Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Das erste vorliegende expressionistische Gedicht „Blauer Abend in Berlin“ von Oskar Loerke (1884-1941) stammt aus dem Jahre 1911 und thematisiert das Leben in der Großstadt und dessen Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
Durch die Nutzung von Begriffen aus dem Wortfeld „Wasser“ als Beschreibung für verschiedene Aspekte des Stadtlebens verdeutlicht der Dichter die Vorherrschaft der Natur gegenüber den Menschen, welche nur einen Teil der Wasserlandschaft bilden und deshalb ihre Bedeutung als Individuen verlieren. Durch den Wechsel von Quartett zu Terzett wird außerdem der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft verdeutlicht.
In der ersten Strophe des Gedichts geht es zunächst um die Straßen in Berlin, welche mit Wasser gefüllten Kanälen entsprechen, in denen sich der Himmel spiegelt und Kuppeln von Gebäuden als aus dem Wasser rankende Bojen, Schlote und Pfähle dienen. In der nächsten Strophe werden die Schornsteindämpfe von Fabriken als Wasserpflanzen dargestellt und die Leben der Menschen thematisiert, welche sich am Meeresgrund befinden und vom Himmel erzählen. In der dritten Strophe werden erneut die auf dem Grund angesammelten Leben der Menschen aufgegriffen, die vom Willen und vom Verstand des Wassers entwirrt werden. In der letzten Strophe werden die Menschen mit Sand verglichen, der sich durch das Heben und Senken der Wellen bewegt und von einer Wellenhand kontrolliert wird, welche mit ihm spielt.
Das zu analysierende Gedicht kann formal in vier Strophen gegliedert werden. Es besteht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten und entspricht somit dem typischen Aufbau eines Sonetts. Im gesamten Gedicht setzt der Dichter als Metrum2 einen fünfhebigen Jambus ein, wobei er in den beiden Quartetten als Reimschema einen umarmenden Reim (abba) und in den beiden Terzetten nach dem Muster cdd Paarreime mit einem zusätzlichen Vers nutzt. In den Quartetten sind weibliche Kadenzen3 auszumachen, während in den Terzetten männliche Kadenzen auftauchen. Die ersten beiden Strophen und die letzten beiden Strophen werden durch einen Wechsel vom Quartett zum Terzett voneinander getrennt. Dies zeigt nicht nur einen formalen Wechsel, sondern auch einen inhaltlichen Wechsel an. In den Quartetten wird der Vergleich der Großstadt mit der Wasserlandschaft gezogen, während es in den Terzetten um die Rolle des Menschen in dieser Welt aus Wasser geht. Dieser Eindruck wird auch durch den Wechsel der Silbenanzahl von 11 auf 11 verdeutlicht. Des Weiteren stellt die sehr harmonische Form des klassischen Sonetts einen Kontrast zu dem gesellschafts- und industriekritischen Inhalt dar.
Im ersten Quartett ist der Beginn der sich durch das gesamte Gedicht hindurch ziehenden Wassermetaphorik zu erkennen. Die Straßen von Berlin werden als „zu Kanälen steilrecht ausgehauen“ (V. 2) beschrieben. Durch diese Formulierung werden die engen Lebensverhältnisse in der Großstadt deutlich gemacht, in der wie bei einem schmalen Kanal kaum Platz für den Einzelnen bleibt. Das Wasser, welches die Natur repräsentiert, wird als „Himmel“ (V. 1) bezeichnet, woran die positive Einstellung des Autors gegenüber ihr erkennbar ist. Die Straßen sind „voll vom Himmelblauen“ (V. 3), womit Gebäude und andere vom Menschen errichtete Bauwerke gemeint sind, welche die Natur eingrenzen und ihr ihren Lebensraum nehmen. Dies wird durch Aufzählung der Begriffe „Bojen, Schlote Pfählen“ (V. 4) verstärkt, welche in der Schifffahrt bestimmte Grenzen markieren und hier die Verdrängung der Natur darstellen. Auf das erste Quartett folgt ein Enjambement, welches dem Leser vor Augen führen soll, dass die Gebäude nicht nur „[i]m Wasser“ (V.5) Barrieren bilden, sondern dass diese auch im wahren Leben fernab der Metaphorik die Weltsicht der Großstadtbevölkerung einschränken. Durch die Formulierung „Schwarze Essendämpfe“ (V. 5) kritisiert der Dichter den Einfluss der Industrialisierung auf die Natur und die dadurch verursachte Umweltverschmutzung, da die Farbe schwarz allgemein mit sehr negativen Themen wie Tod und Trauer verbunden wird. Diese Dämpfe von Fabriken schränken die Sicht der Menschen auf den „Himmel“ (V. 1) noch weiter ein und nehmen ihnen die Möglichkeit, sich auf ihre Wurzeln zurückzubesinnen. Jedoch kann durch den Vergleich mit „Wasserpflanzen“ (V. 6) auch ein Bezug zu der wirtschaftlichen Relevanz von Fabriken hergestellt werden, welche genau wie Pflanzen, die lebensnotwendigen