Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Charakterisierung und Interpretation
Die zu analysierenden Szenen „[4] Kammer“ , „[6] Kammer“ und „[16] Marie. Das Kind. Der Idiot“ entstammen aus dem von Georg Bücher verfassten Drama „Woyzeck“, welches 1836 geschrieben worden ist und sich epochengemäß dem Vormärz zuordnen lässt. Das Drama handelt von dem äußerst armen und geisteskranken Protagonisten Woyzeck, der ein uneheliches Kind mit Marie hat und durch diverse Nebentätigkeiten zusätzliches Geld für Marie und für das Kind zu verdienen versucht, wobei er sich unter anderem einer gesundheitsbedenklichen Erbsendiät unterziehen muss. Marie ist ihm untreu und betrügt Woyzeck mit dem Tambourmajor, woraufhin er sie ermordet, nachdem es ihm die Stimmen, die er hört (und auf seine Geistesverwirrung zurückzuführen sind) befehlen.
Die vierte Szene zeigt Marie in der Kammer mit ihrem Kind, während sie sich und ihre neuen Goldohrringe betrachtet. Dabei führt sie einen Monolog, der von den höher gestellten Damen und ihren Herren handelt, und singt ein Lied. Ihren Sohn bringt sie ins Bett. Woyzeck, der hereintritt, spricht Marie auf die neuen Ohrringe an, wobei diese sagt, sie habe sie gefunden. Nachdem Woyzeck fort ist, scheint Marie sich schuldig zu fühlen.
Die sechste Szene zeigt den Tambourmajor und Marie in der Kammer. Sie unterhalten sich und das Gespräch läuft auf eine sexuelle Begegnung der beiden hinaus.
Die 16. Szene zeigt Marie reuig in der Bibel lesend. Auch der Idiot, welcher sich Märchen erzählt, tritt in der Szene auf.
Im Folgenden wird die Gestaltung der Figur der Marie untersucht.
Zu Beginn der ersten Szene bespiegelt sich Marie (vgl. Z. 3 bzw. 10), was sie sehr eitel erscheinen lässt. So wird schnell deutlich, dass Marie viel Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild und andere Oberflächlichkeiten legt. Die Verwendung des Personalpronomens „er“ (Z. 3) impliziert ein Geschenk des Tambourmajors, als sie von glänzenden Steinen (vgl. Z. 3) bzw. im Folgenden von Gold (vgl. Z. 10) und Ohrringen (vgl. Z. 21) spricht. Die Aussage „s‘ ist gewiß Gold!“ (Z. 10) spiegelt Maries ausgeprägten Materialismus2 wider. Solch ein teures Geschenk scheint ihr Freude zu bereiten, sodass Marie ganz aufgeregt wirkt. Dies spiegelt sich unter anderem durch die Verwendung von Ausrufezeichen wider (vgl. Z. 3 und 10). Unsereins habe nur „ein Eckchen in der Welt“ (Z. 10) und „ein Stückchen Spiegel“ (Z. 11), was Marie nicht zu befriedigen scheint. Sie vergleicht sich mit den Damen der oberen und somit gehobenen Klassen (vgl. Z. 11). Es zeigt den starken Wunsch, dazugehören zu wollen. Ihr roter Mund (vgl. Z. 11) zeigt Marie als ein verführerisches und oberflächliches Wesen. Doch die starke Diskrepanz3 zwischen Marie und den gehobenen Damen wird deutlich, denn Marie besitzt nur ein Stückchen Spiegel (vgl. Z. 2), wohingegen „die großen Madamen“ (Z. 11) Spiegel „von oben bis unten“ (Z. 12) besitzen. So schient Marie diese Damen zu bewundern und zu idealisieren. Auch die „schönen Herrn“ (Z. 12) spiegeln dieses Ideal wider. Nicht nur der Wunsch nach materiellen Gütern und sozialer Anerkennung ist vorhanden, sondern auch die fehlende sexuelle Befriedigung, die Marie beim Tambourmajor sucht. So deutet diese Textstelle (vgl. Z. 12) das Verhältnis der beiden an. Die Sehnsucht, begehrt zu werden, wird besonders durch ihre Worte „[…], die ihnen die Händ küssen“ (Z. 12) deutlich. Woyzeck scheint Marie in sexueller Hinsicht nicht befriedigen zu können, anders als der Tambourmajor. Mit ihrer Affäre wird sie somit nicht nur materiell befriedigt, sondern kann sich ein Stück weit mit den Frauen der oberen Klassen vergleichen, auch wenn sie nur ein „arm Weibsbild“ (Z. 13) ist. Schuldig bzgl. ihrer Untreue scheint sie sich nicht zu fühlen, so dass ihr Handeln zwar nicht legitim, jedoch verständnisvoll erscheint. Ein mögliches schlechtes Gewissen wird aber deutlich, als Woyzeck erscheint. Sie fährt mit den Händen an ihre Ohren (vgl. Z. 