1. Drama: Urfaust, Kerker (1775)
Autor/in: Johann Wolfgang von GoetheEpoche: Weimarer Klassik
Strophen: 45, Verse: 53
Verse pro Strophe: 1-1, 2-7, 3-1, 4-2, 5-1, 6-1, 7-1, 8-1, 9-1, 10-1, 11-1, 12-2, 13-1, 14-1, 15-1, 16-1, 17-1, 18-1, 19-1, 20-1, 21-1, 22-1, 23-1, 24-1, 25-1, 26-1, 27-1, 28-1, 29-1, 30-1, 31-1, 32-1, 33-1, 34-1, 35-1, 36-1, 37-1, 38-1, 39-1, 40-1, 41-1, 42-1, 43-1, 44-1, 45-1
FAUST (mit einem Bund Schlüssel und einer Lampe an einem eisernen Türchen). Es fasst mich längst verwohnter Schauer. Inneres Grauen der Menschheit. Hier! Hier! - Auf! - Dein Zagen zögert den Tod heran! | ||
(Er fasst das Schloss, es singt innwendig) | ||
Meine Mutter die Hur, | ||
Die mich umgebracht hat! | ||
Mein Vater, der Schelm, | ||
Hub auf die Bein | ||
An einen kühlen Ort, | ||
Da ward ich ein schönes Waldvögelein, | ||
Fliege fort! Fliege fort! | ||
FAUST (zittert, wanckt, ermannt sich und schliesst auf, er hört die Ketten klirren und das Stroh rauschen). | ||
MARGARETHE (sich verbergend auf ihrem Lager). | ||
Weh! Weh! sie kommen. Bittrer Todt! | ||
FAUST (leise). Still! Ich komme dich zu befrein. | ||
(Erfasst ihre Ketten, sie aufzuschliessen) | ||
MARGARETHE (wehrend). Weg! Um Mitternacht! Henker ist dirs morgen frühe nicht zeitig gnug? | ||
FAUST. Lass! | ||
MARGARETHE (wälzt sich vor ihn hin). Erbarme dich mein und lass mich leben! Ich bin so iung, so iung, und war schön und bin ein armes iunges Mädchen. Sieh nur einmal die Blumen an, sieh nur einmal die Kron! Erbarme dich mein! Was hab ich dir getan? Hab dich mein Tage nicht gesehn. | ||
FAUST. Sie verirrt und ich vermags nicht. | ||
MARGARETHE. Sieh das Kind! Muss ichs doch träncken. Da hatt ichs eben! Da! Ich habs getränkt! Sie nahmen mirs, und sagen, ich hab es umgebracht, und singen Liedcher auf mich! - Es ist nicht wahr - es ist ein Märchen, das sich so endigt, es ist nicht auf mich, dass sies singen. | ||
FAUST (der sich zu ihr hinwirft). Gretchen! | ||
MARGARETHE (die sich aufreist). | ||
Wo ist er? Ich hab ihn rufen hören! er rief: Gretchen! Er rief mir! Wo ist er? Ach, durch all das Heulen und Zähnklappen erkenn ich ihn, er ruft mir: Gretchen! (sich vor ihm niederwerfend). Mann! Mann! Gib mir ihn, schaff mir ihn! Wo ist er? | ||
FAUST (er fasst sie wütend um den Hals). Meine Liebe! Meine Liebe! | ||
MARGARETHE (sinkt, ihr Haupt in seinen Schoß verbergend). | ||
FAUST. Auf meine Liebe! Dein Mörder wird dein Befreier. Auf! -- (Er schließt über ihrer Betäubung die Armkette auf). Komm, wir entgehen dem schröcklichen Schicksal. | ||
MARGARETHE (angelehnt). Küsse mich! Küsse mich! | ||
FAUST. Tausendmal! Nur eile, Gretchen, eile! | ||
MARGARETHE. Küsse mich! Kannst du nicht mehr küssen? Wie! Was! Bist mein Heinrich und hasts Küssen verlernt! Wie sonst ein ganzer Himmel mit deiner Umarmung gewaltig über mich eindrang! Wie du küsstest, als wolltest du mich in wollüstigem Tod ersticken! Heinrich, küsse mich, sonst küss ich dich (sie fällt ihn an) Weh! deine Lippen sind kalt! Tod! Antworten nicht! | ||