Sauerstoff liefern, den Menschen Wohlstand und Fortschritt beschert haben. Hier bezieht sich der Dichter erstmals auf das „Leben“ (V. 7), wobei nicht zwischen menschlichem und tierischem Leben differenziert wird. Der Mensch wird also als ein Teil der Natur angesehen, der „sacht vom Himmel [ ] erzähl[ ]“ (V. 8). Während im ersten Teil des zweiten Quartetts hauptsächlich der negative Aspekt des Großstadtlebens betrachtet wird, wird hier ein positiver Bezug zum Himmel hergestellt. Gleichzeitig wird aber auch davor gewarnt, dass der Himmel vor lauter Bauten bald nur noch in den Erzählungen der Menschen erhalten bleiben wird, welche sich freiweillig an den „Grund[ ]“ (V.7) begeben haben und somit für ihre Entfremdung von der Natur selbst verantwortlich sind. Ab dem ersten Terzett liegt der Hauptaugenmerk ausschließlich auf den Menschen, also den Bewohnern der Stadt. Der Mensch versucht auf rationale Weise mit seinem „Wille[n] und Verstand“ (V. 11) die Natur zu lenken, was ihm jedoch misslingt, da er sich ihrer Kraft wie jedes andere Lebewesen nicht entziehen kann. Er ist also von den auf synästhetische Art und Weise beschriebenen „blauen Melodien“ (V. 9) abhängig. Im letzten Terzett wird der Mensch mit „grobe[m] bunte[n] Sand“ verglichen, mit dem eine „große[] Wellenhand“ spielt, wodurch in Form einer Personifikation erneut seine Abhängigkeit von der Natur und eventuell sogar von einer höheren Macht verdeutlicht wird. Der Mensch gleicht hier einem winzig kleinen Sandkorn, welcher in den Menschenmassen der Großstadt unterzugehen scheint und anonym bleibt, sich jedoch auch an das „Dünen, Kommen, Gehen, Gleiten, Ziehen“ (V. 12) der Wellen, also den Gewohnheiten und Normen seiner Mitmenschen, anpassen muss, egal ob er dies möchte oder nicht.
Das zweite vorliegende expressionistische Gedicht „Die Stadt“ von Georg Heym (1887-1912) aus dem Jahre 1911 thematisiert das Leben in der Großstadt und dessen negative Konsequenzen, welche zu einem Weltuntergang führen.
Der pessimistische Inhalt des Gedichts wird durch Metaphern4 aus dem Wortfeld Körper sowie durch einen starken Kontrast zwischen der sehr harmonischen Sonettform und dem Inhalt, der auf schreckliche Weise den Verlust des individuellen Charakters jedes einzelnen Menschen verdeutlicht.
In der ersten Strophe wird das nächtliche Stadtbild in Form eines Weltuntergangsszenarios beschrieben. In der zweiten Strophe werden die Straßen der Großstadt mit einem Aderwerk verglichen, in dem Eintönigkeit und Stille herrschen. In der dritten Strophe wird das Elend thematisiert, welches gleichzeitig von Geburt und Tod geprägt ist. In der letzten Strophe wird schließlich der Ablauf des Weltuntergangs erläutert, bei dem ein Feuer die weitere Existenz der Erde bedroht.
Formal handelt es sich bei dem Gedicht um ein Sonett1, welches aus vier Strophen, die sich aus zwei Quartetten und zwei Terzetten zusammensetzen, gebildet wird. Das Metrum ist als ein fünfhebiger Jambus erkennbar, welcher durch stumpfe männliche Kadenzen geprägt ist. Das Reimschema besteht in den Quartetten aus umarmenden Reimen (abba und caac) und in den Terzetten aus Paarreimen mit einem zusätzlichen Vers (ddd und eee). Dieses sehr einheitliche Schema steht im Kontrast zu dem sehr pessimistischen und angsteinflößendem Inhalt des Gedichts.
Es werden hauptsächlich Metaphern benutzt, die sich aus dem Bereich „Körper“ stammen. Beispiele dafür sind die „tausend Fenster“ (V. 3), die „mit den Lidern [blinzeln]“ (V. 4), welche „rot und klein“ (V. 4) sind und der Vergleich der Straßen mit einem „Aderwerk“ (V. 5). In diesem Fall repräsentiert der menschliche Körper die Natur, deren Entfremdung kritisiert wird. Der Dichter nutzt Enjambements5 (vgl. V. 3-4), welche die Hektik in der Großstadt verdeutlichen und zeigt durch das Paradoxon6 zwischen „[e]intönig“ (V. 8) und „Stille“ (V. 8) die im Stadtleben verankerte Einsamkeit und Anonymität. Der Mensch ist somit kein handlungsfähiges Wesen mehr und gibt diese Eigenschaft an den „Wolkenschein“ (V.1) und das „Aderwerk“ (V. 5) ab, die nun die Kontrolle übernehmen. In einer solchen Gesellschaft mit „[u]nzählig Menschen“ (V. 6) verliert das Leben des Einzelnen seine Bedeutung, was durch die Antithese zwischen „Gebären“ (V. 9) und „Tod“ (V. 9) dargestellt wird, die keinerlei freudige Ereignisse dazwischen mehr erlaubt. Außerdem gibt es einem Bezug zu dem drohenden Weltende „im Weiten mit gezückter Hand“ (V. 13), welches mit „Schein und Feuer“ (V. 12) jegliches Leben auf der Erde auslöschen wird.
