1. Drama: Das Parfum / Die Geschichte eines Mörders (1985)
Autor/in: Patrick SüskindEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
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Zwei wahnsinnige Genies – Ein Vergleich zwischen Jean-Baptiste Grenouille (das Parfüm, Patrick Süskind) und Cardillac (*Das Fräulein von Scuderi, ETA Hoffmann*)
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In Paris lebten zu unterschiedlichen Zeiten zwei Genies. Sie sind auf ganz verschiedenen Gebieten begabt: Der eine in der Parfümerie, der andere in der Schmuckherstellung. Doch beide bringen wunderbare Werke hervor. Jean-Baptiste Grenouille ist der eine von ihnen. Er besitzt eine exzellente Nase, mit der er einen Menschen schon in hunderten von Metern Entfernung erschnuppern kann und traumhafte Parfüms herzustellen vermag. René Cardillac, der zweite, schafft aus einem unscheinbaren Edelstein im Handumdrehen ein so atemberaubendes Schmuckstück, wie es keiner außer ihm fertigbringt.
Die beiden sind Meister auf ihrem Gebiet. Doch bei beiden Charakteren bringt die Genialität auch eine Schattenseite mit sich: Beide haben schon um ihrer Kunst willen gemordet.
René Cardillac besitzt schon seit frühester Kindheit eine Leidenschaft für Gold und Juwelen. Die funkelnden Edelsteine üben auf ihn eine so große Faszination aus, dass er als Knabe beginnt, sie zu stehlen. Er hat von Anfang an den Drang, das funkelnde Gut zu besitzen. Da sein Vater dies nicht duldet, lernt René schon früh, seine Begierde zu unterdrücken. Um mit den geliebten Materialien in Kontakt zu sein, lernt er in einer Goldschmiede. Es zeigt sich, dass er einen außerordentlich begabten Goldschmied abgibt. Seine Werke sind prachtvoll. Doch Cardillacs Schmuckstücke ziehen niemanden so sehr in ihren Bann wie ihren Hersteller selbst. Dieser erlebt nach dem Verkauf eines Schmuckstücks eine starke Unruhe. Er fühlt sich trostlos, kann nicht schlafen, verliert sogar den Lebensmut. Seiner eigenen Aussage zufolge flüstert ihm eine Stimme in die Ohren: „Es ist ja dein – es ist ja dein – nimm es doch – was sollen die Diamanten dem Toten.“ Das bloße Zurückstehlen eines von ihm gefertigten Schmuckstücks genügt ihm nicht. Bald erwachen Mordsgelüste in ihm. Cardillac bezeichnet die erweckte Begierde als Todesfolter, welcher er nachgeben muss, um nicht daran unterzugehen. Er kann der Lust nicht widerstehen, sucht den Käufer - es sind immer Männer - auf, ersticht ihn mit einem Dolch, holt sich den Schmuck und fühlt sich endlich befriedigt. Das Töten hat für Cardillac etwas Berauschendes, Befreiendes an sich. Er tut es einerseits, um in den Besitz der Juwelen zu kommen und andererseits, um dem Wahn zu entfliehen und sein Leiden zu beenden.
Die Mordslust und die Stimmen weisen auf Cardillacs psychische Störungen hin. Er verkörpert eine gespaltene Persönlichkeit mit einer guten und einer bösen Seite. Wenn er von der Stimme in seinem Kopf zum Mord getrieben wird, nimmt die böse Seite überhand. Er kann sich nicht gegen sie wehren und erliegt ihr hilflos. René weiß, dass er nicht töten soll. Er kann sich aber nicht gegen den Drang wehren, es doch zu tun. Das bringt den stark zwanghaften Zug in seinem Charakter zum Vorschein. Die Stimme in seinem Ohr gleicht einer Psychose. Er fällt in einen Wahn, in eine Besessenheit.
Diese Obsession führt Cardillac auf ein Erlebnis seiner mit ihm schwangeren Mutter zurück. Die Mutter griff nach der Diamantenkette eines Liebhabers, welcher in diesem Moment gestorben ist und sich im Todeskrampf an sie klammerte. Cardillac meint, in jenem Augenblick sei über ihm ein böser Stern aufgegangen, der diese Leidenschaft angefacht hat.
Diese Geschichte klingt eher wie eine Rechtfertigung seiner Taten als eine plausible Erklärung seiner Krankheit. Vielleicht will sich der Betroffene damit vor Olivier, seinem Gesellen erklären. Diesem vertraut er sein Geheimnis an. Ganz allein lebt Cardillac nämlich nicht in seiner Welt. Er hat den Kontakt zu den Leuten nie vollständig verloren und ist selbst auch einer von ihnen.
Ganz im Gegensatz zu Jean-Baptiste Grenouille. Dieser lebt wie ein Außerirdischer auf dem Planeten. Vollständig in sich zurückgezogen knüpft er niemals enge Kontakte.
