Drama: Woyzeck (1836-1837, genaue Entstehungszeit unbekannt)
Autor/in: Georg BüchnerEpoche: Vormärz / Junges Deutschland
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Szene aus Georg Büchners Drama „Woyzeck“, erschienen 1879. Das Besondere bei diesem Drama ist, dass es aufgrund des frühen Todes des Autors nicht fertiggestellt wurde und Fragment geblieben ist. Somit besteht auch keine festgelegte Reihenfolge der einzelnen Szenen. Das Drama handelt von dem jungen, in ärmlichen Verhältnissen lebenden Soldaten Woyzeck, der ein uneheliches Kind mit einer Frau namens Marie hat, welche er letztendlich aus Eifersucht ermordet. In dieser Szene, die in der Ausgabe des Cornelsen-Verlages an achter Stelle steht, sind die Gesprächspartner der Protagonist Woyzeck und der Doktor.
In der Szene besucht Woyzeck den Doktor, von dem er für die Teilnahme an einer Erbsenbrei-Diät bezahlt wird. Sie unterhalten sich über die Frage, ob Menschen ihrer Natur nach oder ihrem Willen nach handeln, wobei Woyzeck während des gesamten Gespräches von ihm schikaniert wird.
Meiner Ansicht nach wäre folgende Reihenfolge sinnvoll: Woyzeck, der auch von seinem Vorgesetzten, dem Hauptmann, ebenso herablassend behandelt wird, war zuvor bei Marie, von der Woyzeck vermutet, dass sie ihn mit einem Tambourmajor betrügt, was sie jedoch nicht zugeben will. Aufgrund dieser Sorge und der einseitigen Ernährung ist er körperlich und geistig geschwächt und fällt Marie und dem Doktor durch seine labile Psyche auf. Im weiteren Verlauf spitzen sich diese psychischen Probleme immer weiter zu und führen schließlich dazu, dass er Marie ermordet.
Den Anlass des Gesprächs stellt eine wissenschaftliche Untersuchung dar, bei der die Auswirkungen von äußeren Einflüssen wie der Ernährung auf die Psyche bewiesen werden sollen. Woyzeck besucht den Doktor, damit dieser seinen Urin untersucht, jedoch ist dies nicht mehr möglich, da er bereits draußen an eine Wand uriniert hat. Aus diesem Grund ist der Doktor sehr verärgert. Woyzeck nimmt an dem bezahlten Experiment teil, um seine kleine Familie finanziell unterstützen zu können, was ihm allein durch seinen Soldatensold nicht möglich ist. Das verdiente Geld gibt er direkt an Marie ab.
Die Szene kann in zwei Abschnitte gegliedert werden. Der erste Abschnitt geht von Zeile 16 (S. 18) bis 8 (S. 19) und der zweite von Zeile 9 bis 31 (S. 19). Der erste Abschnitt handelt hauptsächlich davon, dass Woyzeck an die Wand uriniert hat und der Doktor ihm deswegen eine Standpauke darüber hält, dass er als Mensch dazu fähig sein sollte, seinem Willen nach und nicht seiner Natur nach zu handeln. Nach diesem Abschnitt fängt Woyzeck an, Wahnvorstellungen zu entwickeln, weshalb sich das Gesprächsthema ändert und der Doktor ihm gegenüber freundlicher ist.
Im ersten Abschnitt, wo das Gespräch zwischen Woyzeck und dem Doktor beginnt, wird die gesellschaftliche Distanz zwischen den beiden Figuren deutlich. Der Doktor hat gesehen, dass Woyzeck „wie ein Hund“ (Z. 19) an die Wand uriniert hat und ist deshalb wütend auf ihn. Woyzeck hingegen versteht diese Anschuldigungen nicht und bezieht sich auf die „Natur“ (Z. 21). Indem er sich auf seine bisherigen Forschungsergebnisse bezieht, die beweisen, dass der Muskel der Harnblase „dem Willen unterworfen ist“ (Z. 23), versucht der Doktor Woyzeck auf rationale Weise zu erklären, wie falsch sein Verhalten ist. Er versucht, seinen Ärger zu unterdrücken, da dies „ungesund“ (Z. 4) sei, kommt jedoch immer wieder auf Woyzecks Fehlverhalten zurück. Außerdem erzählt er von einer „Revolution in der Wissenschaft“ (Z. 27), die es durch ein Mittel aus „Harnstoff, 0,10 salzsaurem Ammonium, Hyperoxydul“ (Z. 28) möglich macht, dies zu verhindern. Obwohl er Woyzeck dazu ermutigt, dass Medikament auszuprobieren, reagiert dieser eher gleichgültig darauf (vgl. Z. 30). In diesem Abschnitt wird der Gegensatz zwischen Woyzeck und dem Doktor deutlich, der den Ersteren klar dominiert, was durch den Standesunterschied und Woyzecks fehlende Bildung verursacht wird. Des Weiteren hat der eher naive und leichtgläubige Woyzeck gegenüber dem Doktor einen Nachteil, weshalb sie kein Gespräch auf Augenhöhe führen können.