Die beiden zuvor analysierten Gedichte können anhand verschiedener Aspekte miteinander verglichen werden. Die Gedichte stammen aus dem Jahr 1911 und können dem Expressionismus zugeordnet werden. Ihre gemeinsame Thematik ist das Leben in der Großstadt und dessen negative Folgen, wobei diese in „Die Stadt“ weitaus drastischer beschrieben werden. In „Blauer Abend in Berlin“ werden die Menschen lediglich zum „Spiel der großen Wellenhand“ (V. 14), während sie in „Die Stadt“ von „Schein und Feuer, Fackeln rot und Brand“ (V. 12), also einer echten Gefahr, bedroht werden. Sie teilen sich ebenfalls einen gemeinsamen formalen Aufbau, da beide Dichter die Sonettform mit zwei Quartetten und zwei Terzetten sowie einen fünfhebigen Jambus ausgewählt haben. Dessen harmonische Wirkung steht in beiden Gedichten im Kontrast zum Inhalt. Während es beim ersten Gedicht aufgrund der Wassermetaphorik noch nachvollziehbar erscheint, da Wasser ständig fließt und somit für Ruhe steht, erscheint es beim zweiten Gedicht mit seinen schrecklichen Beschreibungen des Elends überhaupt nicht passend. Auch der inhaltliche Bruch, der zwischen den Quartetten und den Terzetten stattfindet, ist bei beiden Gedichten vorhanden.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist die klare und leicht verständliche Sprache, die durch viele Metaphern und weitere rhetorische Stilmittel sehr anschaulich erscheint. Loerkes Gedicht ist stark von Synästhesie7 (vgl. V. 1 und V. 9) und Vergleichen (vgl. V. 6, V. 10 und V. 13) sowie von Personifikationen8 (vgl. V. 14) gekennzeichnet. Im Vordergrund steht hier ganz klar die Wassermetaphorik und Bewegungsadjektive, welche das Geschehen lebendig und harmlos wirken lassen, wobei durch Formulierungen wie „[d]ie Menschen sind wie grober bunter Sand“ (V. 13) dennoch eine subtile Kritik an der scheinbaren Überlegenheit der Menschen über die Natur stattfindet. In Heyms Gedicht wird diese Kritik jedoch sehr viel klarer und auf pessimistische Weise ausgedrückt. In „Blauer Abend in Berlin“ spielt sich die Handlung bei Tag ab, was durch das „Himmelblaue“ (V. 3) deutlich wird, während sie in „Die Stadt“ bei „Nacht“ (V. 1) stattfindet, welche Furcht, Einsamkeit und Schutzlosigkeit symbolisiert. Hier werden ebenfalls Personifikationen genutzt. Es ist jedoch keine eventuell sogar schützende „Wellenhand“ (V. 14), sondern ein Feuer, welches „im Weiten mit gezückter Hand [droht] (V. 13), was den Menschen dehumanisiert. Des Weiteren werden Antithesen9 genutzt, die die Leere zwischen „Gebären“ (V. 9) und „Tod“ (V. 9) darstellen und dem Leben somit seinen Wert nehmen.
Die Rolle des Menschen in der Großstadt wird im ersten Gedicht als „Bodensatz und Tand“ (V. 10) beschrieben, der durch seinen Verstand nicht dazu fähig ist, sich mit der Kraft der Natur zu messen. Der Mensch ist verliert also seinen individuellen Charakter und wird zu einem kleinen Teil einer großen anonymen Masse. Im zweiten Gedicht ist dies ebenfalls der Fall, da „[u]nzählig Menschen aus und ein [schwemmen]“ (V. 6), die nur noch passiv sind und deren Individualität unterdrückt wird. Beide Dichter sehen darin eine Folge des Großstadtlebens.
Loerke verwendet in seinem Gedicht in sehr starkem Maße Metaphern aus dem Wortfeld „Wasser“, mit dem grundsätzlich etwas Positives und Lebensspendendes verbunden wird. Das Sinken und Heben der Wellen hat eine beruhigende Wirkung auf viele Menschen. Er grenzt die Natur dadurch vom Menschen selbst ab, vermittelt jedoch trotzdem, dass der Mensch in Form von „grobe[m] bunte[n] Sand“ (V. 13) ein Teil von ihr ist. Heym hingegen zeigt durch seine Vorstellung von einer Stadt als Organismus, dass der menschliche Körper ein Teil der Natur ist. Er steht somit aber auch für Vergänglichkeit und Unvollkommenheit. Durch die Beschreibung der Stadt durch Körperteile (vgl. V. 4 und V. 5) findet eine Enthumanisierung statt, die das menschliche Leben mit Gegenständen gleichsetzt. Zudem werden „Fenster“ (V. 3) personifiziert, wodurch ein sehr negatives Menschenbild vermittelt wird, was bei der Wassermetaphorik weniger stark der Fall ist.