Die Epoche des lyrischen Expressionismus
Definition/Allgemeines zur Literaturepoche Expressionismus:
- Der Expressionismus war eine literarische, musikalische und künstlerische Bewegung, die sich ungefähr zwischen den Jahren 1910 bis 1925 erstreckte.
- Die Zeit vor dem 1. Weltkrieg wird z.T. als Frühexpressionismus bezeichnet.
- Der Expressionismus war eine Gegenbewegung zum zu unästhetisch, unkünstlerisch, kalt und positivistisch empfundenen Naturalismus.
- Unterschied zum Impressionismus: Der Impressionismus schildert nur sehr bedingt seelische und subjektive Empfindungen und versucht viel mehr einen Moment möglichst genau und intensiv zu beschreiben. Der Expressionismus stellt das Ich in den Mittelpunkt und beschreibt dessen subjektive Eindrücke.
- Ähnlichkeit zum Sturm und Drang: Eine junge Generation ist in Aufbruchstimmung und möchte die bestehende Ordnung umwälzen. Die Stürmer und Dränger kämpfen gegen die Ständegesellschaft (Feudalismus, Adel) und den rationalen Geist der Aufklärung. Die Expressionisten warnen vor dem Chaos und dem Weltuntergang.
Historischer Kontext:
- Europa litt in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts unter starken politischen Spannungen und Instabilitäten. Durch die I. (1905/1906) und II. Marokkokrise (1911) geriet das deutsche Reich in zunehmende außenpolitische Isolierung. Infolge dessen versuchten die Machteliten in Europa ihr Position zu festigen, was in ein militärisches Wettrüsten und dem 1. Weltkrieg (1914-1918) gipfelte. In Deutschland war zu diesem Zeitpunkt das Kaisertum an der Macht. Wilhelm II. stellte den preußischen König und deutschen Kaiser.
- Der Halleysche Komet ist einer der hellsten und bekanntesten Schweifsterne, so dass man ihn zirka alle 75 Jahre mit bloßem Auge sehen kann. Als man diesen Komet 1910 wieder entdecke, befürchteten die Menschen einen Aufprall mit der Erde. Es herrschte eine gewisse Endzeitstimmung und Schreckszenarien über das „Jüngste Gericht“ machten die Runde.
- Anhäufung von Naturkatastrophen wie das Erdbeben in San Francisco im Jahre 1906. San Francisco wurde durch ein starkes Beben und Feuer großflächig zerstört.
- Die Industrialisierung begann in Deutschland zirka 1840, war aber bis in die Zeit der Expressionisten hinein ein akutes Thema. Die (Spät-)Industrialisierung brachte viele befremdliche Neuerung und Erfindungen mit sich, denen viele Menschen nur sehr misstrauisch gegenüberstanden. Durch die Industrialisierung konnten Produkte in Massenfertigung hergestellt werden.
- Zusammen mit der Industrialisierung trat ein Urbanisierungsphänomen auf. Die Bevölkerung wuchs und gleichzeitig zogen die Menschen vom Land in die industrialisierten und arbeitsplatzreichen Großstädte. Bis weilen waren nicht alle Städte von ihrer Struktur und Organisation her für solch große Bevölkerungen gedacht, darunter fallen z.B. das zur Verfügung stellen von adäquaten Unterkünften, Kanalisationssysteme oder Abfallbeseitigung. Folglich entstanden mitunter gewisse Armenghettos mit rudimentären Behausungen.
Gesellschaft und Individuum:
- Wegen der Ghettobildung und zunehmenden Armut wurde häufig von dem sogenannten „Pauperismus“ gesprochen, womit die Massenarmut gemeint ist, die durch die Industrialisierung verursacht worden sei.
- Durch die Industrialisierung und die Massenproduktion fühlten sich viele Menschen nur noch auf ihren Stellenwert als Produktivkräfte reduziert. Das „Ich“ litt daher unter Identitätsverlust und trat in den Hintergrund.
- Industrialisierung, Naturkatastrophen und der Halleysche Komet versetzte die Menschen in Hysterie und Weltuntergangsstimmung.
