Drama: Woyzeck (1836-1837, genaue Entstehungszeit unbekannt)
Autor/in: Georg BüchnerEpoche: Vormärz / Junges Deutschland
Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Szenen-Analyse und Interpretation
Das 28-szenige Drama „Woyzeck“ wurde 1836 von Georg Büchner während der Epoche des Realismus verfasst und nach seinem Tod im Jahr 1879 veröffentlicht. Das Drama handelt von einem Soldaten namens Franz Woyzeck, welcher in der gesellschaftlichen Hierarchie an unterster Stelle steht und von seinen Mitmenschen auch als solcher wahrgenommen und behandelt wird. Die Handlungsstränge in kleinen Städten und die Beziehung einzelner Menschen zur Gesellschaft waren häufig ein Thema des Realismus.
Das Drama beginnt mit einer Szene, in der Franz Woyzeck und sein einziger Freund Andres im Gebüsch Stöcke schneiden. Hier wird Woyzecks labiler Zustand zum ersten Mal deutlich, da er anfängt zu halluzinieren. Im weiteren Verlauf erscheint Woyzecks Lebensgefährtin, Marie auf der Bildfläche, mit welcher er ein uneheliches Kind besitzt. Im weiteren Verlauf erfährt man, dass sie sich zum Tambourmajor hingezogen fühlt. Wenig später befindet sie sich mit Woyzeck auf dem Marktplatz. Dort werden der Unteroffizier und der Tambourmajor auf Marie aufmerksam. Aus ihrem Gespräch geht hervor, dass der Tambourmajor ein sexuelles Interesse an Marie besitzt.
Daran schließt die vierte Szene des Dramas an. Marie sitzt mit ihrem Kind zu Hause und betrachtet die Ohrringe, die ihr der Tambourmajor geschenkt hat. Woyzecks Eintreten überrascht Marie, denn sie versucht die Ohrringe schnell mit ihren Händen zu verstecken. Dieser wiederum entdeckt die Ohrringe und fragt sie, was sie in ihren Händen hält. Auf die Lüge, dass sie beide Ohrringe gefunden habe, reagiert er misstrauisch, fragt aber dennoch nicht weiter nach.
Aus der Regieanweisung geht hervor, dass Woyzeck und Marie in ärmlichen Zuständen leben. Denn sie hat „(E)in Stückchen Spiegel“ (Z. 18) in der Hand. Daraus lässt sich schließen, dass sie keinen großen unversehrten Spiegel bei sich zuhause hat und stattdessen in eine Scherbe beziehungsweise in einen sehr kleinen Spiegel gucken muss. Ihre ärmlichen Verhältnisse sind ihr durchaus bewusst, dennoch vergleicht sie sich mit „großen Madamen“ (Z. 29) und kommt zur Erkenntnis, dass sie ihnen äußerlich in nichts nachsteht. Trotzdem ist sie mit dem, was sie hat, nicht zufrieden. Sie muss an die gesellschaftlich angesehenen Frauen denken und bedauert, im Gegensatz zu ihnen keinen Spiegel von oben bis unten zu besitzen (vgl. Z. 30) oder einen „schönen Herrn“ (Z. 31), der ihr die Hand küsst. Was man damit assoziieren könnte, wäre, dass Marie sehr an materiellen Dingen festhält. Auch als sie die Ohrringe betrachtet, spricht sie zu ihrem Kind „Was die Steine glänze! (…) S´ ist gewiß Gold“ (Z. 19, 27). Damit probiert sie direkt den Wert der Ohrringe abzuschätzen, da Marie genau weiß, goldene Ohrringe und Ähnliches an Schmuck ist der Wiedererkennungswert einer angesehenen und wohlhabenden Frau.
Weiterhin könnte man meinen, dass sie in dieser Szene indirekt ihren Lebensgefährten Woyzeck kritisiert. Denn wenn sie ihn als „schönen Herrn“ betrachten würde, dann würde sie sich nicht zum Tambourmajor hingezogen fühlen. „Er steht auf seinen Füßen wie ein Löw´“ waren damals Maries Gedanken bezüglich des Tambourmajors. Weiterhin könnte er ihr attraktiver erscheinen, da er aus ihrer Sicht wohlhabender ist als Woyzeck, der ihr nicht einmal einen „Spiegel von oben bis unten“ (Z. 28) noch ihrem Anschein nach goldene Ohrringe bieten könne.
