Drama: Woyzeck (1836-1837, genaue Entstehungszeit unbekannt)
Autor/in: Georg BüchnerEpoche: Vormärz / Junges Deutschland
Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Szenen-Analyse und Interpretation
Das vorliegende Dramenfragment „Woyzeck“, welches 1836 von Georg Büchner verfasst worden ist und epochengemäß dem Vormärz zuzuordnen ist, thematisiert den tragischen schizophrenen Protagonisten Woyzeck, der nicht nur ein sehr bescheidenes Leben führt, von anderen gedemütigt wird, sondern letztendlich aus Eifersuchtsmotiven seine Geliebte umbringt.
Bei der zu analysierenden Szene 5 „Der Hauptmann. Woyzeck“ handelt es sich um einen Dialog zwischen Woyzeck und seinem Vorgesetzen, dem Hauptmann, während Woyzeck diesen rasiert. Die Gesprächsthemen beschränken sich auf die Ewigkeit, Moral und Tugend. Da es sich um ein offenes Drama handelt, ergibt die formale Einordnung innerhalb des Dramas wenig Sinn.
Es ist anzunehmen, dass schon beim ersten Lesen klare hierarchische Ordnungen deutlich werden und Woyzeck in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Hauptmann steht.
Zu Beginn des Dialoges der beiden Figuren weist der Hauptmann auf Woyzecks schnelles Arbeitstempo hin, das er als unangenehm empfindet, da er nicht weiß, was er mit zehn zusätzlichen Minuten anfangen solle. Im Folgenden philosophiert er über die Ewigkeit, die ihm Angst mache. Nachdem der Hauptmann Woyzeck demütigt indem er ihn auf seine fehlende Moral hinweist und Woyzecks uneheliches Kind anspricht, widerspricht Woyzeck ihm, indem er Gottes Barmherzigkeit zu indem unterstreicht. Woyzeck schildert das Leben armer Leute, woraufhin sein Gesprächspartner seine fehlende Tugend thematisiert. Woyzeck schildert seine Wünsche nach Hut, Uhr, anglaise und Tugend. Das Gespräch endet mit der Aussage des Hauptmannes, dass Woyzeck ein guter Mensch sei, der zu viel denkt.
Stark auffällig ist der Redeanteil der beiden Figuren innerhalb des Dialoges. Während der Hauptmann verhältnismäßig viel sagt, antwortet Woyzeck mit „Jawohl, Herr Hauptmann“ (S. 12, Z. 9, 19,28). Seine kurzen Antworten sollen Zustimmung ausdrücken und spiegeln seine unterwürfige Rolle wider. Des Weiteren reflektieren sie den Gehorsam und Drill, dem er als einfacher Soldat unterliegt. Es zeigt, dass Woyzeck seine dienende Position und Unterwürfigkeit stark verinnerlicht hat. Seine dienende Position wird auch während der Rasur erkennbar. Auch, dass er jeder möglichen Nebentätigkeit nachgeht, um zusätzliches Geld zu verdienen, wird hierdurch deutlich. Diese somit schon zu Anfang herrschende Diskrepanz1 zwischen Hauptmann und Woyzeck wird durch die monologähnlichen Gesprächsanteile des Hauptmanns deutlich. Er beklagt sich fortführend über Woyzecks Gehetztheit, ohne in Betracht zu ziehen, dass dies an Woyzecks zahlreichen Nebentätigkeiten, denen er nachkommen muss und somit sich hetzen muss, liegt. So fordert er Woyzeck zweimal zu langsameren Arbeiten auf (vgl. S. 12, Z. 1). Der Hauptmann weiß nichts mit seiner Zeit anzufangen und ist mit zehn zusätzlich freien Minuten, die ihn ganz schwindlig machen, überfordert (vgl. S. 12, Z. 2-5). Das Leben des Hauptmannes besteht somit aus einzig großen Langeweile. Dass er mit Woyzecks Situation nicht annähernd vertraut ist, zeigt sein Leben, das sich auf feste, überschaubare Strukturen und Konzentration auf das Eigene beschränkt. Dass Woyzeck sich die Zeit einteilen solle und er nicht weiß, was er mit der ungeheuren Zeit anfangen soll (vgl. S. 12, Z. 7 ff.), zeigt die Absurdität des Ganzen. Obwohl dies nicht Woyzecks Situation entspricht, widerspricht er dem Hauptmann nicht, weil er es auch nicht darf. Der Hauptmann philosophiert auf dümmliche Art und Weise über die Ewigkeit. Sie mache ihm Angst und er sieht einen Ausweg in der Beschäftigung, was nochmals sein mangelndes Wissen über seine Mitmenschen zeigt. Tautologisch2 definiert er Ewigkeit mit der Aussage „[e]wig, das ist ewig, das ist ewig“ (S. 12, Z. 12). Seine leeren Worthülsen zeigen, dass er doch selbst keine Ahnung hat und sich nur wichtigmacht, um seine gesellschaftliche Überlegenheit zu demonstrieren.
