Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Der Gott der Stadt“ wurde 1910 von Georg Heym (1887-1912) verfasst und handelt einem Abgott, der eine Stadt verwüstet bzw. die sich selbst verwüstet.
In der Epoche des Expressionismus verfasst, bekommen dabei vor allem die negativen Gefühle der Dichter dieser Epoche gegenüber der modernen Stadt Ausdruck.
Das Gedicht besteht aus fünf Strophen mit jeweils vier Versen, es ist in einem durchgehenden Kreuzreim verfasst (vgl. z. B. V. 1-4), jeder Vers setzt sich aus einem fünfhebigen Jambus mit männlichen Kadenzen1 zusammen (vgl. z. B. V. 5-8) mit Ausnahme der Verse 13 und 15, in denen eine Silbe mehr vorhanden ist, die allerdings unbetont ist. Diese strenge Form wird nur durch zwei Enjambements2 in den Versen 3 und 4 und 18 und 19 gestört, ansonsten wird ein einheitlicher Lesefluss erzeugt. Dies ist typisch für den Expressionismus; eine strenge, durchstrukturierte Form passt auf den ersten Blick nicht zum bewegten Inhalt, allerdings wird dieser Kontrast absichtlich erzeugt, um den Inhalt stärker hervorzuheben.
Im gesamten Gedicht ist eine Art Klimax3 von der ersten bis zur letzten Strophe zu beobachten:
Zu Beginn wird eine spannungsgeladene Ruhe, die eine bedrohliche Wirkung hat, durch die Verwendung des Pronomens „Er“ (V. 1) erzeugt. Der Leser ahnt bereits, dass dieser Er eine große, mächtige Gestalt sein muss, da er durch das - ungewöhnlicher Weise als Adverb gebrauchte – „breit“ und „auf einem Häuserblocke sitz(..)(end)“ (V. 1) näher beschrieben wird. Durch das ganze Gedicht zieht sich eine Bildhaftigkeit, die schon in Vers 2 beginnt: Um die Stirn des „Er“ lagern sich dunkle Winde (vgl. V. 2), eine für den Expressionismus typische ungewohnte Wortkombination, die das Bildhafte ergänzt. Dieser Wind könnte hier als eine Art Heiligenschein in negativer, bzw. abgöttischer Ausführung aufgefasst werden, was dazu führt, dass die noch unbekannte Figur genauer beschrieben wird. Die schon angesprochene Bildhaftigkeit setzt sich nun weiter fort, der noch nicht bekannte Gott bzw. Abgott, wie am Titel klar wird, sitzt also mächtig inmitten einer Stadt und die schon angesprochene Ruhe vor dem Sturm wird erkenntlicher, als die Beschreibung weitergeht: „Er“ (V. 1) scheint wütend zu sein auf die Häuser, die sich außerhalb seines Gebiets oder der Stadt befinden (vgl. V. 3&4). In der zweiten Strophe wird dann die schon stark angedeutete Übermacht benannt: Der Gott „Baal“ (V. 5), der wie später klar wird, eine Metapher darstellt, thront in der Abendsonne (vgl. V. 5), womit auch die Tageszeit zu der das Gedicht beginnt, klar wird; ihm liegen die Städte zu Füßen, verdeutlicht durch die Personifikation4 in Vers 6, und er wird von „Kirchenglocken“ (V. 7) beläutet (vgl. V. 7f). Außerdem wird durch die doppelte Hyperbel5 („ungeheure Zahl“ (V. 7) & „Turm(...) Meer“ (V. 8)) und gleichzeitige Metapher („Turm(...) Meer“ (V. 8)) eine Großstadt benannt, die Ort des Geschehens ist.
Die anfangs benannte Klimax steigert sich in Strophe 3 weiter und auch der Großstadt wird mehr bzw. deutlicher Ausdruck verliehen. Das Leben in der Stadt ist pulsierend, was durch den Vergleich der vielen Musik/Geräusche mit einem religiösen, wilden Tanz (vgl. V. 9&10) verdeutlicht wird. Neben den vielen Tönen in der Stadt werden allerdings auch die Zeichen der Industrialisierung, der „Rauch (...) der Fabrik“ (V. 11), benannt, die ebenfalls mit etwas Religiösem, nämlich einer Opfergabe verglichen werden (vgl. V. 12). Insgesamt beschreibt die Strophe 3 also das Leben in der Großstadt als religiösen Ritus für den „Gott der Stadt“ (Titel). Scheinbar haben die Opfergaben jedoch nichts genützt und durch weitere ungewöhnliche Wortkombinationen (vgl. V. 15), Metaphern6 (vgl. V. 13&16) und einen Vergleich (vgl. V. 15) in Strophe 4 wird der Zorn des Gottes ausgedrückt, der vor Wut ein Unwetter heraufbeschwört (vgl. V. 13ff).