FAUST. Folge mir, ich herze dich mit tausendfacher Glut. Nur folge mir! | ||
MARGARETHE (sie setzt sich und bleibt eine Zeit lang stille). Heinrich, bist dus? | ||
FAUST. Ich bins, komm mit! | ||
MARGARETHE. Ich begreifs nicht! Du? Die Fesseln los! Befreist mich. Wen befreist du? Weist du's? | ||
FAUST. Komm! Komm! | ||
MARGARETHE. Meine Mutter hab ich umgebracht! Mein Kind hab ich ertränkt. Dein Kind! Heinrich! - Großer Gott im Himmel, soll das kein Traum sein! Deine Hand, Heinrich! - Sie ist feucht - Wische sie ab, ich bitte dich! Es ist Blut dran! - Stecke den Degen ein! Mein Kopf ist verrückt. | ||
FAUST. Du bringst mich um. | ||
MARGARETHE. Nein du sollst überbleiben, überbleiben von allen. Wer sorgte für die Gräber? So in eine Reihe, ich bitte dich, neben die Mutter den Bruder da! Mich dahin und mein Kleines an die rechte Brust. Gib mir die Hand drauf, du bist mein Heinrich. | ||
FAUST (will sie weg ziehen). Fühlst du mich! Hörst du mich! komm ich bins! ich befreie dich! | ||
MARGARETHE. Da hinaus? | ||
FAUST. Freiheit! | ||
MARGARETHE. Da hinaus? Nicht um die Welt. Ist das Grab drauß, komm! Lauert der Tod! komm! Von hier ins ewige Ruhe Bett, weiter nicht einen Schritt. Ach Heinrich, könnt ich mit dir in alle Welt! | ||
FAUST. Der Kerker ist offen, säume nicht! | ||
MARGARETHE. Sie lauren auf mich an der Straße am Wald. | ||
FAUST. Hinaus! Hinaus! | ||
MARGARETHE. Ums Leben nicht! - Siehst dus zappeln? Rette den armen Wurm, er zappelt noch! - Fort! geschwind! Nur übern Steg, gerad in Wald hinein, links am Teich, wo die Planke steht! Fort! rette! rette! | ||
FAUST. Rette! Rette dich! | ||
MARGARETHE. Wären wir nur den Berg vorbei, da sitzt meine Mutter auf einem Stein und wackelt mit dem Kopf! Sie winkt nicht, sie nickt nicht, ihr Kopf ist ihr schwer. Sie sollt schlafen, dass wir könnten wachen und uns freuen beisammen. | ||
FAUST (ergreift sie und will sie wegtragen). | ||
MARGARETHE. Ich schreie laut, laut, dass alles erwacht! | ||
FAUST. Der Tag graut. O Liebchen! Liebchen! | ||
MARGARETHE. Tag! Es wird Tag! Der letzte Tag! der Hochzeit Tag! - Sags niemand, dass du die Nacht vorher bei Gretchen warst. - Mein Kränzchen! - Wir sehn uns wieder! - Hörst du, die Bürger schlürpfen nur über die Gassen! Hörst du? Kein lautes Wort. Die Glocke ruft! - Krack, das Stächgen bricht! Es zuckt in jedem Nacken die Schärfe, die nach meinem zuckt! - Die Glocke hör! | ||
MEPHISTOPHELES (erscheint). Auf! oder ihr seid verloren! meine Pferde schaudern, der Morgen dämmert auf. | ||
MARGARETHE. Der! der! Lass ihn, schick ihn fort! der will mich! Nein! Nein! Gericht Gottes, komm über mich, dein bin ich! rette mich! Nimmer, nimmermehr! Auf ewig lebe wohl! Leb wohl, Heinrich! | ||
FAUST (sie umfassend). Ich lasse dich nicht! | ||
MARGARETHE. Ihr heiligen Engel, bewahret meine Seele! - mir grauts vor dir, Heinrich! | ||
MEPHISTOPHELES. Sie ist gerichtet! (Er verschwindet mit Faust, die Türe rasselt zu. Man hört verhallend:) Heinrich! Heinrich! |