Drama: Woyzeck (1836-1837, genaue Entstehungszeit unbekannt)
Autor/in: Georg BüchnerEpoche: Vormärz / Junges Deutschland
Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Szenen-Analyse und Interpretation
Das Drama „Woyzeck“ wurde im Jahr 1836 von Georg Büchner verfasst und handelt von dem armen Soldaten Woyzeck, welcher von der Gesellschaft ausgenutzt wird. Als ihn zusätzlich noch seine Freundin Marie betrügt, tötet er sie in ohnmächtiger Wut.
Mit dem Drama wirft Georg Büchner Fragen auf, die auch heute noch aktuell sind: Zum einen nimmt Woyzeck an einem medizinischen Experiment teil, durch welches er allerdings mangelernährt ist, was zu Halluzinationen und schlussendlich vielleicht sogar zum Mord an Marie führt. Dem Leser stellt sich also die Frage: Moral oder Wissenschaft – Wem nützt Fortschritt der Wissenschaft, wenn diese unmoralisch und nicht am Wohlergehen der Menschen interessiert ist?
Des Weiteren lässt Büchner in seinem Drama zwei verschiedene philosophische Weltanschauungen aufeinanderprallen. Die Oberschicht vertritt den Idealismus, die Unterschicht ist materialistisch orientiert. Durch diese Kontrastierung stellt sich die Frage, inwieweit wir unser Handeln selbst bestimmen können oder ob der Mensch nicht doch eher durch soziale und äußere Umstände zu einem bestimmten Handeln gezwungen wird. Diese beiden großen Themenblöcke stellt Georg Büchner auch in der zu analysierenden Szene zur Disposition.
Im Folgenden wird die Szene 9: Straße unter besonderer Berücksichtigung des Gesprächsverhaltens der agierenden Figuren und der zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse analysiert.
In der Szene unterhalten sich zunächst der Doktor und der Hauptmann. Sie beide gehören der Oberschicht an. Hinzu kommt dann der Soldat Woyzeck, welcher für den Hauptmann kleine Dienste erledigt, um zusätzliches Geld zu verdienen und für den Doktor an einer wissenschaftlichen Studie teilnimmt, ebenfalls aufgrund von monetären Zwängen.
Zuvor im Drama wurde nämlich bekannt, dass Woyzeck gemeinsam mit seiner Freundin Marie ein uneheliches Kind, Christian, hat.
Da er von seinem einfachen Soldatenlohn jedoch nicht leben und gleichzeitig seine Familie unterstützen kann, übernimmt er kleinere Dienste für den Hauptmann und hat sich vertraglich zu einem Experiment für den Doktor verpflichtet. Für diese Studie isst Woyzeck lediglich Erbsen. Dies führt zu einer Mangelernährung, welche mit Halluzinationen einhergeht (vgl. Szene 8).
Gleichzeitig erfährt der Leser, dass Marie nach dem sozialen Aufstieg strebt und deswegen eine Affäre mit dem Tambourmajor eingeht. Woyzeck erahnt dies und konfrontiert Maire, welche ihr Fehlverhalten jedoch leugnet.
Im weiteren Verlauf des Dramas wird die Affäre allerdings öffentlich, Woyzeck kauft sich ein Messer, ersticht Marie und flüchtet.
Die Gesellschaft damals war geprägt von Sozialneid, sodass der Doktor und der Hauptmann, die zwar beide der Oberschicht angehören und finanziell abgesichert sind, einander dennoch als Konkurrenz ansehen und sich zu Beginn von Szene 9 beschimpfen: „Herr Exerzierzagel. […] Herr Sargnagel“ (S. 18, Z. 1 f).
Dann kommt Woyzeck zu dem Gespräch dazu. Er steht konstant unter Druck und Stress, um den Unterhalt für seine Familie zu verdienen („hetzt“, S. 18, Z.4). Dem Hauptmann sind solche existenziellen Nöte fremd und er kann sich nicht in Woyzeck hineinversetzen. Aufgrund seines Berufes ist er zur Ehelosigkeit gezwungen und verrichtet alle Taten mit melancholischer Langsamkeit, um irgendwie Zeit zu vertun.
Er bezeichnet Woyzeck als „offnes Rasiermesser“ (S. 18, Z. 5 f) und spielt damit auf Woyzecks finanzielle Abhängigkeit ihm gegenüber an, da dieser ihn rasiert. Woyzeck ist dem Hauptmann also finanziell und gesellschaftlich klar unterlegen und von ihm abhängig.
Als nächstes unterbricht der Doktor das Gespräch. Er ist ambitionierter Wissenschaftler und träumt davon, die Wissenschaft zu revolutionieren. In Woyzeck sieht er keinen Menschen, sondern lediglich ein Versuchsobjekt. Auch als Woyzeck aufgrund seines Experimentes halluziniert und körperlich deutlich geschwächt ist, kümmert ihn das Wohlergehen seines Patienten nicht, sondern ist lediglich um den Erfolg seiner Studie bemüht (vgl. S. 19, Z. 8 f).
Auch hier befindet Woyzeck sich wieder in einer Abhängigkeitssituation, weil er für seine Teilnahme an der Studie bezahlt wird und dieses Geld dringend benötigt. Wegen der höheren Bildung des Doktors und seiner höheren sozialen Stellung ist Woyzeck ihm, ebenso wie auch dem Hauptmann unterlegen.
Zu Beginn der Unterhaltung der drei Figuren beschwert sich der Hauptmann wieder, ähnlich wie schon in Szene 5, über Woyzecks Hetzerei, wartet er selbst doch darauf, dass die Zeit möglichst schnell vergeht. Er spielt auf Woyzecks Tätigkeit, ihn zu rasieren an und schweift dann ab in ein Geplänkel über das Thema Bärte und Rasieren (vgl. S. 18, Z. 4-10).
