Drama: Woyzeck (1836-1837, genaue Entstehungszeit unbekannt)
Autor/in: Georg BüchnerEpoche: Vormärz / Junges Deutschland
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Tragödie „Woyzeck“ ist ein Dramenfragment des deutschen Dramatikers und Dichters Karl Georg Büchner. Er begann mit seiner Arbeit an „Woyzeck“ vermutlich zwischen Juli und Oktober 1836. Da er bereits im Februar 1837 verstarb, blieb sein Drama als Fragment zurück. Erst 1879 erschien „Woyzeck“ erstmals im Druck, in der von Karl Emil Franzos überarbeiteten Form. Büchner vertrat vor allem den Determinismus und lehnte sich gegen die gesellschaftlichen Strukturen um 1800 auf. Mit seinem Drama „Woyzeck“ ist er einer der ersten, der einen „Plebejer“ auf die Bühne bringt.
Das Drama thematisiert die Geschichte des einfachen Soldaten Woyzeck, der neben seinem Beruf als Soldat auch weiteren Tätigkeiten nachgeht, um seine untreue Freundin Marie und das gemeinsame, uneheliche Kind zu versorgen. Als er von der Untreue seiner Freundin erfährt, bringt er diese, aus dem genannten Grund, um.
Der einfache Soldat Woyzeck ist ein Mann, der sich in der gesellschaftlichen Struktur in der „Unterschicht“ befindet. Um seine kleine Familie bestehend aus seiner Freundin Marie und dem gemeinsamen, unehelichen Sohn Christian, zu versorgen, geht er nebenbei auch anderen Tätigkeiten nach. Er stellt sich dem Hauptmann als Diener und dem Doktor als Versuchsperson zur Verfügung. Dadurch ist er physischem und psychischem Druck ausgesetzt, weshalb er auch er oft Halluzinationen hat. Während Woyzeck arbeitet und sein ganzes Gehalt Marie gibt, betrügt Marie ihn mit dem Tambourmajor. Als Woyzeck dies mitbekommt, lockt er sie an einen Ort, an dem er sie zur Rede stellt und letztendlich umbringt.
Bei dem vorliegenden Textauszug und damit der zu analysierenden Szene handelt es sich um „Der Hof des Doktors“. (Zeilenangaben sind auf die Szene und nicht auf das komplette Drama bezogen).
Die Studenten und Woyzeck befinden sich unterhalb des Dachfensters, an welchem der Doktor steht.
Der Doktor führt einen Versuch durch, bei dem er eine Katze vom Dachfenster aus fallen lässt. Woyzeck fängt die Katze auf, nachdem der Doktor ihm ein Zeichen gegeben hat, wird jedoch von dieser gebissen. Der Doktor kritisiert Woyzeck dafür, wie er die Katze hält und nimmt sie ihm ab. Mit einer Lupe untersucht er die Läuse der Katze, woraufhin die Katze ihm wegläuft. Nun führt er den Studenten Woyzeck vor, den er auf eine Erbsendiät gesetzt hat. Woyzeck beginnt bereits Symptome wie Zittern zu zeigen, jedoch weicht der Doktor seinen Aussagen aus, indem er behauptet, es seien nur noch ein paar Tage, bis die Erbsendiät vorbei sei. Der Doktor fordert ihn auf die Ohren zu bewegen, um den Studenten die Muskeln vorzuführen. Auf seine Aufforderung antwortet Woyzeck durch ein Seufzen. Daraufhin wird der Doktor wütend und beleidigt und kritisiert ihn. Zuletzt bemerkt er seine dünnen Haare und erklärt den Studenten es liege an den Erbsen.
Der Redeanteil des Doktors ist während des Dialogs immer viel größer als der Woyzecks. Die Szene bzw. der Dialog besteht aus 30 Zeilen, von denen nur vier Woyzeck zuzuordnen sind. Dies zeigt, dass der Dialog asymmetrisch verläuft. Ein weiterer Beleg für die Asymmetrie ist, dass Woyzeck den Doktor immer mit „Herr Doktor“ (Z. 10, 13, 20, 25) anspricht, bevor er ihm seine Antwort gibt. Dies zeigt seinen Respekt vor dem Doktor, und verdeutlicht, dass er ihm untergeordnet ist.