Auch zu seiner Mutter hatte er nie eine enge Bindung. Sie wollte ihn kurz nach seiner Geburt umbringen und wurde deswegen hingerichtet. Sowohl Grenouilles als auch Cardillacs Mutter haben in der frühesten Kindheit ihrer Söhne für ein traumatisches Erlebnis gesorgt. Was bei Cardillac eher absurd klingt und von ihm eventuell als Rechtfertigung erzählt wird, könnte bei Grenouille ein frühkindliches Trauma gewesen sein, welches seine extreme Zurückgezogenheit teilweise erklärt. Er sucht ein menschliches Gegenüber nämlich nur auf, wenn seine Ziele es unbedingt verlangen.
Von diesen Zielen ist er besessen. Grenouilles Traum ist es, ein perfektes Parfum herzustellen, das ihm Macht über die Menschheit verleihen und die Leute dazu bringen soll, ihn zu lieben.
Der Ursprung von Grenouilles Lebenstraum liegt in seinem Defizit: Er hat keinen Eigengeruch. Seine Mitmenschen nehmen ihn deswegen entweder gar nicht oder als teuflisches Wesen wahr. Zudem definiert Grenouille die Identität einer Person über deren Geruch. Da er selbst keinen Geruch besitzt, fehlt ihm die Identität. Deswegen will der Duftkünstler unbedingt ein Parfüm herstellen, welches seine Dysfunktion kompensiert. Da die Motivation zu diesem Werk in seiner eigenen Natur liegt, ist es für ihn von so elementarer Wichtigkeit, dass er sogar bereit ist, für die Verwirklichung seines Traums über Leichen zu gehen.
Er tötet 25 Jungfrauen, welchen er den Duft raubt und ihn daraufhin zur Zusammensetzung seines Elixiers verwendet. Seine Opfer entsprechen einem bestimmten Beuteschema, wie es auch bei Cardillac der Fall ist. Die Morde begeht Grenouille ähnlich wie Cardillac auch im Wahn seiner Besessenheit. Grenouille ist besessen davon, dieses perfekte Parfüm herzustellen.
Wie Cardillac hat Grenouille keine Ruhe, ehe er sein Werk nicht vollbracht hat. Zumindest erhofft er sich dies. Dann, so sagt er sich, wird sein Leiden ein Ende finden. Er tötet also die Mädchen, um daraus ein Parfüm herzustellen, welches sein Leiden und seinen Wahn beenden soll. Das Töten an sich ist für Grenouille jedoch nur ein Mittel zum Zweck. Er verspürt im Gegensatz zu Cardillac keine Mordslust und hat nicht den Drang, zu töten. Die Entscheidung, die Mädchen umzubringen, trifft er ganz rational und ein schlechtes Gewissen verspürt er dabei nicht. Mit den Morden holt er sich die Düfte der jungen Frauen. Somit stiehlt er ihnen etwas, das ihm noch nie gehört hat, wohingegen Cardillac seine selbst kreierten Schmuckstücke zurückholt.
Dass Grenouille keine Gewissensbisse hat, zeigt, dass wir es hier mit einem von Grund auf bösen Wesen zu tun haben, wohingegen Cardillac eine Persönlichkeit mit zwei Seiten besitzt und von einem schlechten Gewissen geplagt wird.
Diese durch und durch böse Gestalt hat sich noch nie gegen das Morden gewehrt, wie es Cardillac macht. Wozu auch? Er tut es ja mit berechnender Absicht, während René Cardillac von Halluzinationen getrieben mordet.
Grenouilles Wundergemisch sollte nicht ihn selbst verzaubern, wie Cardillac von seinen gestohlenen Schmuckstücken verzaubert wird. Grenouille will mit seinem Elixier die Menschheit verzaubern. Er selbst ist von den Düften der Mädchen aber ebenfalls angetan. Diesen Düften gegenüber verspürt er eine Art Liebe. Eine Liebe, wie Cardillac sie zu seinen Edelsteinen empfindet.
Die beiden Charaktere haben nicht nur gemeinsam, dass sie Genies auf ihrem Gebiet sind. Beide lieben die Objekte, welche sie ihren Opfern stehlen. Beide morden aufgrund einer Besessenheit, die sie glauben lässt, dass die Morde helfen, dem Leiden ein Ende zu bereiten. Der psychisch kranke Cardillac verspürt sofortige Befreiung von seinem Wahn, welchen er in Zeiten spürt, in denen die böse Seite seiner gespaltenen Persönlichkeit Überhand nimmt. Er befriedigt mit dem Töten seine Mordlust. Bald kommt jedoch der nächste Anfall. Er findet durch die Morde also doch keine Ruhe.
Der von Grund auf böse Grenouille dagegen handelt rational. Das Töten ist in seinem Fall ein Mittel, um ein Parfüm herzustellen, von welchem er sich die Erlösung aus dem Leiden verspricht. Das Morden ist eine indirekte Maßnahme, um sein Defizit zu besiegen, wovon er besessen ist. Ferner bemerkt er zum Schluss der Geschichte, dass auch dieses perfekte Parfüm seine Dysfunktion nicht zu kompensieren vermag.
Somit werden beide Charaktere erst durch den Tod endgültig von ihrer Besessenheit erlöst.