie einen literaturwissenschaftlichen Artikel über die Entwicklung der Figur Gretchen
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Figur der Margarete, auch Gretchen genannt, nimmt in der Tragödie „Faust - Der Tragödie erster Teil“, geschrieben von Johann Wolfgang von Goethe, erschienen im Jahr 1808, eine zentrale Rolle ein.
Goethe widmet ihr einen ganzen Teilabschnitt der Tragödie, welcher den Titel „Gretchentragödie“ trägt und sich von dem Kapitel „Straße“ bis zu dem letzten Kapitel des Buches, „Kerker“, erstreckt.
Im Drama fungiert die Protagonisten als Pendant zu dem Universalgelehrten Heinrich Faust.
Faust versucht im Laufe der Tragödie die Gelehrtenkultur zu überwinden und die Welt in ihrer Gänze, auf eine objektive Weise, zu erforschen. Jene Forschungen möchte er ohne Bezug zu einer Religion vollziehen. Die Beschreibung Fausts lässt darauf schließen, dass der Gelehrte als früherer Religionskritiker verstanden werden kann.
Die Rolle der Margarete ist konträr dazu zu verstehen, denn diese entspricht dem Idealbild eines tugendhaften Mädchens des 19. Jahrhunderts. Gretchens Welt ist geprägt von Religion und Tugenden und aus dem Glauben an diese erschließen sich auch die Werte der Protagonisten. Margarete wird jedoch von Faust verführt und handelt entgegen ihrer religiösen Moralvorstellungen, was den Tod der Protagonisten besiegelt.
Während ihres Auftretens erlebt Gretchen eine Entwicklung, die sie von einem jungen, tugendhaften Mädchen mit reinem Gewissen zu einer wahnsinnigen Sünderin werden lässt, die schon in jungen Jahren zum Tod verurteilt wird.
Der Tod Gretchens am Ende der Tragödie stellt die Katastrophe des klassischen Dramas dar.
Die Gretchentragödie beginnt mit dem erstmaligen Auftreten von Margarete in dem Kapitel
„Straße“ (ab V. 2605). Faust schmeichelt dem jungen Mädchen als es sie im Vorbeigehen auf der Straße bemerkt. Gretchen, die gerade von der Beichte kommt, weist das Werben des Gelehrten jedoch schnippisch zurück (Vgl. Z. 2607). Zu diesem Zeitpunkt hält Margarete noch an ihrer Tugendhaftigkeit fest, welche nicht vorsieht, dass sie als fromme Christin auf den Annäherungsversuch eines fremden Mannes reagiert.
Doch die Schmeicheleien des ansehnlichen Mannes und sein Auftreten sind dem Mädchen im
Gedächtnis geblieben (Vgl. V.2678-2679). In einem Bewusstseinsstrom in dem Kapitel „Abend“ (ab V. 2678) betont Gretchen, dass sie gerne wüsste, wer der feine Herr gewesen sei, dem sie zuvor begegnet war. Sie stellt die Vermutung an, dass dieser eine gehobene Herkunft habe (Vgl. V. 2680-2681) und vor diesem Hintergrund schmeichelt ihr die Bewunderung des Fremden zusätzlich.
Das junge Mädchen ist sehr naiv und verfügt über geringe Menschenkenntnisse und aus diesem Grund lässt sie sich von dem Werben des vornehmen Fremden beeindrucken, ohne mögliche Konsequenzen zu reflektieren.
Als Margarete sich ihre Mutter herbeisehnt (Vgl. V. 2756), da sie Angst bekommt während sie alleine zuhause ist (Vgl. V. 2753f.), wird und die Kindlichkeit des Mädchens betont.
Diese Angst ist auf die vorherige Anwesenheit des Teufels, Mephistopheles, in ihrem Zimmer zurückzuführen (Vgl. V. 2684-2752). Aufgrund der tiefen Gläubigkeit und der engen Verbundenheit des Mädchens mit der Religion, kann sie diese spüren. Der Teufel verkörpert alles Gottlose, alles, was Gretchen beängstigt - so ist es selbstverständlich, dass die Anwesenheit dessen sie einschüchtert.
Fortlaufend findet Gretchen ein mit Edelschmuck gefülltes Kästchen, welches Faust zuvor in ihrem
Schrein platziert hatte (Vgl. V. 2783f.) und ist von dessen Inhalt sehr angetan (V. 2797). Diese
Begeisterung für teure, materielle Dinge entgrenzt Gretchen erstmals von ihren eigentlichen Wertvorstellungen und ihrer Bescheidenheit, die eine wichtige Charaktereigenschaft der Protagonisten beschreibt.