17), so, als ob sie ihr Geschenk verstecken wolle, was sehr schuldbewusst wirkt. Woyzeck, der Verdacht schöpft, spricht sie daraufhin an (vgl. Z. 18). Marie verleugnet es mit ihrer sehr kurzen Antwort „nix“ (Z. 19). Sie wirkt sehr abgeneigt und offensiv. So sind ihre Sätze im Dialog mit Woyzeck kurz und parataktisch, zum Teil mit Ellipsen4, was Desinteresse und Unschuld ausstrahlt. Woyzeck bemerkt die glänzenden Ohrringe in ihren Händen (vgl. Z. 20), wobei Marie die Umstände unter den Tisch kehrt, indem sie behauptet, sie hätte sie gefunden (vgl. Z. 21). Er wird deutlich, dass Marie Konflikten aus dem Weg geht und ein eher unehrlicher Mensch ist. Auch mit der Verwendung des Diminutivs „Ohrringlein“ (Z. 21) versucht sie die Situation zu verharmlosen. Auf Woyzecks Misstrauen und Ungläubigkeit reagiert sie sehr offensiv mit der rhetorischen Frage „Bin ich ein Mensch“ (Z. 23). Dass sie hier von einer Hure spricht, impliziert somit ein untreues Verhalten und verdeutlicht, dass Marie sehr wohl in der Lage ist, ihr Verhalten zu reflektieren. Auf Woyzecks Schilderung ihrer finanziellen Lage und auf seine Sorgen bzgl. ihres Sohnes (vgl. Z. 24-27) geht Marie nicht richtig ein (vgl. Z. 28). Ob sie Woyzecks Bemühungen somit zu schätzen weiß, bleibt offen. Nachdem Woyzeck abgegangen ist, klassifiziert sie sich als „schlecht[en] Mensch[en]“ (Z. 30). Auch, dass sie sich erstechen könnte (vgl. Z. 30 ff.), zeigt ihr schlechtes Gewissen und ihre vorhandene Moral. Dies wird besonders unter Berücksichtigung des wehmütigen Ausrufs „Ach! Was Welt!“ (Z. 31) deutlich. Dass sie sich jedoch nicht als einzige Schuldige anerkennt, sondern auch ihre Umstände und somit Woyzeck mit einbezieht, wird mit ihrer Aussage „Geht doch Alles zum Teufel, Mann und Weib“ (Z. 31) verdeutlicht. Auch wenn eine untreue Frau das Bild einer Schlechten Mutter suggeriert, so wird Marie in dieser Szene nicht als Rabenmutter dargestellt. Auch wenn sie nicht als liebende Mutter dargestellt wird, so kümmert sie sich um ihr Kind (vgl. Z. 13-15).
In der sechsten Szene, in der Marie sich zusammen mit dem Tambourmajor in der Kammer befindet, wird sie triebgeleitet dargestellt. So sieht sie ihn mit Ausdruck an (vgl. Z. 35) und vergleicht seine Brust mit der eines Stieres und seinen Bart mit dem eines Löwen (vgl. Z. 35 ff.). Dieser Vergleich betont die animalische, triebgeleitete Seite der unteren Schichten und soll die Männlichkeit des Tambourmajors unterstreichen. Im Gegensatz zu Woyzeck wirkt er somit wie der „perfekte“, maskuline Versorger, der Marie Sicherheit bietet, vor allem in finanzieller Hinsicht, da er sich teure Geschenke wie Ohrringe leisten kann. Er ist Woyzeck somit physisch wie auch sexuell überlegen. Auch Maries sexuelle Befriedigung wird durch sein maskulines Aussehen und seine majestätische Aura (vgl. Bekleidung eines Tambourmajors) erreicht. Dies erreicht „keiner“ (Z. 36) und somit ausschließlich der Tambourmajor. Marie entscheidet sich somit für die „bessere Wahl“, obwohl sie ein Kind mit Woyzeck hat und er sie in jeglicher Hinsicht finanziell unterstützt. Durch diese getroffene Wahl und die Umstände wirkt Marie sehr gierig und egoistisch. Lediglich ihre eigenen Interessen stehen im Vordergrund, ohne dass sie sich Woyzecks Bemühungen bewusst ist und Dankbarkeit erweist. Dass sie nun auch noch stolz ist (vgl. Z. 36), unterstreicht diese Undankbarkeit nur und zeigt, wie schnell und einfach sich Menschen auf verschiedenen – finanziellen, sexuellen und materiellen – Ebenen verführen lassen. Der Tambourmajor scheint für Marie ein Abenteuer – besonders sexuelles – zu sein. So versucht sie die sexuelle Spannung hinauszuzögern (vgl. Z. 42) und scheint gleichzeitig erregt zu sein, als sie heftig ihn dazu auffordert, sie anzurühren (vgl. Z. 44). Es zeigt den Menschen in seiner heftigsten Stufe seiner Triebe, so dass Marie nicht nur das Bild einer Ehebrecherin, sondern auch das einer Hure, widerspiegelt. Moral spielt für sie in jenem Moment keine Rolle (vgl. Z. 45 ff.).