Dies wird auch darin bestätigt, als er die Erdumdrehung als Zeitverschwendung bezeichnet (vgl. S. 12, Z. 15 ff.). Dass er kein Mühlrad mehr sehen könne, da er sonst melancholisch wird (vgl. S. 12, Z. 17 ff.), zeigt nochmal, dass der Hauptmann nichts mit seiner Zeit anzufangen weiß, ein ewiger Kreislauf bestimmt sein Leben. Die Metapher3 des Mühlrads (ebd.) zeigt deutlich seine Ängste und Wünsche zugleich, welche durch die Angst vor der Ewigkeit, ein ironischer Scheinwiderspruch angesichts der Gegenüberstellung der beiden Figuren und das Festhalten an alten Strukturen, beschrieben ist. Für den Hauptmann ist das „gute, alte Leben“ die Vollkommenheit, denn er spiegelt ein privilegiertes Leben wider, in das er hineingeboren wurde und plötzliche Änderungen würden dieses gefährden. Aus diesem Grund spricht er vom langsamen Handeln. Mögliche Ängste oder Unzufriedenheit projiziert er auf Woyzeck, indem er ihn als nicht guten Menschen mit schlechtem Gewissen bezeichnet (vgl. S. 12, Z. 21 ff.). Der Hauptmann führt Woyzecks angebliches schlechtes Gewissen auf sein gehetztes Wesen zurück (vgl. S. 12, Z. 20 ff.). Auf die Frage, wie das Wetter heute sei, antwortet Woyzeck „schlimm, Herr Hauptmann, schlimm; Wind“ (S. 12, Z. 24). Woyzecks elliptische Syntax, teils mit Grammatikfehlern zeigt seine Unterwürfigkeit als dienende Person, weil er kurz und knapp mit respektvollen Formulierungen wie „Herr Hauptmann“ antwortet. Um Woyzeck weiter zu erniedrigen, sagt der Hauptmann pfiffig, etwas käme aus Süd-Nord (vgl. S. 12, Z. 27), woraufhin Woyzeck unterwürfig wie immer mit „Jawohl, Herr Hauptmann“ (S. 12, Z. 18) antwortet. Der Hauptmann lacht ihn aus und bezeichnet ihn als „dumm, ganz abscheulich dumm“ (S. 12, Z. 30). Gleichzeitig bezeichnet er ihn als guten Menschen (vgl. S. 12, Z. 31). Dies wiederholt er (ebd.), als ob er sich selbst von seinen Worten überzeugen muss. Woyzeck sei zwar dumm, aber ein guter Mensch, denn dumme Menschen stellen für den Hauptmann keine Gefahr dar, weil sie sich nicht widersetzen, sondern gehorchen. Trotzdem erniedrigt und demütigt er Woyzeck weiter, indem er ihn auf seine fehlende Moral verweist (vgl. S. 12, Z. 32). Um sich weiter von ihm abzugrenzen und seine Überlegenheit zu demonstrieren, tut er dies mit einem würdevollen Ton. Seine Überheblichkeit findet sich in seinen sinnfreien Erklärungen wider. Die Tautologie „Moral, das ist, wenn man moralisch ist“ (S. 12, Z. 32 ff.) zeigt, dass der Hauptmann auch von Moral keine Ahnung hat und nicht fähig ist, diese adäquat zu definieren. Er versucht Woyzecks Wesen weiter zu erniedrigen und begründet Woyzecks amoralisches Verhalten mit seinem unehelichen Kind, dem der kirchliche Segen fehle (vgl. S. 12, Z. 34).
Interessant ist, dass Moral für den Hauptmann eine Ansammlung verschiedener Verhaltensregeln ist, die er ohne nachzudenken zu erfüllen versucht und die für ihn keinen begründeten Inhalt haben. Woyzeck antwortet sinnscharf und verteidigt si h durch das Zitieren der Bibel „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ (S. 13, Z. 3 ff.). Ebenso argumentiert er, dass der liebe Gott den armen Wurm nicht drum ansehe „ob das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde.“ (S. 13, Z. 2 ff.). Das erste Mal verteidigt er sich, da der Hauptmann nicht nur Woyzeck niedermacht, sondern auch seinen Sohn. So spricht Woyzeck in klaren hypotaktischen Sätzen und bleibt trotzdem höflich und respektvoll. Er verfügt nicht nur über Bibelkenntnisse, sondern verfügt über Verständnis und ist sogar fähig, sein Wissen korrekt einzuordnen. Der Hauptmann, der mit einer solchen Reaktion nicht rechnet, zeigt sich verständnislos. Er geht nicht im Entferntesten auf ihn ein und ist schlichtweg mit Woyzecks gut argumentierter Schlagfertigkeit überfordert, was durch seine Worte „Was sagt ER da? Was ist das für ne kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus mit seiner Antwort“ (S. 13, Z. 5 ff.) deutlich wird. Obwohl der Hauptmann nicht auf Woyzeck eingeht und ihn zu verstecken mag, führt Woyzeck seinen Punkt weiter aus. Woyzeck erkennt seine ausweglose Situation und begründet sein Verhalten mit armen Verhältnissen und fehlendem Geld (vgl. S. 13, Z. 8 ff.).
