Autor/in: Georg Heym Epoche: Expressionismus Strophen: 5, Verse: 20 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-4, 4-4, 5-4
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.
Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knien um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.
Wie Korybanten-Tanz1 dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.
Das Wetter schwält2 in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.
Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt.
Anmerkungen
1
Wild, rituell und ekstatisch tanzende Priester der Göttin Kybele.
2
schwelt; langsam, ohne Flamme verbrennend
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In seinem in den Jahren 1910 und 1911 entstandenen Gedicht „Der Gott der Stadt“ setzt sich Georg Heym mit der dunklen Seite der Stadt auseinander, die durch den „Gott der Stadt“ symbolisiert wird. Im Gedicht geht um den Gott der Stadt, Baal, der vom Dach eines Häuserblockes aus eine Stadt bei Nacht beobachtet und im Morgengrauen eine Straße durch Feuer verbrennen lässt.
Das Gedicht, welches aus fünf Strophen zu jeweils vier Versen besteht, lässt sich in zwei Sinnabschnitte gliedern. Von der ersten bis zur dritten Strophe werden die Position und die Eindrücke des Baals, die aus der Stadt kommen, beschrieben. Die Strophen vier bis fünf handeln von seiner Reaktion darauf, nämlich Zorn und daraufhin die Vernichtung einer Straße durch Feuer.
Sowohl Reimschema als auch Versmaß des Gedichtes sind regelmäßig, es liegt ein Kreuzreim und ein fünfhebiger Jambus vor. Der regelmäßige Fluss des Gedichtes wird durch die Kadenzen1 unterstützt, die mit Ausnahme der Zeilen 13 und 15 männlich sind. Die Form gibt also einen gleichmäßigen Rhythmus vor, der als Verdeutlichung der akustischen Elemente im Gedicht verstanden werden kann. Diese wären zum einen das Läuten der „Kirchenglocken“ (V. 7), deren „ungeheure Zahl“ (V. 7) zu Baal „[auf]wogt“ (V. 8), zum anderen die „Musik der Millionen“ (V. 9f), die „wie Korybanten-Tanz“ (V. 9) durch die Stadt hallt.
Die Regelmäßigkeit, die das Gedicht dominiert, erzeugt beim Lauten Lesen einen einheitlichen Rhythmus, der ihm Schwere verleiht und es bedrohlich wirken lässt.
Interessant ist auch die Tatsache, dass die strenge und einheitliche Form des Gedichtes ihm Widerspruch zu seinem apokalyptisch anmutenden Inhalt steht. Denn inhaltlich dominiert hier nicht die Form, sondern das Chaos und die Unkontrollierbarkeit. Diese Diskrepanz2 zwischen Form und Inhalt hat die Funktion, den Leser zu verstören und verleiht dem Gedicht seinen eigenen, speziellen Charakter.
Der Eindruck von Größe und Bedrohlichkeit wird auch durch die sprachliche Gestaltung vermittelt. Allein durch die Wortwahl Heyms entsteht eine düstere Stimmung, die sich durch das gesamte Gedicht zieht. Zum einen geschieht dies durch die Verwendung von Substantiven und Adjektiven, die mit der Hölle assoziiert werden. Zu diesen gehören „Rauch“ (V. 11), das „Meer von Feuer“ (V. 18), welches durch die Stadt „jagt“ (V. 18) und der „Glutqualm“ (V. 19), der sich durch die Straßen bewegt.
Bilder von der Unterwelt werden auch durch die lebhaften Farben beschworen, die das Gedicht durchziehen. Mehrmals kommt die Farbe schwarz (vgl. V. 2, V. 8) und im Allgemeinen dunkel (vgl. V. 14, V. 17) vor. Der Bauch des Baals ist rot (vgl. V. 5), und auch die im Gedicht thematisierten Flammen sind orange beziehungsweise rot, auch wenn dies nicht direkt erwähnt wird (vgl. Strophe fünf). Die typischen Farben der Hölle sind schwarz und rot. Außerdem stehen Farben hier auch für die Apokalypse.
Sowohl durch die lebendige Farbigkeit als auch durch die Wortfelder „Feuer“ und „Rauch“ werden Assoziationen mit der Hölle und der Apokalypse hervorgerufen.
