Die Epoche des lyrischen Sturm und Drangs (Geniezeit)
Definition/Allgemeines zur Literaturepoche Sturm und Drang:
- Der Sturm und Drang ist eine relativ kurze Epoche von ca. 1765-1785, die lediglich auf das Gebiet Deutschlands eingegrenzt war. Anders als andere Epochen wie die Romantik oder der Expressionismus war der Sturm und Drangs fast nur auf die Literatur (Prosa, Drama, Epik, Lyrik) beschränkt. Die Merkmale des Sturm und Drangs lassen sich nicht oder nur sehr schwer in anderen Kunstformen wie der bildenden Kunst, der Musik oder Architektur wiederfinden.
- Der Name der Epoche geht zurück auf die 1777 veröffentlichte Komödie Sturm und Drang des deutschen Dichters Friedrich Maximilian Klinger.
- Das Drama war die wichtigste Literaturform im Sturm und Drang (insbesondere Götz von Berlichingen von Johann Wolfgang von Goethe sowie Die Räuber, Kabale und Liebe von Friedrich Schiller).
- Junge Generation von Autoren (meist zwischen 20 und 30 Jahren).
- Gefühlsbetonte Ausrichtung und die subjektive Wahrnehmung und Empfindung des Individuums stehen im Mittelpunkt.
- Hauptsächliche Sujets waren Liebes- und Naturlyrik, zudem waren auch tragische Balladen und Volkslieder häufig anzufindende Formen im Sturm und Drang. Die Natur wird z.T. mit religiöser Weltanschauung betrachtet (Pantheismus: Gott ist eins mit dem Kosmos und der Natur und der Mensch ist Teil des Ganzen).
- Der Sturm und Drang wird auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet.
- Im Mittelpunkt steht das Genie oder der Held (inspiriert durch William Shakespeare), welcher sein eigener genialer Schöpfer (also gottähnlich) ist und der durch Höchstleistungen und dem Drang nach Selbstverwirklichung imstande ist aus sich selbst heraus Kunst zu schaffen. Hindernisse können vom Genie selbst überwunden werden (Selbsthelfertum). Das Genie hält sich nicht an die Tradition und somit auch nicht an gesellschaftliche Regeln und Normen. Es wird inspiriert von seiner sinnlichen Erfahrung mit der Natur und seiner eigenen Gefühle. Das Genie war deshalb das dichterische Vorbild der Stürmer und Dränger für ihr eigenes künstlerisches Schaffen. Das Genie stand als sinnlicher und subjektiv empfindender Naturmensch auch gleichzeitig dem vernunftgläubigen, rationalen, zweckorientierten und objektiven Aufklärer gegenüber.
- Gegenpol zur Aufklärung, welche feste Formen und Normen forderte und die Vernunft in den Mittelpunkt rückte. Die Aufklärung stand für den Verstand (ratio) und der Sturm und Drang für die Emotion (emotio). Die Aufklärung verlangte, dass der freie Geist, die Vernunft und der Verstand des Menschen genutzt werden sollte, um aus seiner „Unmündigkeit“ auszubrechen (siehe Was ist Aufklärung? von Immanuel Kant). Die Literatur sollte nach dem Willen der Aufklärung dem Zweck dienen die Menschen zu bilden, d.h. die Literatur wurde in diesem Sinne nach Nützlichkeit bewertet. Im Sturm und Drang wird dagegen Gefühle wie Sehnsucht und Leidenschaft sowie das Triebhafte in den Vordergrund gerückt. Nur damit war es dem Genie möglich seine Höchstleistungen zu erreichen.
- Wiederentdeckung des Volkslieds als anerkannte lyrische Disziplin. Volkslieder wurden von Johann Gottfried Herder und Goethe gesammelt. Sie kritisierten damit, dass die Aufklärung sich vom gemeinen Volk distanziere und arrogant abhob. Sie forderten, das von der Aufklärung verschmähte Volkslied als Kunstform anzuerkennen.
- Die Aufklärung und der Sturm und Drang haben gemeinsam, dass sie den Absolutismus (Feudalismus, Herrschaft des Adels, Obrigkeit) ablehnten. Der Sturm und Drang protestierte allerdings auch gegen das aus ihrer Sicht freudlose Leben und die überholten Moralvorstellungen des Bürgertums.