Mit dem Anlegen der Ohrringe beschreibt Gretchen eine Gefühlsveränderung, die ihr für den
Moment des Tragens mehr Selbstbewusstsein verleiht. Jenes bleibt jedoch nicht bestehend. Im Kapitel „Garten“ (ab V. 3073) betont Gretchen ihre Selbstzweifel, indem sie hinterfragt, was Faust an ihr finde (Vgl. V. 3073-3078). Sie selbst versteht sich als nicht gut genug für den Universalgelehrten und ordnet sich diesem unter. Schon beim Aufrechterhalten einer Unterhaltung sieht sich Gretchen als nicht ebenbürtig. Fausts Beachtung deutet Margarete als freundliche Geste und nicht als aufrichtiges Interesse an ihrer Person.
Um sich über die Absichten ihres Gesprächspartners bewusst zu werden, befragt Gretchen ein Blumenorakel (Vgl. 3181f.). Die Blume, von der Gretchen nach und nach Blätter abreißt und dabei die Worte „Er liebt mich - liebt mich nicht“ (Vgl. V. 3182) repetitiv wiederholt, kann dabei als Symbol der Unschuld Gretchens verstanden werden. Wie die Blume langsam ihre Blätter verliert, verliert auch Margarete ihre Unschuld Stück für Stück.
Gretchen fasst die Blume in ihrem kindlichen Glauben vorrangig als Zeichen des Schicksals auf.
Als beim Abreißen des letzen Blattes die Worte „Er liebt mich!“ (V. 3192) an der Reihe sind, ist Gretchen sicher, dass jenes bedeuten muss, dass Faust sie wirklich liebte. Diese Vermutung akzentuiert ihre Naivität wiederholend.
Die Situation, in der sich das fromme Mädchen befindet, nachdem es sich auf eine Liebesnacht mit dem Gelehrten eingelassen hat (Vgl. V. 3206f.), wird Gretchen in einem Monolog in „Gretchens Stube“ (ab V. 3374) bewusst. An dieser Stelle wird Margarete erstmalig außerhalb des laufenden
Dialogs durch den Diminutiv1 „Gretchen“ bezeichnet. Jene Namensänderung lässt auf eine
Veränderung ihrer Selbst schließen, welche sich durch den Verstoß gegen ihre Werte während der
Liebesnacht, vollzogen hat. Das ehemals unschuldige, tugendhafte Mädchen ist aufgewühlt. In Form eines Volksliedes trägt Gretchen ihre Gefühle nach außen. Sie singt darüber, dass sie ohne Faust nicht mehr glücklich werden könne und infolgedessen nicht mehr ohne ihn leben wolle (Vgl. V. 3377). Gretchen beschließt sich für Faust aufzuopfern und sich seiner Liebe hinzugeben, obwohl sie auf diese Weise gegen ihre eigenen Werte verstößt (Vgl. V. 3412-3413). Margarete besiegelt in ihrem Lied ihr eigenes Schicksal und akzeptiert das Dilemma, in welchem sie sich aufgrund ihrer Selbstlosigkeit und Hingabe, befindet.
Die innere Unruhe, welche das Mädchen verspürt, wird durch das unregelmäßige Reimschema betont.
Nachdem die Protagonistin die nahenden Katastrophe vorausgedeutet hat, stellt sie Faust in dem Kapitel „Marthens Garten“ (ab V. 3414) die sogenannte Gretchenfrage: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ (V. 3415). Margarete durchläuft eine Entwicklung, in der sie zwar gegen die Maßstäbe ihrer Religion verstößt, ihren Glauben jedoch nicht verliert. Dementsprechend ist es für sie wichtig zu wissen, wie Faust der Religion gegenüber eingestellt ist. Der hohe Stellenwert, den Religion in ihrem Leben hat, definiert wer sie ist und lässt sie Taten und Personen beurteilen. Mit der Gretchenfrage möchte Margarete Aufschluss darüber gewinnen, vor welchem Hintergrund die das Verhalten Fausts und seine Wertvorstellungen entstehen. Bereits zu Beginn des Dialogs vermutet die Christin, dass Faust keinen Bezug zu Religion habe (Vgl. V. 3417f.). Jene Aussage stellt sich als wahr heraus.
Auch mit der Vermutung, dass Mephistopheles kein frommer Mann sei (Vgl. V. 3480), liegt Gretchen richtig. Aufgrund ihrer tiefen Gläubigkeit spürt sie, dass Mephistopheles nicht dem christlichen Idealbild entspricht und Unheil mit sich bringt. Der Teufel, den sie indirekt als diesen versteht, engt sie in ihrem Glauben ein und versetzt sie in Angst (Vgl. V. 3477). Weiterführend rückt Gretchen jedoch ein, dass sie keinem Menschen Unrecht tue wolle und bittet Gott ihr zu verzeihen, wenn sie den Begleiter ihres Liebhabers falsch einschätze (Vgl. V. 3478-3482).