In der fünften und letzten Strophe kommt dann der Höhepunkt der Klimax. Nach dem Unwetter, was inzwischen aus dem Abend Nacht gemacht hat (vgl. V. 14) findet die Katastrophe statt. Die Allegorie7 „Er streckt ins Dunkle seine Fleischerfaust“ (V. 17) zeigt den Zorn des Baals, der mithilfe dieser „Fleischerfaust“ (V. 17) ein Flammenmeer (durch eine Metapher ausgedrückt, vgl. V. 18) hinunter in „eine Straße“ (V. 19) schickt, das bis in die Morgenstunden in der Stadt wütet (vgl. V. 19&20). Mit diesen letzten Worten wird für die Interpretation etwas sehr deutlich: Durch die Beschreibung eines Prozesses vom Abend bis zum Morgen (vgl. V. 5&20) kann davon ausgegangen werden, dass es sich hier um einen Kreislauf bzw. Teufelskreis handelt: Am Abend herrscht der Baal, die Menschen können tun, was sie wollen, der jähzornige Gott verwüstet die Stadt nachts und erst der Morgen steht für einen Neuanfang. Doch den Menschen fehlt die Einsicht, dass sie einem solchen Abgott dienen, was daran erkannt werden kann, dass sie ihm jeden Tag aufs Neue Opfergaben machen (vgl. V. 6-12). Damit spricht Heym ein für den Expressionismus essenzielles Thema an: Geprägt von den Folgen der noch nicht beendeten Industrialisierung wird Kritik an den Menschen geübt, bzw. der Verfall der Menschheit angeprangert.
Obwohl Religion im Expressionismus kaum Bedeutung hat, da die Denker dieser Zeit nicht von einer überirdischen Macht ausgingen und dies paradox erscheinen mag, da Heyms „Der Gott der Stadt“ eines der typischsten expressionistischen Gedichte ist, trifft dies doch zu. Heyms Gott ist kein christlicher Gott, sondern eher ein Abgott, wie in der Analyse verdeutlicht wurde. Es wird also weiterhin bezweifelt, dass es gute Götter gibt und jegliche Hoffnung wird durch einen solchen Gott zerstört. Diese Hoffnungslosigkeit wollte man im Expressionismus deutlich zeigen. Dieser Abgott dient hier vielmehr als Metapher oder Stellvertreter für die Auswirkungen von menschlichem Großstadtleben: Zerstörung der Natur und der eigenen Naturverbundenheit, Lärm, Reizüberflutung. Dadurch ist auch die bereits angesprochene Wut des Baals darüber, dass sich die entfernten Häuser auf dem Land seinem Gebiet entziehen, zu erklären. Außerhalb der Großstadt herrscht noch Einklang mit der Natur und den Menschen, das Leben ist noch ruhig und friedlich.
Insgesamt werden im vorliegenden Gedicht also typische, ablehnende Gefühle der Expressionisten gegenüber der Großstadt und dafür stellvertretend der Industrialisierung deutlich, die sowohl formal als auch inhaltlich verdeutlicht werden.
Um im Folgenden das Gedicht „In Danzig“ von Joseph von Eichendorf mit dem bereits analysierten Gedicht „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym vergleichen zu können, muss dieses zunächst eingeordnet werden. „In Danzig“ wurde 1842 von Joseph von Eichendorf verfasst und handelt von einem impliziten, lyrischen Ich, was sich die Stadt als Traumwelt ausmalt. Das Gedicht besteht aus vier Strophen mit jeweils vier Versen, einem leicht ungenauen Trochäus und durchgehendem Kreuzreim, wie es schon bei Heym der Fall ist. Ebenfalls wie bei Georg Heyms Gedicht erzeugt diese strenge Form Lesefluss, im Gegensatz zu „Der Gott der Stadt“ widerspricht allerdings hier die ruhige, gleichmäßige nicht dem Inhalt, was typisch für die Romantik ist: Harmonieerzeugung.
Eine auffällige Gemeinsamkeit der Gedichte ist die bildhafte Sprache. Sowohl im Expressionismus als auch in der Romantik ist es üblich, das zu Sagende anhand von Bildern, bisweilen auch durch Synästhesien8 oder Lautmalereien (vgl. „In Danzig“: V. 11). Bei Heym wird die Ablehnung der Großstadt und der allgemeinen menschlichen Einstellung zur Großstadt durch das Bild des Abgottes, der die Stadt verwüstet, verdeutlicht aber auch durch viele einzelne Metaphern. Bei Eichendorf zeigen ebenso Vergleiche (vgl. V. 3&7) oder genaue Beschreibungen der Szenerie die Schönheit der in der Ferne liegenden Stadt. Hier fällt dann der gravierendste Unterschied auf: Ähnlich bildhafte Sprache drückt eine völlig andere Einstellung zur Stadt aus: Während Heym seine Ablehnung von Großstädten allgemein verdeutlicht, wird bei Eichendorf schon durch die konkrete Benennung einer historischen, schmuckhaften Stadt im Titel klar, dass diese Stadt hier positiv eine Sehnsucht ist (vgl. Titel).