Parallel dazu kommen auch Begriffe aus dem Bereich der Religion und der Kulte vor. Der christlichen Religion kann man „Kirchenglocken“ (V. 7) und „Dunst von Weihrauch“ (V. 12) zuordnen. Der Gott Baal kann sowohl dem Judentum als auch dem Christentum zugeordnet werden. Während sein Name im alten Testament synonym für eine Reihe von Lokalgottheiten verwendet wird, würde er im Christentum zu einem Dämon.
Wegen dieser Tatsache als auch aufgrund dessen, dass Heym lediglich auf die „ungeheure Zahl“ (V. 7) der Glocken eingeht und Weihrauchdunst nur als Vergleich für die „Wolken der Fabrik“ (V. 11) verwendet, liegt der Schluss nahe, dass er die erwähnten religiösen Begriffe ironisch verwendet.
Denn an der Stadt, die im Gedicht beschrieben wird, ist nichts heilig. Ihre Musik wird mit dem Tanz der Korybanten verglichen, die in ekstatischen Riten Kybele, die griechische Göttin der Natur und Fruchtbarkeit, verehrten (vgl. V. 9f). Heidnische Götter haben also die Herrschaft über die Stadt und die Menschen, die in ihr leben, übernommen. Es macht also wie bereits erwähnt Sinn, die zerstörerischen Ereignisse am Ende des Gedichtes als Apokalypse zu deuten, da hier alles Bestehende untergeht.
Das Bestehen großer Gewalt wird auch durch die Emotionen des Baals vermittelt. Beim Anblick seiner Umgebung empfindet er „Wut“ (V. 3) und „Zorn“ (V. 16), was ihn dazu veranlasst, seine „Fleischerfaust“ (V. 17) zu „schüttel(…)[n]“ (V. 18) und einen Straßenzug zu verbrennen (vgl. Strophe fünf).
Durch die Wortwahl, die bedrohlich wirkt und einen Eindruck von Gewalt vermittelt, wird also eine Hölle oder Apokalypse heraufbeschworen.
Die zahlreichen Hyperbeln3 verstärken diesen Eindruck. Die Anzahl der Kirchen ist „ungeheu(…)er“ (V. 7) und der Masse der Häuser wird mit dem Ausdruck „schwarzer Türme Meer“ (V. 8) sehr bildhaft Ausdruck verliehen. Die Musik, die „laut“ (V. 10) durch die Straßen „dröhnt“ (V. 9) wird von „Millionen“ (V. 10) erzeugt. Durch diese übertriebene Darstellung wird die Stadt als riesenhaftes, unüberschaubares und unkontrollierbares Gebilde dargestellt, welches einem Außenstehenden großen Respekt einflößt. Dieses Gebilde Stadt erscheint umso unberechenbarer, als es durch Personifikationen4 als autonom5 fungierendes Wesen, was denkt und handelt, dargestellt wird. Ganze Häuser „knieen um (…) [den Baal] her“ (V. 6), wodurch gleichzeitig die alles übersteigende Größe des Baals betont wird. Die „letzten Häuser (…) verirrn“ (V. 4) sich in Richtung Land, was der Stadt beinahe menschliche Züge verleiht. Dies geht soweit, dass die Stadt geradezu aggressiv wirkt, denn „der Kirchenglocken ungeheure Zahl wogt auf zu (…) Baal“ (V. 8) und „die Wolken der Fabrik ziehn auf zu ihm“ (V. 11f). Diese Ausdrucksweise unterstellt der Stadt die Absicht, sich auszubreiten und weiteren Raum für sich einzunehmen. Auch die Kräfte der Natur werden personifiziert, „die Winde lagern schwarz um (…) [Baals] Stirn“ (V. 2) und „die Stürme flattern“ (V. 15) und blicken „wie Geier“ (V. 15). Ein „Meer von Flammen jagt durch eine Straße“ (V. 17f) und der „Glutqualm braust und frißt sie auf“ (V. 19f). Durch diese Personifikationen erscheinen die Naturgewalten als elementare und zerstörerische Kräfte, denen nichts Einhalt gebieten kann. Gleichzeitig wird nochmals die Größe und Allgewalt des Baals betont, indem er als Wettergott dargestellt wird (vgl. V. 13ff). Die Alliteration6 vom „rote[n] Bauch (…) Baal[s]“ (V. 5) und der Neologismus7 „Fleischerfaust“ (V. 17) setzen besondere Betonung auf die brachiale Gewalt, die von Baal ausgeht. Da er eine Gottheit ist, die Menschenopfer fordert, wirken diese Stilmittel besonders krass. Durch Vergleiche betont Heym außerdem die Listigkeit der Stürme („wie Geier“, V. 15) und die Form der Fabrikwolken („wie Dunst von Weihrauch“, V. 12).
