Drama: Woyzeck (1836-1837, genaue Entstehungszeit unbekannt)
Autor/in: Georg BüchnerEpoche: Vormärz / Junges Deutschland
Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Szenen-Analyse und Interpretation
Das vorliegende Dramenfragment „Woyzeck“, welches 1836 von Georg Büchner verfasst worden und dem Vormärz zuzuordnen ist, thematisiert den tragischen schizophrenen Protagonisten Woyzeck, der nicht nur ein sehr bescheidenes Leben führt und von anderen gedemütigt wird, sondern letztendlich aus Eifersuchtsmotiven seine Geliebte umbringt.
Bei der zu analysierenden Szene 8 „Beim Doktor“, handelt es sich um einen Dialog zwischen Woyzeck und dem Doktor.
In diesem wird zu Anfang Woyzecks vertragsmissachtendes Verhalten abgehandelt, als der Doktor ihn auf das Wasserlassen an die Wand, ohne eine Urinprobe abzugeben, anspricht.
Im Folgenden rechtfertigt Woyzeck sich damit, dass einem die Natur komme, woraufhin der Doktor von dem freien Menschen, in dessen Macht es stehe seinen Schließmuskel zu kontrollieren, redet. Auf Forderung des Doktors gelingt es Woyzeck nicht eine Urinprobe zumachen, sodass der Doktor sich darüber aufregt und die zuvor geschilderte Szene nochmals aufgreift.
Woyzeck philosophiert vor sich hin und spricht von Stimmen, die er hört. Doch der Doktor begibt sich nicht in ein Gespräch mit ihm, sondern kommentiert Woyzecks Geistesverwirrung nur. Schließlich befragt der Doktor Woyzeck, ob er seine Dienste und Anforderungen auch erfülle.
Die Szene erweckt den Eindruck, dass Woyzeck dem Doktor unterlegen ist und letzterer die dominante Rolle einnimmt.
Direkt zu Szenenbeginn spricht der Doktor Woyzeck auf sein unbefugtes Wasserlassen an, was er als eine Unverschämtheit sieht, was u.a. durch seine sehr suggestive Frage „Was erleb ich, Woyzeck?“ (S.15, Z.7) deutlich wird. Das negativ konnotierte Verb „pissen“ (S.15, Z.9 ff.), welches der Doktor in diesem Zusammenhang benutzt, wie auch der Vergleich mit einem Hund (S.15, Z.10) drückt seine starke Verachtung gegenüber Woyzeck aus. Diese negative Darstellung von Woyzeck wird in den folgenden Sätzen explizit ausgedrückt. Er bezeichnet Woyzeck als schlechten Menschen und überträgt dieses unordentliche Verhalten auf die komplette Menschheit, was er mit der Klimax1 „Die Welt wird schlecht, sehr schlecht“ (S.15, Z. 11 ff.) zum Ausdruck bringt. Woyzeck begründet sein Verhalten in einem kurzen Satz, dass einem die Natur käme (vgl. S. 15, Z. 13).
Mit wiederholenden Ausrufen wie „Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur!“ (S. 15, Z. 14) verdeutlicht der Doktor, dass er dies nicht so sieht und lediglich als verachtend betrachtet. Laut seiner Auffassung ist der Schließmuskel dem Willen unterworfen (vgl. S. 15, Z. 15), sodass er ein undiszipliniertes Verhalten Woyzecks impliziert.
Seine mangelnde Empathie wird besonders mit der Aussage, der Mensch sei frei, in dem Menschen verkläre sich die Individualität zur Freiheit (vgl. S. 15, Z. 17) deutlich. Dass Menschen aus unteren sozialen Schichten diese Individualität zur Freiheit gar nicht möglich ist, scheint der Doktor gar nicht zu realisieren. Sein aufgebraustes Gemüt wird auch durch seine Körpersprache unterstrichen, so schüttelt er den Kopf, legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab (vgl. S. 15, Z. 19). Die Ambitionen des Doktors werden mit der Aussage, er wolle etwas Revolutionäres in der Wissenschaft errichten, unterstrichen. Somit wird schon zu Beginn des Gesprächs deutlich, dass die wissenschaftliche Manifestation einen höheren Stellenwert als das Leben der Menschen für den Doktor hat.
Seine heftige Erregung, als Woyzeck nicht in der Lage ist zu urinieren, verdeutlicht dies (vgl. S. 15, Z. 24-27). Nochmals greift der Doktor das Pissen an die Wand sehr bewegt auf und spricht Woyzeck auf den schriftlichen Vertrag an (vgl. S. 15, Z. 27 ff.). Der Doktor scheint sehr emotional zu sein und sich nicht im Griff zu haben, da er auf Woyzeck los tritt (vgl. S. 15, Z. 31).
Trotz seines Kontrollverlusts versucht er sich unter Kontrolle zu halten, da er sich bemüht nicht zu ärgern (vgl. S. 16, Z. 1). So versucht er sich zu beruhigen, und auf einen normalen Puls zu kommen (vgl. S. 16, Z. 2ff.), was sehr kontrolliert und perfektionistisch wirkt. Dass er Woyzeck implizit mit einer froschartigen Eidechse vergleicht über die man sich nicht aufregen sollte, wenn sie einem krepiert (vgl. S. 16, Z. 5ff.), zeigt, dass der Doktor in Woyzeck keinen Menschen sieht, sondern nur ein wissenschaftliches Objekt, das lediglich für seine wissenschaftlichen Züge bedeutend ist.