Themen des Expressionismus:
Die wichtigsten Themen expressionistischer Gedichte sind die Großstadt, der Krieg, Weltuntergang, Ich-Dissoziation1 (Ich-Verlust oder auch Ich-Zerfall) und die Ästhetisierung des Hässlichen. Die Expressionisten nutzen viele Themen als Vehikel für eine Zivilisations- und Gesellschaftskritik. Die Stadt wurde in der Regel in ihren negativen Erscheinungsformen betrachtet. Sie galt als Hort von Gottlosigkeit, Affektiertheit und als Zerstörer der Natur. Das lyrische Ich ist im Motiv Großstadt meist von menschlicher Kälte, Großstadt-Anonymität und Einsamkeit umfangen. Viele Expressionisten spürten auch die politischen Spannungen und waren Seismographen2 für den drohenden Krieg. Sie verabscheuten stets den Krieg und nahmen eine pazifistische Haltung ein, dennoch wurde der Krieg z.B. von Georg Heym auch als letztes Mittel gesehen, um einen gesellschaftlichen Umsturz herbeizuführen.
Das Thema Weltuntergang wurde von den Expressionisten teilweise als willkommener Anlass gesehen, das hysterische Verhalten der Gesellschaft zu kritisieren, überspitzt darzustellen oder ins Lächerliche zu ziehen.
Gottfried Benn hingegen entzauberte die bis dahin geltende Würde vor dem Menschen, indem er beispielsweise morbide Gedichte über die Leichensezierungen aus seinem Berufsalltag bis ins letzte abstoßende Detail beschrieb. Benn ästhetisierte das Hässliche und erzeugte Abscheu vor dem Menschen. Benn empörte damit nicht nur seine Zeitgenossen, sondern kann uns auch heute noch schockieren.
Gedichtbeispiele zu expressionistischen Themen:
Ich-Dissoziation:
Krieg:
Großstadt:
- „Die Stadt“ von Georg Heym
- „Der Gott der Stadt“ [1] [2] [3] von Georg Heym
- „Städter“ von Alfred Wolfenstein
- „An die Verstummten“ von Georg Trakl
- „Die Stadt“ von Alfred Lichtenstein
Zivilisationskritik/Natur:
- „Im Winter“ von Georg Trakl
- „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym
Abscheu vor dem Menschen/Ästhetisierung des Hässlichen:
- „Nachtcafè“ von Gottfried Benn
- „Kleine Aster“ von Gottfried Benn
- „Schöne Jugend“ von Gottfried Benn
Weltende:
- „Weltende“ von Jakob van Hoddis
- „Weltende“ von Else Lasker-Schüler
- „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen (Umbra Vitae)“ von Georg Heym
Kennzeichen und Merkmale:
- Personifikationen
- Metaphern
- Symbole (besonders bei Georg Trakl)
- Verfremdungen, Groteskheit
- Farben: rot, schwarz, gelb für Tod, Verfall oder ähnliches und blau als Sehnsuchtsmetapher
- Neologismen
- Simultan- oder Reihungsstil (Beispiele: „Die Dämmerung“ von Alfred Lichtenstein, „Weltende“ von Jakob van Hoddis)
- Transzendenzverlust
- Teils strenge äußere Form, „Bändigung des Inhalts“: Es ist zu beobachten, dass in einigen Gedichte, wie z.B. „Weltende“ von Jakob van Hoddis, die äußere Form sehr traditionell ist, während der Inhalt allerdings sehr turbulent und bewegend ist. Form und Inhalt stehen daher im Widerstreit miteinander.
Autoren:
Die Autoren des Expressionismus entstammen nicht dem Proletariat, wie man zunächst wegen ihrer gesellschaftskritischen Haltung meinen könnte, sondern waren in der Regel bürgerlich. Viele Autoren waren von Schwermut ergriffen und litten unter Depressionen. Die Expressionisten wollten eine neue, revolutionäre Kunst schaffen und so stellte sich bei ihnen eine Konfliktsituation mit traditionellen Themen und ihren konservativen Vätern ein. Der Vater-Sohn-Konflikt wird z.B. Franz Kafkas „Das Urteil“, Hasenclevers „Der Sohn“ (Drama) und Johannes .R. Bechers „Oedipus“ (Gedicht).
Ihre ablehnende Haltung gegenüber konservativen Ideen war aber nicht nur passiver Natur, sondern führte auch dazu, dass man sich dem Traum von Friedrich Nietzsches „Übermensch“ anschloss. Der Übermensch schafft sich seine eigenen Werte, verneint transzendente Werte wie Gott und Religion und stellte das Ideal einer neuen Gesellschaft dar. Die Expressionisten annektieren die Idee des Übermenschens und propagierten ihrerseits einen „Transzendenzverlust“; Gott und Supranaturalismus3 wurden negiert. In den expressionistischen Gedichten gibt es für gewöhnlich keinen Gott, oder aber er ist zerstörerisch, (wie in „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym), oder unzugänglich für die Menschen (wie in Georg Heyms „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen (Umbra Vitae)“).