Im zweiten Abschnitt beginnt Woyzeck Wahnvorstellungen zu entwickeln, weshalb sich das Gespräch auf diesen Aspekt richtet und der Doktor sich darauf konzentriert. Nachdem Woyzeck laut dem Doktor wieder „philosophiert“ (Z. 12) und er selbst davon berichtet, dass er eine „fürchterliche Stimme“ (Z. 15) in seinem Kopf hört, diagnostiziert er bei ihm eine geistige Verwirrung, die er als „Aberratio“ (Z. 16) bezeichnet. Der Doktor ordnet seine psychische Erkrankung der „zweiten Spezies“ (Z. 21) zu, da Woyzeck noch einen „allgemein vernünftigen Zustand“ (Z. 22) behält. Ab dieser Diagnose verändert sich die Haltung des Doktors gegenüber Woyzeck komplett. Während er zuvor eher unfreundlich und genervt von Woyzeck zu sein schien, verspricht er ihm nun eine „Zulage“ (Z. 21) und scheint völlig begeistert von seiner „sehr schön ausgeprägten“ (Z. 21) Krankheit zu sein. Woyzeck hingegen behält seine Sprechweise aus dem ersten Abschnitt bei und antwortet ihm nur mit einem militärischen „Ja wohl“ (Z. 24) und bestätigt dem Doktor, dass er sich „immer ordentlich“ (Z. 26) an seine Erbsendiät hält, wodurch seine unterwürfige Art deutlich wird. Im Gegensatz zum Doktor, der ihm ständig Fragen stellt, sagt er nur das Nötigste und es scheint so, als ob er Angst davor hat, sich gegen ihn aufzulehnen. Der Doktor hat keinerlei Interesse an Woyzecks gesundheitlichem Zustand und freut sich allein aus Begeisterung darüber, dass sich seine These bestätigt hat. Außerdem nutzt er Woyzecks schlechte finanzielle Lage aus und weiß, dass er auf das Geld angewiesen ist.
Innerhalb der Szene treten mehrfach außersprachliche Handlungen auf. Im ersten Abschnitt werden diese nur von dem Doktor ausgeübt, der aufgrund von Woyzecks Unfall in Rage ist und seinem Ärger durch Kopfschütteln und Auf- und Abgehen im Raum (vgl. Z. 25f.) Ausdruck verleiht. Im zweiten Abschnitt jedoch finden vonseiten des Doktors keine außersprachlichen Handlungen mehr statt. Woyzeck beginnt hier, völlig zusammenhangslos die Finger an die Nase zu legen (vgl. Z. 17) und spricht mit dem Doktor, der eigentlich eine Respektsperson verkörpert, zu der man Distanz halten sollte, auf vertrauliche Weise (vgl. Z. 13). Dies geschieht aus seinem Wahn heraus, da Woyzeck als gesellschaftlich unter ihm stehende Person niemals so eine Respektlosigkeit gegenüber dem Doktor wagen würde. Nichtsdestotrotz ist der Anteil an sprachlicher Handlung wesentlich größer.
Innerhalb des gesamten Gespräches wird deutlich, dass der gebildete Doktor sich Woyzeck gegenüber überlegen fühlt und diesen nicht ernst nimmt. Diese Wirkung entsteht durch seine wissenschaftliche Sprache, durch die seine Rolle als verantwortungsvoller Wissenschaftler karikiert wird. Beispiele dafür sind der „Musculus constrictor vesicae“ (Z. 23) und das vom Autor erfundene „Hyperoxydul“ (Z. 28) und die bei Woyzeck diagnostizierte geistige Verwirrung, die der Doktor als „Aberratio“ (Z. 16) bezeichnet. Solche Begriffe sind sowohl für Woyzeck als auch für den Leser völlig unverständlich, was daran deutlich wird, dass er darauf nur mit „Ich weiß nicht, Herr Doktor.“ (Z. 30) reagiert. Diese „Sprachbarriere“ zwischen ihnen macht deutlich, dass der Doktor Woyzeck aufgrund seiner höheren Bildung überlegen ist. Zu Beginn des Dialogs vergleicht dieser ihn außerdem mit einem „Hund“ (Z. 19). Dadurch werden die Unterschiedene zwischen Menschen, die über einen freien Willen verfügen und Tieren, die allein ihren Instinkten folgen, deutlich gemacht. Des Weiteren geht der Doktor sogar so weit, dass trotz seines Bewusstseins über Woyzecks psychische Erkrankung, die durch das Experiment verursacht wurde, ihn lieber weiterhin beobachtet anstatt ihm zu helfen. Im Wissen um Woyzecks schlechte finanzielle Situation bietet er ihm sogar noch einen „Zulag“ (Z. 31) an.