Woyzeck unterbricht den Redefluss des Doktors, scheint jedoch Schwierigkeiten zu haben, sich angemessen auszudrücken und wirkt dabei sehr nervös, was nicht nur durch seine Wortwahl, sondern auch durch seine angespannte Körpersprache zum Ausdruck kommt (vgl. S. 16, Z. 7-10). Der Doktor geht nicht auf ihn ein und stempelt ihn stattdessen als philosophierende Person, die wirres Zeug redet, ab. Woyzeck redet weiter und thematisiert die fürchterlichen Stimmen, die er hört. Der Doktor geht in keiner Weise auf ihn ein und diagnostiziert stattdessen eine Geistesverwirrung (vgl. S. 16, Z. 17).
Woyzeck versucht weiter seine wirren Gedanken zum Ausdruck zu bringen, was ihm aber misslingt (vgl. S. 16, Z. 18-21). Es wirkt schon beinahe grotesk2, dass der Doktor Geistesverwirrung als „die schönste“ (S.16, Z.22) klassifiziert. Aufgrund dessen gewährt er Woyzeck Zulage, ohne sich sichtbar Gedanken um mögliche Komplikationen ausgelöst durch die Versuchsreihe oder Woyzecks allgemeiner kritischer psychischer Verfassung zu machen. Er befragt Woyzeck, ob er den Hauptmann rasiere, seine Erbsen esse und seinen Dienst mache, was Woyzeck mit „Jawohl.“ (S.16, Z.26, 32) beantwortet. Es wird deutlich, dass Woyzeck stets gehorsam ist und außerordentlich stark von seiner militärischen Erziehung geprägt ist, sodass er nichts in Frage stellt und jegliche Befehle anderer ausführt. Somit nimmt Woyzeck eine stark unterwürfig geprägte Position ein. Auch, dass seine Frau das Geld für die Menage bekommt, zeigt, dass Woyzeck nicht nur selbstlos ist, sondern stets das eigentliche Wohlergehen unterdrückt. Die starke Diskrepanz3 zwischen Woyzeck und dem Doktor wird nicht nur aufgrund der verschiedenen Gesellschaftsschichten, denen sie angehören, deutlich, sondern auch durch die Wortwahl und Syntax. So ist die Syntax des Doktors überwiegend hypotaktisch und er verwendet ausschließlich medizinische Fachsprache, die Woyzeck nicht versteht.
Somit ist der Doktor Woyzeck durch sein Wissen und seine Bildung überlegen. Woyzeck hat Probleme sich adäquat auszudrücken, benutzt eine parataktisch geprägte Syntax, die durch viele Ellipsen4 und wirr wirkende Formulierungen hervorsticht. Er steht in einer Abhängigkeit, die nicht finanziell, sondern auch vertraglich zum Ausdruck kommt. Es herrscht kein typisches Arzt-Patient-Verhältnis, bei dem der Arzt den Patienten aufklärt, sondern der Doktor betrachtet Woyzeck nicht als Patienten, dem er helfen soll, sondern als ein wissenschaftliches Versuchsobjekt.
Der Doktor agiert dementsprechend eigennützig, da nicht Woyzecks menschliches Wesen im Vordergrund steht, sondern ausschließlich seine Forschung, mit der er seinen gesellschaftlichen Aufstieg sichert. Der Doktor betrachtet Woyzeck nicht als Person, sondern als „interessante[n] casus. Subjekt Woyzeck“ (S. 16, Z. 33). Woyzeck ist dementsprechend der Wissenschaft untergeordnet, wobei der Doktor sich der Wissenschaft und sich selbst verpflichtet, weshalb bei ihm lediglich ein forschender Ansatz zu Grund liegt. Durch diese Umstände wird Woyzeck jegliche Menschlichkeit beraubt. Auch die Umgangsart und die abwertenden Vergleiche mit Tieren, verdeutlichen die Demütigungen denen Woyzeck ausgesetzt ist. Die dominante Rolle des Doktors wird durch seinen erheblich größeren Redeanteil und, dass er nicht auf Woyzeck eingeht und sich nicht auf die gleiche Kommunikationsebene begibt, bestätigt.
Auch wenn beide Charaktere sehr verschieden sind, so ist ihr alltägliches Leben hart. Der Doktor steht in harter Konkurrenz zu anderen Medizinern und musste sich seinen Weg erarbeiten, wobei Woyzeck mit ganz anderen sozialen und persönlichen Problemen konfrontiert ist. Die Weltansichten der beiden sind ebenso differierend, so wird Woyzeck durch seine Triebe und die Natur geleitet und der Doktor ist der festen Überzeugung willentlich zu handeln und die Natur somit zu unterdrücken.
Abschließend lässt sich sagen, dass die zu Anfang aufgestellte Deutungshypothese zu verifizieren ist. Woyzeck wird jegliche Menschlichkeit beraubt, sodass er nur als wissenschaftliches Objekt, das dem Doktor auf allen Ebenen unterlegen ist, verbleibt. Es besteht somit eine Abhängigkeit Woyzecks, die sich in seiner unterwürfigen Art äußert.