- Die Forderung nach freien Formen und Rhythmen im Sturm und Drang führte zu neuen literarischen Untergattungen:
- Empfindungslyrik und Erlebnislyrik: Es wurde die Dichtungsgattung der Empfindungs- und Erlebnislyrik durch Goethe geschaffen. In der Erlebnislyrik schildert das lyrische Ich das Erlebte so nahbar, dass der Leser unmittelbar die Stimmung des lyrischen Ichs spürt. Diese Form der Darstellung wird auch in vielen heutigen Gedichten noch verwendet.
- Briefroman: Goethe schuf mit Die Leiden des jungen Werthers darüber hinaus den Briefroman. Dieser Roman beschreibt die Gefühle des Rechtspraktikanten Werthers in Form eines Briefwechsels. Die Leiden des jungen Werthers wurde als Protest gegen das Bürgertum verstanden und wurde nach dessen Veröffentlichung als Ursache für die vermehrt auftretenden Selbstmorde unter jungen Menschen gesehen.
- In den Gedichten wurde besonders darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen.
- Die Nachahmung und Idealisierung von Künstlern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt (dennoch wurden die alten Werke geschätzt und dienten als Inspiration). Stattdessen wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen.
- Der Sturm und Drang endet mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.
Historischer Kontext:
- 1789-1799: Die Französische Revolution führt zur Abschaffung der feudal-absolutistischen Ständegesellschaft zuerst in Frankreich und später in anderen Teilen Europas. Es werden die Ideen und Werte der Aufklärung propagiert.
- 1806: Nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation war Mitteleuropa nur noch ein zusammenhangloses Gebilde aus unabhängigen Staaten („Flickenteppich“). Es gab viele verschiedene Fürstentümer, die alle ihre eigene Gesetzgebung hatten und in denen trotz der Französischen Revolution bis dahin noch die Ständegesellschaft (Abgrenzung von Klerus, Adel und dem Dritten Stand) galt. Deutschland (bzw. das Gebiet des heutigen Deutschlands) war in seiner Herrschaftsform und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern (Italien, England, Frankreich) rückständig.
- ab 1810: Die Frühindustrialisierung beginnt und der hohe Nachholbedarf Deutschlands infolge des 30-Jährigen Kriegs (1618-1648) führen zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Es bildet sich ein breites Bürgertum, welche vom Aufschwung profitiert und dessen Leistungsträger darstellt. Das zunehmend selbstbewusste Bürgertum fordert mehr Rechte ein. Die Ideen der Aufklärung verbreiten sich und die verkrustete Ständegesellschaft wird zunehmend hinterfragt und der Freiheit und der Vernunft entgegengestellt. Der Adel wird vom Bürgertum immer mehr kritisiert und gerät so unter Druck.
- Durch die Aufklärung und die wirtschaftlich gute Stellung des Bürgertums steigt auch das Interesse an Kunst und Kultur. Durch zunehmend günstigere Druckerzeugnisse entsteht eine „Unterhaltungsliteratur“ und der Wunsch nach Feinsinn und Kultiviertheit. Der Adel verachtete den Drang nach Unterhaltung und in dem Lesen von Romanen sahen sie den Grund für die Verdorbenheit der Jugend.
Themen des Sturm und Drangs:
- Natur
- Liebe, Sehnsucht, Einsamkeit (Melancholie wurde häufig in Balladen verarbeitet)
- Gesellschaftskritik (gegen die moralische Verdorbenheit des Adels aber auch gegen die Kleinkrämerei und Rechthaberei des Bürgertums)
- Gefühle des Individuums und dessen Konflikte mit der Umwelt
- Freiheitskampf des Individuums gegen die Gesellschaft. Das lyrische Ich strebt nach Veränderung, zerbricht jedoch beim Kampf gegen die Gesellschaft an der Wirklichkeit.
Kennzeichen und Merkmale:
- Metaphern
- Symbole
- Geheimnisse und Gleichnisse (z.T. als Anlehnung an die Bibel, denn auch dort spricht Gott die Menschen nicht mit logischen Argumenten an, sondern überzeugt sie mit Bildern und Gleichnissen).