Während der gesamten Szene wird deutlich, dass zumeist der Doktor die Initiative ergreift und hauptsächlich auf seine Fragen antwortet, anstatt selbst welche zu stellen. Dies wird vor allem gegen Ende des Dialogs deutlich, wo Woyzeck auf die Frage „Tut sei Dienst“ (Z. 18) mit „Ja wohl“ (Z. 29) antwortet. Dies betont Woyzecks Zugehörigkeit zum Militär. In der Armee ist er es als einfacher Soldat gewohnt, Befehlen zu folgen und unterwürfig gegenüber seinen Vorgesetzten zu sein, was er auch im Zivilleben fortsetzt. Der Doktor hingegen, der in einer höheren gesellschaftlichen Position als er steht, kann sich einwandfrei bildungssprachlich ausdrücken.
In dieser Szene hat der Doktor einen größeren Redeanteil als Woyzeck, der zwar auf dessen Fragen antwortet, aber oft nicht die Möglichkeit dazu bekommt, seinen eigenen Standpunkt zu vertreten. Als er ein Beispiel für die Rolle der Natur beim Menschen nennen willen und kurz nachdenken muss, wird er direkt vom Doktor unterbrochen (vgl. Z. 11). Dadurch wird deutlich, dass der Doktor ihn aufgrund seiner niederen Herkunft nicht für intelligent genug hält, um mit ihm zu diskutieren.
Sprachlich ist die Szene davon gekennzeichnet, dass der Doktor durch die von ihm verwendeten Fachbegriffe einen intelligenten Eindruck macht, der jedoch davon getrübt wird, dass er sich öfters wiederholt (vgl. Z. 20), wodurch genau wie beim Hauptmann deutlich wird, dass er in Wahrheit eher dümmlich ist. Woyzeck, der sich im Gegensatz zu ihm nicht so eloquent ausdrücken kann, wird von seinem „Wortschwall“ überwältigt und weiß nicht recht, wie er darauf reagieren soll. Dies wird durch die wissenschaftliche Terminologie in der Sprache des Doktors noch verstärkt, der die Geisteskrankheit als „Aberratio“ (Z. 16) bezeichnet und eine Eidechse bei ihrem lateinischen Namen „Proteus“ (Z. 7) nennt. Dadurch versucht er seine hohe gesellschaftliche Stellung zu betonen und möchte diese vor allem Woyzeck klarmachen. Durch das sehr unterschiedliche Ausdrucksvermögen wird also auch der große Unterschied zwischen ihren Ständen verdeutlicht.
Die Szene soll innerhalb des Dramas die Opferrolle Woyzecks betonen, welcher von allen Seiten unterdrückt und ausgenutzt wird. Der Hauptmann nutzt ihn als unterwürfigen Diener aus, die Mutter seines Sohnes betrügt ihn mit einem wohlhabenden Mann und dazu kommt mit dieser Szene noch, dass er von dem Doktor, der allgemein als eine Vertrauensperson gilt, böse schikaniert wird.
Georg Büchners Drama „Woyzeck“ wurde 1836 verfasst, woraus sich Rückschlüsse über seine politische Haltung ziehen lassen. In der damaligen Zeit bestand seit 1815 der Deutsche Bund, der zwar einen Fortschritt darstellte, jedoch nichts daran änderte, dass Deutschland wie ein Flickenteppich aus vielen Kleinstaaten bestand. Jedes dieser Fürstentümer, Königreiche und Herzogtümer hatte seinen eigenen Monarchen, der seine Herrschaft verteidigte. Die 1789 stattgefundene Französische Revolution und ihre Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden in Deutschland nicht umgesetzt und das Volk hatte keinerlei Mitspracherechte. Diese Zeit des Vormärz war also eher von Pessimismus geprägt.
Büchner vertrat dementsprechend ein negatives Menschenbild, bei dem die Menschen ihre Umwelt nicht beeinflussen können und ihr stattdessen durch schlechte Taten schaden. Dieses Menschenbild lässt sich in seinem Drama wiederfinden. Der junge Woyzeck ist seinen Mitmenschen ausgeliefert, die ihn ausnutzen wollen und ständig versuchen, ihn zu schikanieren, was zum Beispiel durch den Hauptmann und den Doktor geschieht. Aufgrund seiner schlechten sozialen Lage als armer Soldat ist er dazu gezwungen, ihren „Spielregeln“ zu folgen. Anstatt zu versuchen, sich gegen sie aufzulehnen, stauen sich seine negativen Erfahrungen so lange in ihm auf, bis er schließlich so weit ist, dass er die Marie, die Frau, die er eigentlich liebt, ermordet. Büchner, der während seines Studienaufenthaltes in Straßburg die Ideale der Französischen Revolution kennengelernt hatte, vertrat eine liberale politische Haltung und war nach der Rückkehr in seine hessische Heimat unglücklich mit der dort herrschenden Unterdrückung. Es ist wahrscheinlich, dass er die dort herrschenden Verhältnisse in seinem Drama auf überspitzte Weise darstellen wollte. Der Hauptmann, der Doktor und der Tambourmajor repräsentieren die oberste Schicht der Ständegesellschaft, welche von Büchner deutlich kritisiert wird. Woyzecks Mord an Marie stellt somit eine Art Protest gegen die damalige gesellschaftliche Struktur dar, was mit Büchners politischen Forderungen übereinstimmt.