Als nun Woyzeck ins Zimmer platzt, fährt sie „mit den Händen nach den Ohren auf“ (Z. 1) hier wird klar, dass sie vorhatte, die Ohrringe rechtzeitig zu verstecken, bevor Woyzeck sie sieht, damit er nicht von ihnen erfährt. Mit dem Auffahren hat sie jedoch das Gegenteil bewirkt, denn sie wirkt nun wie jemand, der bei etwas ertappt wurde, was in der Tat auch so geschehen ist. Woyzeck fällt dies auch auf und fragt sie, was sie denn habe. Ihre Antwort „Nix“ (Z. 3) verstärkt hier denn Verdacht, dass jemand, in dem Fall Marie, etwas verbirgt. Denn wenn es nicht so wäre, könnte sie Woyzeck wahrheitsgemäß antworten, dass sie ihre neuen Ohrringe in ihrem Spiegel bewundert hat. Er sieht relativ schnell, dass Marie etwas am Ohr hat, daher verwirft sie ihre alte Taktik, die Ohrringe zu verbergen und ihm nichts zu erzählen und tischt ihm die Lüge auf, dass sie dieses Paar Ohrringe gefunden habe. Das deutet darauf hin, dass sie in Panik geraten ist und wahrscheinlich keinen klaren Gedanken fassen kann. Denn zum einen antwortet sie nur mit einzelnen Wörtern oder in Ellipsen1 und zum anderen kommt eine solche Notlüge nur zustande, wenn sie wortwörtlich in Not ist, da kein Mensch ein identisches Paar Ohrringe am selben Ort finden würde. Woyzecks Gedankengang müsste so ähnlich ausgesehen haben, denn er äußert sich skeptisch, dass er noch nie zwei gleiche Sachen auf einmal gefunden habe.
Hier wird einem natürlich bewusst, dass Woyzeck Marie durchschaut hat und er sie mit seinem Kommentar wahrscheinlich zur Wahrheit drängen wollte. Da Marie nicht mit der Wahrheit ans Licht kommen will „Bin ich ein Mensch“ (Z. 7) lässt Woyzeck das Thema letztendlich fallen. Dies könnte man seinem labilen Zustand und seinem schwachen Charakter zuschreiben. Nun widmet er seine Aufmerksamkeit dem Baby, der wohl im Schlaf schwitzt. Hier wird Woyzecks finanzielle und soziale Lage nochmals aufgegriffen „alles Arbeit unter der Sonn, sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut!“ (Z. 10f). Dies lässt sich gut mit dem Pauperismus deuten, da Woyzeck als Pauper bezeichnet werden kann.
Als Pauperismus wird eine Massenverelendung verstanden. Diese entsteht durch Umzüge vom Land in die Stadt, in welcher wenige Arbeitsstellen und keine finanzielle Unterstützung existiert. Die Folgen sind akute Wohnungsnot, Kinderarbeit, Kindsmorde, Hunger und moralische Abstumpfung. Zwar leidet Woyzeck weder an Hungersnot und noch ist er obdachlos, dennoch erkennt man die Anstrengung der Armen auch in seiner Lebenslage. Denn neben seinem Beruf als Soldat erweist er dem Hauptmann kleinere Dienste wie z. B. das Übernehmen der Rasur des Hauptmanns. Weiterhin lässt er den Doktor für 2 Groschen am Tag an sich herumexperimentieren. Somit wird deutlich, dass er auf jedes Geld angewiesen ist und selbst für wenig Geld seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Auch in dieser Szene ist Woyzeck nur nach Hause gekommen um Marie „die Löhnung und was von (seinem) Hauptmann“ (Z. 12) zu geben. Kurz darauf ist er wieder weg (vgl. 14).