Maries Darstellung ist in der 16. Szene leicht differierend. Sie scheint Hilfe zu suchen, indem sie in der Bibel blättert. So versucht sie verzweifelt mit Gottes Hilfe ihre Sünden zu begleichen. Trotz ihres sehr niedrigen Bildungsstandes scheint sie in der Lage zu sein, die Bibelzitate zu verstehen und zu evaluieren (vgl. Z. 49, 61 ff.). Ihre heftige Verzweiflung wird besonders durch die wiederholenden Ausrufe „Herrgott, Herrgott!“ (Z. 48 ff.) und „Herrgott! Herrgott!“ (Z. 52) deutlich. Marie identifiziert sich mit denen in der Bibel dargestellten Geschichten der Ehebrecherin (vgl. Z. 48-52). Ihre Reue wird nicht nur durch ihre Sprache, sondern auch durch ihre Körpersprache und Gestik, deutlich. So schlägt sie die Hände zusammen (vgl. Z. 51) und schlägt sich auf die Brust (vgl. Z. 61). Ihre Reaktionen wirken so, als würde sie aus einem bösen Traum erwachen. Durch ihr Beten erhofft sie sich Vergebung, so dass spätestens an diesem Punkt deutlich wird, dass sie sich ihr falsches und unmoralisches Verhalten bewusst ist. Nachdem ihr durch Gott bzw. die Bibel die Augen geöffnet worden sind, macht sie sich Sorgen um Woyzeck, weil er schon seit längerer Zeit nicht kam (vgl. Z. 58). Marie wirkt ganz ausgelaugt und monoton, was durch den Parallelismus „gestern nit, heute nit“ (Z. 58) unterstrichen wird. Dass sie ihre Fehler gutmachen möchte und die in der Bibel dargestellten Szenen ernst nimmt, wird mit ihrer Aussage „ich möchte dir die Füße salben“ (Z. 61 ff.) verdeutlicht.
Die vierte Szene ist insofern von Relevanz, da sie Woyzecks Verdacht bestätigt und ihm weiteren Anlass zum Zweifeln an Maries Ehrlichkeit und Treue gibt. Ebenfalls appelliert sie an den bestehenden Verhältnissen und der Armut der unteren Schichten, da diese das Wesen der Menschen negativ formt, so dass solche Umstände zu Untreue und somit Eifersucht führen. So wird in der Szene eine Andeutung auf den Verlauf des Dramas gemacht, als Marie vom „[E]rstechen“ (Z. 31) redet. Dass Marie sich zwar nicht selbst ersticht, sondern am Ende erstochen wird, zeigt die Fatalität des Ganzen. Außerdem führt diese böse Vorahnung zur Dramatisierung, so dass der Spannungsverlauf intensiviert wird. Auch die sechste Szene ist relevant und ein wichtiges Element des Dramas, weil sie Maries Affäre beschreibt, die nun mit sogar sexuellen Kontakt ihren Höhepunkt erreicht. Dies ist der Auslöser- und nicht die Ursache- für Woyzecks Handeln und dementsprechend Maries Tod. So ist der Tambourmajor zuvor finanziell und gesellschaftlich überlegen und nun auch sexuell (und somit physisch), was Woyzecks Wahnsinn auf die Spitze treibt. Die 16. Szene stellt erneut eine Andeutung auf den Verlauf des Dramas dar. So dient das vom Idioten erzählte Märchen als böse Vorausdeutung. Auch das fehlende „Happy End“ und die fehlende Moral spiegelt die Fatalität wider (vgl. Z. 55 ff.). Der König, der der Königin das Kind holt, steht für Woyzeck, der im Verlauf bzw. am Ende das Kind dem Idioten abgeben wird, nachdem er seine Mutter- Marie- ermordet hat. Die Aussage „Blutwurst sagt: komm Leberwurst.“ (Z. 56) spiegelt hierbei Woyzecks fortschreitenden Wahnsinn wider und wie er Marie vor ihrem Tod rauslockt.