Auch die Wortwahl und die Syntax zeigen, dass der Doktor, Woyzeck übergeordnet ist. Der Doktor spricht in Hypotaxen und benutzt Fachwörter wie „centrum gravitationis“ (Z. 8), vergleicht seine Situation mit einer biblischen Erzählung (Z. 1) und ist in der Lage, eine Spezies durch bloßes Sehen zu bestimmen („Spezies Hasenlaus“ (Z. 15)). Jedoch zieht er sich selbst auch ins Lächerliche, da er den Fachbegriff „centrum gravitatis“ falsch ausspricht und die Katze entkommen lässt (Z. 15, Regieanweisung), obwohl er Woyzeck vorher kritisiert hatte, er würde die Katze nicht richtig halten:
„Er greift die Bestie so zärtlich an“ (Z. 11). Zudem versucht er abzulenken, indem er sagt, dass das Tier keinen wissenschaftlichen Instinkt hätte (Z. 16). Die Punkte „…“ (Z. 16) nach seiner Ausrede zeigen, dass er für einen kurzen Moment verunsichert ist, auch die Aufforderung an die Studenten „fühlen Sie einmal“ (Z. 18) zeigt, dass er durch das Vorführen von Woyzeck von seinem vorherigen misslungenem Experiment ablenken möchte. Zuletzt fordert er Woyzeck auf seine Ohren zu bewegen, um die Muskeln seinen Studenten vorzuführen. Woyzeck reagiert auf seine Aufforderung mit „Ach Herr Doktor!“ (Z. 25), was ein Seufzen verbildlicht. Die Bildlichkeit zieht sich durch den ganzen Dialog, sodass durch bloßes Sprechen auch das körperliche Verhalten, bzw. Mimik und Gestik erahnt werden können. Zum Beispiel „Herr Doktor, ich hab´s Zittern“ (Z. 13) oder „Ei, ei! Schön, Woyzeck!“ (Z. 14). Gegen Ende des Dialogs wird der Doktor aufgrund des Seufzers Woyzecks sehr wütend. Er hat vorher die Katze eine „Bestie“ (Z. 11) genannt und nennt nun Woyzeck eine „Bestie“ (Z. 26). Der Doktor vergleicht Woyzeck nicht nur indirekt mit einem Tier sondern auch explizit: Indem er sagt, „Willst du´s machen wie die Katze?“ (Z. 26) und „Das sind so Übergänge zum Esel“ (Z. 27). Dieser letzte Abschnitt zeigt nicht nur, dass er sehr reizbar ist, sondern dass er in der Wut auch seine Intelligenz verliert. Vorher sprach er in gehobener Sprache und baute französische Begriffe wie „culs de Paris“ (Z. 3) und „Allons“ (Z. 24) in seine Sätze ein. In seiner Wut spricht er aber genau wie Woyzeck in Umgangssprache mit verkürztem „s“ Formen wie zum Beispiel „Willst du´s“ (Z. 26) sowie Woyzeck zum Beispiel sagt „Ich hab´s Zittern“ (Z. 13). Allgemein ist der ganze Dialog in Umgangs- bzw. Alltagssprache, jedoch versucht der Doktor intelligenter zu wirken, indem er Fachbegriffe oder französische Begriffe anführt.
Zudem kann die Sprache mit der Handlung verbunden werden: Am Anfang der Handlung steht er oben am Dachfenster und kommt dann herunter. Sprachlich ist er am Anfang auf einem scheinbar höheren Niveau, auch wenn er manche Fachbegriffe falsch ausspricht, und in seiner Wut begibt er sich auf ein niedrigeres Niveau.
Der Doktor brüllt Woyzeck meistens nur an, dies wird durch die vielen Ausrufezeichen (Z. 9, 21, …) und auch einmal durch die Regieanweisung deutlich: „brüllt“ (Z. 9). Das Verhältnis der beiden Figuren ist somit ganz klar: Der Doktor steht über Woyzeck.
Woyzeck erhält ständig Befehle vom Doktor z. B. „beweg (…) einmal die Ohren“ (Z. 23), denen er nachgehen muss. Er ist nur das Versuchsobjekt des Doktors und muss ich alles gefallen lassen, wie zum Beispiel, dass die Studenten „Schläfe, Puls und Busen“ (Z. 22, Regieanweisung) betasten. Er kann sich nicht wehren, denn selbst wenn er es versucht, wird er (wie vorher beschrieben) von dem Doktor stark beleidigt und kritisiert (vgl. Z. 26-30).
Die Regieanweisungen zeigen zudem neben den eigentlichen Handlungen, die sie beschreiben, auch die Lage der Personen, in der sie sich befinden. Zum Beispiel: „Er setzt sich“ (Z. 20) zeigt, dass es Woyzeck wirklich schlecht geht oder „Er kommt herunter“ (Z. 11-12) zeigt nicht nur, dass der Doktor vom Dachfenster herunter kommt, sondern, dass auch sein Niveau sinkt.
Alles in allem kann man sagen, dass diese Szene bedeutend für das Drama ist: Sie zeigt das Verhältnis zwischen Woyzeck und dem Doktor. Der Doktor ist Woyzeck zwar übergeordnet, ist dabei aber gar nicht so intelligent, wie er versucht zu erscheinen.
Die Szene kann in einem größeren Deutungszusammenhang als Gesellschaftskritik gedeutet werden.
Woyzeck ist ein sozial-determiniert; um seine Familie zu ernähren, muss er die vorliegenden Untersuche und Versuche über sich ergehen lassen, da er in der Gesellschaft nicht aufsteigen kann, um vielleicht an einen besseren Beruf zu gelangen. Der Doktor wirkt fast wie eine lebende Karikatur der damaligen Oberschicht. Am Beispiel des Festhaltens der Katze: Er kritisiert Woyzeck für etwas, was er kann, aber er selbst nicht. Er vergleicht Woyzeck mit einem Tier, obwohl er selbst genau so triebgesteuert ist. Dies erkennt man schon am Anfang des Dialogs: Er geht seinem sexuellen Trieb nach und hält Ausschau nach Mädchen aus der „Mädchenpension“ (Z. 2).
Bezieht man diese Szene auf Büchners Biografie, so ist zu erkennen, dass diese Szene stark von Büchners Auslandsstudium in Straßburg in Frankreich geprägt wurde. Daher sind vermutlich auch so viele französische Begriffe in diesem Dialog zu finden. Büchner bezeichnete die Zeit während seines Auslandsaufenthalts als die beste Zeit seines Lebens. Da der Auslandsaufenthalt begrenzt war, musste er nach einiger Zeit zurück nach Deutschland. Dort fand er sich vor einem Medizin-Professor, der sehr borniert war, das heißt der auf seiner eigenen Meinung beharrte und nichts dazu lernen wollte. Dies erinnert stark an das Verhalten des Doktors aus „Woyzeck“. Daher kann man diese Szene vermutlich auch als Kritik an seinem damaligen Professor sehen.