Diese Annahmen halten Margarete jedoch nicht davon ab, weiterhin Zeit mit Faust zu verbringen.
Im weiteren Lauf der Tragödie verstößt Gretchen abermals gegen ihre Moralvorstellungen, um eine
Liebesnacht mit Faust verbringen zu können: Sie verabreicht ihrer geliebten Mutter einen Schlaftrank, obwohl sie eine böse Vorahnung plagt (Vgl. V. 3515), welche sich im Tod ihrer Mutter bestätigt (Vgl. V. 3787). Das Mädchen gibt nun zu, dass Faust es all seine Werte und Tugenden vergessen lässt und es alles darum gäbe, mit ihm zusammen sein zu können (Vgl. V. 3516-3520). In der Verabredung zu einer Liebesnacht gipfelt die Entgrenzung Gretchens von ihren Tugenden und sie entwickelt sich zu einer religiösen Sünderin (Vgl. V. 3520).
Der „Tabubruch“, welchen sie erfährt, lässt sie Reue empfinden und sie spricht zur Mater Dolorosa (Vgl. V. 3588f.), die im religiösen Sinne als Symbol des Schmerzes fungiert.
Die Mater Dolorosa trauert um ihren gekreuzigten Sohn Jesus Christus und ist somit von Schmerz und Verzweiflung geprägt. Jene Gefühle prägen auch Gretchen angesichts ihres bevorstehenden Schicksals, über das sich das Mädchen nun im Klaren ist, und sie empfindet die heilige Figur als Trost. Gretchen beschreibt die metaphorischen Scherben, die vor ihrem Fenster liegen (Vgl. V. 3608) als Symbol für den Verlust ihrer Werte und das Zusammenbrechen ihrer Welt in Anbetracht ihres nahenden Todes.
Das schon aus „Garten“ bekannte Zeichen der Unschuld, die Blume, wird in dieser Szene aufgegriffen als Margarete der Figur der Mater Dolorosa einen Blumenstrauß hinstellt, welchen sie zuvor beweint hatte (Vgl. V. 3612). In diesem Fall fungieren die Blumen als Verbindungselement zwischen der Heiligen und der jungen Christin. Zusätzlich spricht Gretchen ein Gebet zu der Schmerzensmutter, in dem sie ihr eigenes Leid betont und um Hilfe und Rettung vor dem Tod bittet (Vgl. V. 3615-3619). Margarete hat realisiert, dass sie jene Rettung von Faust nicht erwarten kann.
Das Leid des Mädchens wird repetitiv betont als es auf den nahenden Tod ihres Bruders (Vgl. V. 3774) mit der Exklamatio „Mein Bruder! Welche Höllenpein!“ (V. 3770) reagiert. Der Ausruf bezieht sich allerdings nicht ausschließlich auf die Qual, die Gretchen durchlebt, weil ihr Bruder stirbt, sondern auch auf die Worte, mit denen dieser sein Leben beendet. Valentin, der Bruder Gretchens, führt ihr kurz vor seinem Tod noch einmal ihre Schandtaten und die Strafe, die sie erwartet, vor Augen. Das Schicksal Gretchens ist unaufhaltsam besiegelt und die elliptische Ausdrucksweise, die das Mädchen verwendet, akzentuiert, dass es sich dessen bewusst ist. Diese Ausdrucksweise behält Gretchen auch im folgenden Kapitel ,„Dom“ (ab V. 3776) bei. In einer repetitiven Exklamatio (Vgl. V. 3794) bringt Margarete ihre Verzweiflung erneut zum Ausdruck. Jene ist die Folge ihres schlechten Gewissens, welches sie bedrängt und immer weiter einengt (Vgl. V. 3816). Die Protagonisten realisiert endgültig, dass es keinen Ausweg aus dem Dilemma, in dem sie sich befindet, gibt. Die Angst und die Verzweiflung des Mädchens gipfeln darin, dass es in Ohnmacht fällt, da diese körperliche Reaktion die einzige Möglichkeit der psychischen und physischen Erlösung darstellt.
Die psychische Belastung durch das schlechte Gewissen kulminiert in einem wahnhaften Geisteszustand Gretchens in der Schlussszene der Tragödie (ab V. 4405). Margarete sitzt in einem verlassenen Kerker und wird von Wahnsinn geprägt. Jener führt soweit, dass sie die von ihr begangene Sünde verleugnet, um sich selbst zu schützen (Vgl. V. 4443). So tut sie die Tatsache, dass sie ihr Neugeborenes ertränkt hat, als böses, frei erfundenes Gerücht ab (Vgl. V. 4445-4446).