- Verzicht auf Reime, stattdessen Augenmerk auf den Rhythmus (z.B. in Willkommen und Abschied von Goethe) und propagieren der offenen Form
- Pantheismus und Spiritualität/Religiosität (Verbundenheit von Gott, Mensch und Natur als Einheit)
- Ich-Bezogenheit (Emotionalität, Subjektivität)
Gedichtbeispiele und bekannte Werke zu Themen des Sturm und Drangs:
Natur (Pantheismus):
- „Ganymed“ von Goethe
- „Auf dem See“ von Goethe
- „Künstlers Abendlied“ von Goethe
- „An den Mond“ von Goethe
- „Erlkönig“ von Goethe (Magie der Natur steht im Mittelpunkt; der Erlkönig entstand zum Ende des Sturm und Drangs und wird oft als Wendepunkt zur Weimarer Klassik betrachtet)
Liebe:
- „Mailied/Maifest“ von Goethe
- „Rastlose Liebe“ von Goethe
- „Neue Liebe, neues Leben“ von Goethe
- „Willkommen und Abschied“ von Goethe (this article is also available in English: „Welcome and Farewell“)
Freiheitskampf und Konflikt des Individuums:
- „Prometheus“ von Goethe (Prometheus kann betrachtet werden als das Genie, dass sich gegen die alten Vorbilder aus dem Klassizismus auflehnt)
- Der Unterschied zwischen Sturm und Drang und Aufklärung wird deutlich, wenn man sich einen Vergleich von Prometheus mit Lessings Herkules anschaut. Gotthold Ephraim Lessing ist ein Vertreter der Aufklärung und in seiner Fabel „Herkules“ wird der Konflikt mittels objektiver Rationalität gelöst, während in Prometheus das lyrische Ich aus subjektiven Gründen den Konflikt zu Autoritäten sucht.
- „An Schwager Kronos“ von Goethe (steht für das Ideal und die Ideen des Sturm und Drangs, mit Schwager Kronos ist der Epochenwechsel zum Sturm und Drang gemeint)
- „Das Landleben“ von Hölty (Beispiel für das Selbsthelfer-Motiv, weil das lyrische Ich aus eigener Stärke die Stadt verlässt um in der Nähe von Gott und der Natur zu sein)
Bekannte Autoren/Vertreter des Sturm und Drangs:
- Johann Wolfgang Goethe
- Friedrich Schiller
- Johann Gottfried Herder
- Gottfried August Bürger
- Jakob Michael Reinhold Lenz
Und zum Schluss noch etwas auf die Ohren!
TL;DR? Dann entspann und lass es dir erzählen!
23. Juni 2017 um 19:04
[…] zum Sturm und Drang: Eine junge Generation ist in Aufbruchstimmung und möchte die bestehende Ordnung umwälzen. Die […]
29. Juli 2017 um 21:53
[…] (ca. 1794-1805) überschneidet sich zeitlich mit der Aufklärung (ca. 1720-1800) und löst den Sturm und Drang (ca. 1767-1785) ab. Ein wichtiges Thema in dieser Zeit ist die Französische Revolution, der Fall […]
30. Juli 2017 um 13:39
[…] Kritikpunkte am Barock gilt. Die nachfolgenden Epochen wie die Aufklärung, die Empfindsamkeit, der Sturm und Drang oder die Romantik schätzen die Regelpoetik gering und distanzierten sich von ihr und setzten […]
31. Juli 2017 um 21:38
[…] Funktionale Programmierung mit Scheme Die Epoche des lyrischen Sturm und Drangs (Geniezeit) […]
31. Juli 2017 um 23:48
[…] Sturm und Drang (1767-1785) […]
03. Dezember 2019 um 12:09
Super Text!
14. Januar 2020 um 20:55
Podcast ca. Minute 42 „Der weisse Neger wunderbar“??? Ernsthaft? Was soll diese rassistische Nebenbemerkung? So unnötig. In keiner Weise lustig und letztlich degradieren sie sich hiermit selber! Pfui!