Das ist wahrscheinlich auch einer der, weshalb Marie mit den Gedanken bei dem Tambourmajor ist. Denn Woyzeck ist kaum zu Hause und bringt Marie und dem Kind wenig Aufmerksamkeit entgegen. Als Woyzeck gegangen ist, verschwanden Maries Anspannung und Angst, denn aus kurzen Sätzen wurden wieder längere. Zuletzt beschleicht Marie langsam ein schlechtes Gewissen und sie bezeichnete sich selbst als schlecht(er) Mensch“ (Z. 15f). Daran merkt man, dass ihr an Woyzeck dennoch etwas liegen muss, denn ein schlechtes Gewissen hat man meistens nur gegenüber Personen, die einem am Herzen liegen. Das schlechte Gewissen verfliegt jedoch schnell und sie kommt zu dem Entschluss das „doch alles zum Teufel“ (Z. 17) geht. Anstatt durchgehend Reue zu empfinden, verharmlost sie das Ganze, indem sie die ganze Welt als schlecht betitelt und sie mit ihrem Verhalten dann sozusagen der Norm entspricht (vgl. 15ff). Daran merkt man, wie selbstbezogen Marie ist und nur Augen für das Materielle im Leben hat.
Aus dem Grund entsteht auch das Beziehungsgeflecht aus Woyzeck, Tambourmajor und Marie. Denn Marie hat ihren Lebensgefährten Woyzeck, der so gut wie den ganzen Tag an verschiedenen Stellen arbeitet, um genug Geld zu verdienen, welches er ihr restlos gibt. Da er für das Geld, das er für Marie verdienen will, an sich experimentieren lässt, war er psychisch schwach, dadurch entsteht eine gewisse Abneigung zu ihm und eine Zuneigung zum Tambourmajor. Wenn er aber nicht an sich experimentieren ließe, würde ihnen das Geld fehlen und auch dann wäre Marie letztendlich beim Tambourmajor gelandet. Es ist eine Art Teufelskreis, die den Seitensprung von Marie nicht verhindern würde. Der Tambourmajor wird von Marie als attraktiv und stark bezeichnet. Weiterhin geht aus ihren Gedanken hervor, dass der Tambourmajor ihre Sehnsucht nach Wohlstand und Ansehen erfüllen könnte. Wovon sie jedoch nichts weiß, ist, dass der Tambourmajor nur auf eine Art One-Night-Stand aus ist und er ihr das, was sie will, nur für einen kurzen Moment bieten könnte.
Diese Szene ist sehr wichtig für den weiteren Verlauf des Dramas, denn Maries Vertrauensbruch und Woyzecks labiler Zustand führen schlussendlich dazu, dass er Marie ermordet. Hätte sie indem Moment mit ihm gesprochen und die Wahrheit gesagt, wäre es vermutlich nicht dazu gekommen. Da Marie zunächst eine Art einseitiges Gespräch mit ihrem Baby führt, hat sie den größeren Redeanteil, doch als Woyzeck eintrifft, ändert sich dies. Denn dann ist sein Redeanteil größer als der von Marie. Das könnte an der komplementären Situation liegen, denn Marie ist in dem Moment eine Art Verhörte. Er weiß, dass sie lügt und sie was verheimlichen will, daher ist er in der dominierenden Rolle.
Maries Verhalten in dieser Szene ist gar nicht nachvollziehbar. Natürlich war es zur damaligen Zeit sehr wichtig hohes Ansehen zu besitzen und wohlhabend zu sein. Dennoch sollte man in Zwickmühlen wie die, in der sich zu dem Zeitpunkt Marie befand das rationale Denken nicht vernachlässigen und die Situation erst mal analysieren. Marie hat im Gegensatz dazu kindlich gehandelt. Der Seitensprung ist hier nicht unbedingt das Ausschlaggebende, sondern die Lüge und der Versuch Woyzeck hinters Licht zu führen. Der Mord an Marie und ihr Seitensprung sind in dem Fall fast schon als Merkmal des Realismus deutbar, denn im Realismus wird nichts bewusst beschönigt oder idealisiert, wie es in früheren Epochen üblich war. Im Realismus und besonders in diesem Werk ist gut erkennbar, dass das Wesentliche im Mittelpunkt stehen sollte. Auch das spiegelt sich in der Sprache wieder, denn sie ist schlicht und einfach gehalten, indem Fall der unteren beziehungsweise mittleren Schicht angepasst.