Darüber hinaus beschäftigten sich die Expressionisten auch mit Traumdeutung und dem Unterbewusstsein, bei der man hauptsächlich von Sigmund Freuds Psychoanalyse inspiriert war.
Wiener- und Berliner Expressionismus:
Manchmal wird auch zwischen einem Wiener und einem Berliner Expressionismus unterschieden. Diese beiden Städte bildeten die Hauptzentren der Expressionisten, aber dennoch lassen sich dadurch teils feinere Unterschiede zum Beispiel zwischen Trakl, einem Wiener Expressionisten, und den übrigen Expressionisten erklären. Trakl setzt sehr stark auf Symbolik und Chiffrierung, seine Werke bleiben dem Leser häufig verschlossen. Ebenso treten in einigen Gedichten Trakls durchaus übernatürliche Erscheinungen auf.
Ende des Expressionismus:
Einige Autoren des Expressionismus, wie Alfred Wolfenstein oder Georg Trakl, begangen aufgrund ihrer Depressionen Selbstmord. Andere hingegen fielen im 1. Weltkrieg, so dass man sprichwörtlich sagen kann, dass dem Expressionismus seine Hauptagitatoren „wegstarben“.
Die letzten verbliebenen Expressionisten, die auch nach dem datierten Ende des Expressionismus auf das Jahr 1925 weiterarbeiteten, wurden vom nationalsozialistischen Regime in ihrem Schaffen blockiert. Der Expressionismus wurde von den Nationalsozialisten als sogenannte „entartete Kunst“ stigmatisiert. Gemälde wurden verkauft, zerstört oder zur Abschreckung ausgestellt und Berufsverbote erteilt.
Der Expressionismus wurde von der Epoche der Neuen Sachlichkeit, dessen berühmtester deutscher Vertreter Erich Kästner war, abgelöst. Später folgten noch der Dadaismus und Surrealismus.
Bekannte Autoren/Vertreter des Expressionismus:
- Georg Heym
- Georg Trakl
- Gottfried Benn
- Else Lasker-Schüler
- Jakob van Hoddis
- Ernst Stadler
- Alfred Lichtenstein
- Alfred Wolfenstein
- Oskar Loerke
- Paul Boldt
Anmerkungen / Fußnoten:
1 Ich-Dissoziation: Mit Ich-Dissoziation werden Charaktere beschrieben, die weitestgehend keine eigene Persönlichkeit an den Tag legen oder nur auf einer sehr niedrigen Triebebene in Erscheinung treten.
2 Seismograph: Ein Seismograph ist ein Gerät, welches bereits vor einem Erdbeben oder Vulkanausbruch geringste Schwingungen aufzeichnen kann. In der Literatur und Kunst werden Autoren als Seismographen bezeichnet, wenn sie die Intuition hatten, die damaligen politischen oder gesellschaftlichen Spannungen wahrzunehmen und zu deuten. Diese Autoren hatten sozusagen hellseherische Fähigkeiten. Einige Expressionisten sind Seismographen, da sie den 1.Weltkrieg herannahen sahen.
3 Supranaturalismus: Übernatürliche Erscheinungen.
Und zum Schluss noch etwas auf die Ohren!
TL;DR? Dann entspann und lass es dir erzählen!
07. März 2017 um 09:22
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01. August 2017 um 19:45
[…] Expressionismus (1910-1925) […]
02. August 2017 um 08:17
[…] Expressionismus ist eine Epoche, die mich seit dem Kontakt im Deutschunterricht fasziniert hat. Insbesondere der […]
02. August 2017 um 19:58
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05. August 2017 um 08:41
[…] auf das Gebiet Deutschlands eingegrenzt war. Anders als andere Epochen wie die Romantik oder der Expressionismus war der Sturm und Drangs fast nur auf die Literatur (Prosa, Drama, Epik, Lyrik) beschränkt. Die […]
13. August 2017 um 17:11
[…] von Ironie; das in der Gegenwartslyrik manchmal auch Elemente aus früheren Epochen wie dem Expressionismus aufgegriffen werden, wird hier am Gedichtvergleich zu „Die Fahrt nach der Irrenanstalt I“ von […]
09. Dezember 2019 um 21:20
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