In „Der Gott der Stadt“ werden über das gesamte Gedicht hinweg nur negative Verben, Adjektive und Adverben verwendet (vgl. z. B.: „schwarz“ (V. 2), „dröh(...)en“ (vgl. V. 9), „betäub(...)en“ (V. 14)). Bei Eichendorf hingegen sind die einzigen Wörter, die zunächst negativ erscheinen, „Bleiche Statuen wie Gespenster“ (V. 3), die allerdings nichts Schlechtes beschreiben: Vielmehr sind sie Ausdruck für die räumliche Entfernung des lyrischen Ichs von der Stadt, auf die es von oben hinunter blickt, sowie für die Realitätsentfernung, die Statuen könnten Versteinerungen in der unten liegenden „Märchenwelt“ (V. 8) sein. Ansonsten ist die Stadt in „In Danzig“ eine „träumerische(e)“ (V. 5) und „zauberhafte(e)“ Welt, in der alle friedlich schlafen (vgl. V. 9). Stadt und Menschen sind im Einklang mit der Natur (vgl. V. 11&12) und diese stille, „wunderbare Einsamkeit (...)“ (V. 12) in der Stadt gefällt augenscheinlich nicht nur dem Mond (vgl. V. 5f). Durchweg ist die Stadt also ein schöner Traum für das lyrische Ich und – ebenfalls anders als bei Heym – auch die göttliche Beziehung ist eine gute, wenn Gott darum gebeten wird diesen vorherrschenden Frieden zu bewahren (vgl. V. 15f).
Um den Aspekt Stadt herum wird in den beiden Gedichten also eine sehr unterschiedliche Position eingenommen, die durch die knapp 70 Jahre, die zwischen der Entstehung liegen, zu erklären sind. Das expressionistische Gedicht Heyms liegt nach bzw. während der Industrialisierung, das romantische Gedicht Eichendorfs davor. Dir Industrialisierung veränderte das Bild der Städte maßgeblich, sie brachte Lärm und Umweltverschmutzung, Unruhe und Hektik, wodurch die negativen Gefühle der Expressionisten zu erklären sind.
Für die Romantiker standen Träume und Fernweh, Sehnsucht im Vordergrund, der Wille zur Verbindung von Gefühlswelt und Rationalität. Die Städte waren natürlich vor der Industrialisierung auch schon belebter als das Land, allerdings waren Natur und Menschen – zumindest für die Romantiker – noch im Einklang, außerdem expandierten die Städte eben auch durch die Industrialisierung. Insgesamt gibt es, neben dem gleichen Thema, der Stadt, also durchaus Ähnlichkeiten in den beiden vorliegenden Gedichten, allerdings überwiegen die Unterschiede gravierend, vor allem durch die verschiedene Auffassung zur Großstadt, geprägt von den historischen Unterschieden.
Stellungnahme – Moderne Stadtgedichte des 21. Jhd.
Wie zuvor dargestellt könnte die Meinung zur Stadt unterschiedlicher als in den beiden verglichenen Gedichten kaum sein. Heutzutage, im 21. Jahrhundert, ist nicht nur die Industrialisierung zumindest in der westlichen Welt schon abgeschlossen, sondern auch die Technisierung nimmt immer gewaltiger ihren Lauf. Daraus zu schließen, dass die Entwicklungstendenz von Eichendorf zu Heym, von guter Ansicht zu Ablehnung, weitergeführt werden müsste, wäre allerdings falsch. Städte heute sind weder rein positive Traumwelten, noch grausame und schreckliche Orte der Verwüstung. Vielmehr sind die meisten größeren Städte heute eine Kombination von Modernität, Technik und Industrie auf der einen und von friedlicher, natürlicher aber auch architektonischer Schönheit auf der anderen Seite, jedenfalls in vielen Teilen. Außerdem gibt es nicht mehr nur eine simple Unterteilung in Großstadt und Landleben, wie es bisweilen während der Industrialisierung der Fall war, sondern deutlich mehr Größenunterteilungen, sodass es auf die subjektive Meinung ankommt, was einem zu groß erscheint oder zu klein. Andererseits ist vieles auch gleich geblieben, Städte sind laut, teils stark verdreckt und Umweltverschmutzung ist ein aktuelles Thema. Die Gedichte heutzutage werden daher deutlich verschiedener ausfallen, wenn sie vom Aspekt Stadt handeln, da es schlichtweg eine enorme Vielfalt von aufzunehmenden Erfahrungen gibt, wobei man sich entweder auf die negative oder die positive, natürlich aber auch auf eine neutrale Seite stellen kann und als Beobachter alle Eindrücke in Form von modernen Formen der Lyrik, zum Beispiel dem „poetry slam“, festhalten kann.
Es ist also zu sagen, dass es nicht nur eine Möglichkeit gibt, wie heutzutage das Thema Stadt in Gedichten verarbeitet werden kann und dass sowohl romantische Traditionen genauso aber auch expressionistische Elemente die modernen Gedichte prägen können und es mehr als nur eine denkbare Entwicklungstendenz gibt.