Als Faust im Kerker auftaucht, erkennt sie diesen zunächst nicht und vermutet, er sei der Henker. Erst als er den Diminutiv ihres Namens ausruft (Vgl. V. 4460), realisiert die Sünderin, dass ihr Geliebter und nicht der Henker vor ihr steht. Infolgedessen versteht sie sich als frei (Vgl. V 4463) - jedoch nicht in dem Sinne, dass Faust sie aus dem Kerker befreien könne, sondern sie versteht sich als frei zu lieben, da sie nun ohnehin nichts mehr zu verlieren habe. Basierend auf der puren Liebe, die sie für Faust empfindet, stellt er für sie ihre Rettung und ihre Befreiung dar (Vgl. V. 4473). Sie verbindet mit ihm alles schöne und somit alles, was gegenteilig zur Hölle steht, vor der sie sich momentan am meisten fürchtet. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie noch nicht, dass ihr Retter einen Pakt mit dem Teufel und somit dem Herrscher der Hölle eingegangen ist und er sie infolgedessen, selbst wenn er wollte, nicht retten könnte.
Entgegen Gretchens Erwartungen reagiert Faust jedoch abweisend, als sie diesen küssen möchte (Vgl. V. 4493f.). Gretchen zeigt zunächst Verwirrung und Verunsicherung, stellt jedoch fortführend in einem Enjambement2 fest, dass ihre Liebe wohl verloren sei (Vgl. V. 4495-4496).
In Anbetracht ihres nahenden Todes kann Gretchen sich noch einmal von ihrer geistigen Labilität erholen und akzeptiert ihre Sünden (Vgl. V. 4507-4508). Margarete fühlt sich zu recht zu Tode verurteilt und zeigt Reue. Mithilfe des Symbols des Blutes an Fausts Hand (Vgl. V. 4511-4514) führt die Christin auch dem Gelehrten vor Augen, dass er gesündigt habe, indem er ihren Bruder umgebracht habe. Vor dieser Tatsache betrachtet Gretchen Faust als schlechten Umgang und als Hindernis für sie, in den Himmel zu kommen.
Als Faust betont, dass er ohne Gretchen nicht weiterleben wolle (Vgl. V. 4519), betont diese in einer Exklamatio, dass er lebendig bleiben müsse (Vgl. V. 4520), da er sich um die Gräber ihrer Familienangehörigen und um ihr eigenes Grab kümmern solle. Sie fordert, dass ihre Familie zwar nicht direkt bei ihr liegen solle, da sie eine Sünderin sei, aber dass sie in ihrer Nähe liegen wolle. Jene Forderung akzentuiert noch einmal die Tiefe der Reue, die das Mädchen empfindet. Zudem könnte auch Faust auf diese Weise Sühne zeigen und vor Gott einen Teil seiner Schuld begleichen. Der Satz „Wir werden uns wiedersehn“ (V. 4585) betont abermals, dass Gretchen davon ausgeht, dass Faust in den Himmel kommen wird.
Das plötzliche Auftreten Mephistopheles’ (Vgl. V. 4601) versetzt Margarethe kurz vor ihrem Tod ein letztes Mal in Angst und Schrecken. Sie erkennt diesen nun endgültig als Teufel, der sie gemeinsam mit Faust im Diesseits befreien möchte. Jenes Vorhaben steht im Kontrast zu
Gretchens Wunsch von Gott im Jenseits befreit zu werden. Da sich die Wünsche der
Protagonisten nicht vereinen lassen, trifft Gretchen die Entscheidung, sich endgültig von Faust zu distanzieren, welche in dem Satz „Heinrich! Mir graut’s vor dir.“ (V. 4610) gipfelt. Infolge der Angst vor dem Teufel besiegelt Gretchen ihr Aufsteigen in den Himmel mit dem Ausruf „Gericht Gottes! dir hab ich mich übergeben!“ (V. 4605). Diese ablehnende Reaktion auf eine mögliche Flucht mit ihrem Geliebten und dem Teufel bildet eine endgültige Abgrenzung von diesen. Ihrem Geliebten begegnet sie nun mit Abscheu. Jene Sühne verhilft ihr abschließend, in den Himmel zu kommen.
Insgesamt lässt sich Gretchens Entwicklung negativ bewerten. Die Protagonistin wird durch Faust zur Abgrenzung von ihrer Religion und ihren Werten gedrängt und der Egoismus, aus dem der Gelehrte handelt, bringt die Seele der Christin beinahe in die Hölle. Die Schlussszene zeigt jedoch, dass Gretchen ihre Religion letztendlich über die Liebe zu Faust stellt und sich von diesem lösen kann, damit ihre Seele im Himmel Ruhe findet. Jene Abgrenzung betont die neu gewonnene Charakterstärke Gretchens.