Dann mischt sich der Doktor ein und demonstriert seine Bildung, indem er auf eine Anekdote von Plutarch anspielt („Plinius“ (S. 18, Z. 11).
Der Hauptmann, der hingegen über keine vertiefte Bildung verfügt, versteht diesen Einwand nicht, sondern erwähnt seinerseits den Tambourmajor und Marie, was eine Anspielung auf Maries Treuebruch ist (vgl. S. 18, Z. 18 ff).
Noch deutlicher wird der Hauptmann, als er sagt, dass, wenn Woyzeck sich nun beeilt, er Marie sogar noch beim Treuebruch beobachten kann: „wenn Er sich eilt und um die Eck geht, so kann Er vielleicht noch auf Paar Lippen eins finden“ (S. 18, Z. 23 ff).
Woyzeck ist sehr geschockt: „kreideweiß“ (S. 18, Z. 26). Er beklagt sich beim Hauptmann darüber, dass dieser sich über seine Situation lustig macht: „hab sonst nichts auf de Welt, Herr Hauptmann, wenn sie Spaß machen“ (S. 18, Z. 28 f), doch er wird sofort wieder vom Hauptmann unterbrochen, was deutlich macht, wie wenig Respekt Woyzeck von der Oberschicht entgegengebracht wird. Der Doktor hingegen ist lediglich an Woyzeck als Versuchsobjekt interessiert: „Den Puls, Woyzeck, den Puls, klein, hart, hüpfend, unregelmäßig“ (S. 18, Z. 31 f) und nutzt dessen Schockmoment eiskalt aus.
Woyzeck halluziniert anschließend über die Hölle, was aber auch als Vorausdeutung auf seinen Mord gesehen werden kann, nach welchem er sicherlich in die Hölle kommt (vgl. S. 19, Z 1ff). Der Hauptmann interpretiert dies als Hinweis auf einen möglichen Selbstmord Woyzecks: „will er ein Paar Kugeln vor den Kopf haben)“ (S. 19, Z. 4 f). Auch der nächste Satz des Hauptmanns: „Er ersticht mich mit seinen Augen“ (S. 19, Z. 5 f) kann als Vorausdeutung auf den Mord an Marie gewertet werden.
Der Doktor untersucht wieder Woyzecks Symptome und geht nicht auf dessen schwierige soziale Situation ein (vgl. S. 19, Z. 8 f). Woyzeck wird wieder zum Objekt.
Er beschließt, den Ort des Gesprächs zu verlassen („Ich geh“, S. 19, Z. 10). Doch er äußert zunächst noch den aggressiven und gewalttätigen Wunsch „ein Kloben [in den Himmel] hineinzuschlagen“ (S. 19, Z. 3). An diesen Kloben möchte er sich hängen und zwischen ja und nein hin. Und herschaukeln (vgl. S. 19, Z. 13 ff). Dies könnte als mögliches Abwerten Woyzecks gesehen werden, ob er den Mord durchführen soll, oder nicht.
Er stellt sich anschließend die Frage: „Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld?“ (S. 19, Z. 16). Diese Frage kann vielseitig interpretiert werden: Einerseits könnte sie hinterfragen, ob Woyzeck oder die Gesellschaft, die ihn an diesen Punkt getrieben hat, am bevorstehenden Mord an Marie Schuld ist. Es könnte sich aber auch um eine Abstraktion der Abwägung handeln, ob Marie zu töten ist oder nicht.
Woyzeck geht, weiter, der Doktor verfolgt ihn, um ihn weiter zu untersuchen (vgl. S. 19, Z. 17 ff).
Der Hauptmann hängt wieder seiner Melancholie nach und ist überfordert mit zwischenmenschlichen Äußerungen oder zu abstrakten Gedankengängen: „Mir wird ganz schwindlig von den Mensche“ (S. 19, Z. 20).
Auch die Sprache zeigt deutlich auf, dass Woyzeck in dieser Situation der Unterlegene ist. Während er immer freundlich „Sie“ und „Herr“ sagt, werten der höher gestellte Doktor und der ebenfalls überlegene Hauptmann ihn mit „Er“ und „Woyzeck“ ab.
Des Weiteren sind auch die Redeanteile des Hauptmanns wesentlich höher als Woyzecks. Will dieser doch mal etwas sagen, wird er unterbrochen (vgl. S. 18, Z. 29 f).
Der Doktor ist in dieser Szene verhältnismäßig ruhig, allerdings demonstriert er durch Einwürfe wie „Plinius“ (S. 18, Z. 11) seine (intellektuelle) Überlegenheit und verdeutlicht die Distanz zwischen ihm und dem einfachen Volk.
Dass der Hauptmann doch nicht so gebildet ist, wie er sich ausgibt, wird mehrfach deutlich, wenn er beispielsweise die Einwürfe seiner Vorredner nicht versteht: „Hä?“ (S. 18, Z. 14) oder sich mehrfach wiederholt (vgl. S. 18, Z. 9 f oder S. 19, Z. 24).
Es lässt sich außerdem sagen, dass der Doktor und der Hauptmann, obwohl sie sich vorher gestritten haben, sich gemeinsam gegen Woyzeck verbünden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Woyzeck in dieser Szene sowohl dem Hauptmann als auch dem Doktor unterlegen ist, was sowohl durch die gesellschaftlichen Positionen der Figuren, als auch durch ihr Gesprächsverhalten und ihre Sprache deutlich wird. Obwohl Doktor und Hauptmann sich vorher streiten, verbünden sie sich gemeinsam gegen die Unterschicht, um diese weiter auszunutzen.