In Bezug auf den Satzbau sind die zahlreichen Enjambements8 festzuhalten, die aber nie strophenübergreifend sind (vgl. V. 9, V. 11). Trotzdem sind die Sätze aber einfach und kurz und füllen häufig nur einen Vers (vgl. z. B. V. 13ff). Dadurch wirkt das Gedicht kurz und prägnant, es wird aber auch die Dynamik des Geschehens verdeutlicht.
Die Figur des Baals, des Gottes der Stadt ist Ausgangspunkt für die Interpretation des Gedichtes. Er steht symbolisch für die Normen und Werte, von denen die Stadt beherrscht wird. Baal oder Moloch war im alten Testament der Gott der phönizischen Stadt Tyros, der als böses, menschenopferndes Monster dargestellt wird. Das wird im Gedicht durch seine „Wut“ (V. 3) und seinen „Zorn“ (V. 16) verdeutlicht, außerdem durch die brutale Auslöschung eines Straßenzugs (vgl. Strophe fünf). Ist im Deutschen von „Gott“ die Rede, ist damit in der Regel der christliche Gott gemeint. Da Baal lediglich als „Gott der Stadt“ (Titel) bezeichnet wird, sein Herrschaftsbereich also nicht über die Stadt hinausgeht, liegt nahe, dass die Stadt für Heym ein gesonderter Bereich ist, in dem die üblichen Gesetze nicht herrschen. Dies kommt durch das Chaos in der Stadt deutlich zum Ausdruck. Die Stadt ist ein Ort der Entfesselung, sowohl in räumlicher als auch in sozialer Hinsicht. Äußerlich ist die Stadt durch Kirchtürme (vgl. V. 7) und Industrieanlagen (vgl. V. 11) gekennzeichnet, was diese bedrohlich erscheinen lässt. Symbolisch für die Sündhaftigkeit der Stadt steht die Nacht, denn alles im Gedicht beschriebene findet zwischen „Abend“ (V. 2) und „Morgen“ (V. 20) statt.
Kernstück für die Interpretation ist die letzte Strophe, in der „ein Meer von Feuer (…) durch eine Straße [jagt]“ und diese vom „Glutqualm“ (V. 19) aufgefressen wird. Dieses Feuer geht von Baal aus, wodurch dargestellt wird, dass die Stadt Opfer fordert. Zur Entstehungszeit des Gedichtes, anfangs des 20. Jahrhunderts entstanden, bedingt durch die industrielle Revolution drei Jahrzehnte zuvor, die ersten Millionenstädte in Deutschland. Die Gesellschaft war im Umbruch begriffen, und so entstanden Lebensformen, die man bis dahin nicht gekannt hatte. Der Traum vom angenehmen Leben und Wohlstand in der Stadt erfüllte sich damals für die wenigsten, die ihre ländliche Heimat verließen um in die großen Industriezentren, damals Berlin und das Ruhrgebiet, zu ziehen. Das Leben in den Städten war geprägt von Raum- und Wohnungsnot, so dass für viele die Straße zur Heimat wurde. Unqualifizierte Arbeitskräfte gab es damals im Überfluss, sodass Ausbeutung durch die Arbeitgeber Gang und Gäbe war. Das äußere Erscheinungsbild der Stadt war unansehnlich, dominiert von Industrieanlagen, Verkehr und Dreck (vgl. V. 11). Den Lärm, der dadurch erzeugt wurde, waren viele nicht gewohnt und sie litten darunter (vgl. V. 9f). So mussten die Menschen zu dieser Zeit erhebliche Opfer für das Leben in der Stadt bringen, was Georg Heym in „Der Gott der Stadt“ thematisiert. Die Stadt erscheint als sich unbändig ausbreitendes Gebilde und ihr Gott als wütendes, unbarmherziges Monster welches Menschenleben dahinrafft. Der Gott der Stadt ist also eigentlich ein Antigott, der das Gegenteil der christlich-abendländischen Wertevorstellungen vertritt. Durch Heyms Gedicht kommt die ganze Bandbreite der Bedrohung für den Menschen, die damals von der Stadt ausging, zum Ausdruck.
Die Verstädterung war eines der bedeutendsten Probleme der damaligen Zeit, denn viele Dichter des Expressionismus, unter ihnen auch Trakl und Lichtenstein, griffen dieses bedeutende Thema auf.
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