Diese Ausweglosigkeit bringt er bildlich mit der Metapher „wenn wir [die Armen] in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.“ (S. 13, Z. 12 ff.) zum Ausdruck. Sie beschreibt, dass die Armen ewig dienen und zeigt, dass Woyzeck diese Benachteiligung erkennt. Des Weiteren verteidigt Woyzeck seine Taten mit den Worten, man hätte auch „sein Fleisch und Blut“ (S. 13, Z. 10 ff.). Er impliziert damit, dass besonders die armen Menschen von natürlichen Trieben geleitet sind, wie beispielsweise dem Sexualtrieb, sodass mitunter ein uneheliches Kind gezeugt wird. Der Hauptmann erniedrigt Woyzeck weiter mit der Aussage, er hätte keine Tugend (vgl. S. 13, Z. 14). Er scheint Woyzecks Punkt betreffend Fleisch und Blut nicht zu verstehen, denn durch einen absurden Vergleich wird der charakterliche Unterschied der beiden deutlich. Er habe auch Fleisch und Blut, jedoch scheint es sich bei ihm nicht um einen Instinkt zu handeln, sondern um Liebe, die ihm kommt, wenn es geregnet hat und er den weißen Strümpfen nachsieht, wie sie über die Gassen springen (vgl. S. 13, Z. 15-19). Somit grenzt er sich stark von Woyzeck ab, da er sich für etwas Besseres hält, weil er seine Triebe unter Kontrolle hat. Dies wird besonders deutlich, dass er sich selbst für einen tugendhaften und guten Menschen hält und dabei sehr gerührt von sich selbst scheint (vgl. S. 13, Z. 20-22). Woyzeck entgegnet ihm mit einer Argumentation, die auf Basis der Natur der armen Menschen basiert (vgl. S. 13, Z. 25). Er äußert seine Wünsche, die gesellschaftliche Anerkennung implizieren, wie zum Beispiel dass er gerne Herr mit Hut, Uhr und anglaise wäre (vgl. S. 13, Z. 26). Woyzeck sehnt sich nach Vornehmheit und Tugendhaftigkeit (vgl. S. 13, Z. 27), aber die äußeren Umstände verwehren ihm dies, was er durch die Aussage „Aber ich bin ein armer Kerl“ (S. 13, Z. 29) zum Ausdruck bringt. Somit ist für Woyzeck die Natur der Armen ausschlaggebendes Handlungsmotiv und Tugend und Moral stehen unmittelbar im Zusammenhang mit der finanziellen Lage der einzelnen Menschen. Nach seiner Auffassung ist die Tugendhaftigkeit somit nur für Privilegierte, dem Wohlstand, was aber dennoch ein anzustrebendes Ziel ist, was sich nun aber nicht jeder leisten kann. Ob der Hauptmann Woyzeck versteht, bleibt offen, denn er geht nicht auf ihn ein und sagt stattdessen, er sei ein guter Mensch (vgl. S. 13; z. 30 ff.). Woyzecks tiefgründigen Inhalt betitelt er mit der Aussage „Aber du denkst zu viel, das zehrt, du siehst immer so verhetzt aus“ (S. 13, Z. 31 ff.). Das Gespräch endet mit der Aussage des Hauptmannes, Woyzeck solle nicht so rennen uns stattdessen sich im langsamen Gang fortbewegen (vgl. S. 13, Z. 33 ff.)
Auffällig ist, dass der Hauptmann durch seinen Stand zwar gebildet sein müsste, er aber nur leere Worthülsen von sich gibt und im Allgemeinen geistig oberflächlich wirkt. Er wiederholt oft seine Aussagen, als wolle er ihnen Mehr Gewichtung schenken. Woyzeck hingegen hat Probleme sich zu artikulieren, obwohl sein Inhalt tiefgründig und durchdacht ist. Sein Satzbau ist elliptisch, kurz und durcheinander mit oft falscher Grammatik aufgebaut. Um seine Gedanken besser auszudrücken, benutzt er sprachliche Bilder und Bibel Zitate. Der Redeanteil des Hauptmannes ist wesentlich größer und seine Ausdrucksweise klingt vornehm und gebildet, auch wenn er selbst nicht genau weiß, wovon er gerade redet. Auffällig ist, dass er Woyzeck kaum beachtet und der Dialog von seiner Seite aus wie ein Selbstgespräch wirkt. Er spricht Woyzeck stets in der dritten Person an, was distanzierend ist und eine hierarchische Ordnung widerspiegelt.
Die zu anfangs erfolgte Deutungshypothese ist zu verifizieren. Woyzeck ist dem Hauptmann unterwürfig und zeigt dies auch in seiner Formulierungsweise und seinem Redeanteil. Der Hauptmann hält sich für überlegen und demütigt Woyzeck demonstrativ. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass der Hauptmann eine (komplette) Gesellschaftsschicht vertritt, die in ihrer Hierarchie der von Woyzeck als Mitglied der untersten gesellschaftlichen Klasse, überlegen ist.