Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Unter vielen anderen Gedichten Georg Heyms befindet sich das expressionistische Werk „Berlin I“, welches ich im Folgenden interpretieren und anschließend mit Joseph von Eichendorffs „In Danzig“ vergleichen werde. Das Gedicht „Berlin I“ ist ein Sonett mit dem üblichen Aufbau aus zwei Quartetten, also zwei Mal vier Verse, gefolgt von zwei Terzetten, also zwei Mal drei Verse. Insgesamt ergeben sich so vierzehn Verse in vier Strophen. Das Metrum1 des Werkes ist ein fünfhebiger Jambus, der zwei Unreinheiten in den Versen 4 und 7 aufweist. Das Gedicht besitzt einen ebenso vollständigen Reim, der in den beiden Quartetten umarmend ist (abba), wobei beide Strophen durch eine Art Paarreim verbunden sind (abba acca), da sich der letzte Vers der ersten und der erste Vers der zweiten Strophe ebenfalls reimen. Die Terzette haben einen Kreuzreim, der gleichfalls die Strophen übertritt und so als zwei Mal dreifacher Reim beide Strophen bedeckt (ded ede). Der Gesamteindruck des Gedichtes scheint also sehr strukturiert. Der Lesefluss wird allerdings von insgesamt sieben Enjambements2 unterbrochen, was neben dem fast durchgängig praktischen Satzbau eine Besonderheit darstellt. Der Inhalt des Werkes ist eine Kahnfahrt von nicht näher bestimmten Personen rund um das lyrische Ich durch das industrialisierte Berlin, wie der Titel bereits vermuten lässt. Die Szenerie ist also die Industrie einer Großstadt des 20. Jahrhunderts. Auffällig ist des Weiteren die für Sonette3 allerdings nicht unübliche Zäsur4 zwischen der zweiten und dritten Strophe, die sowohl formal, als auch inhaltlich das Gedicht in zwei Hälften teilt, nämlich in die Quartette und Terzette.
Die erste Strophe von „Berlin I“ zeigt die Situation in Berlin aus Sicht der lyrischen Ichs. Es werden nicht genauer bestimmte Szenen aus einem Industriegebiet am Kanal gezeigt: Das Rollen von Fässern aus einem Speicher auf Kähne, die Arbeit von Schleppschiffen und der entstandene Rauch über dem Wasser. Dabei erzeugt Heym eine düstere Stimmung („dunkle(n) Speicher“ V. 2) einer hektischen Welt voller Maschinen und Technik. Man hat den Eindruck, man sehe die Szene vor sich: arbeitsamer Industriebetrieb inmitten einer schmutzigen und von Rauch verdunkelten Stadt. Dies erzeugt Heym durch die beispielhafte Schilderung einzelner Vorgänge unter Zuhilfenahme von Attributen (V. 1, 2, 4) und Metaphern5, wie „des Rauches Mähne“ (V. 3), welche sogar als Personifikation6 („hing“, V. 4) besonders eindrucksvoll wirkt und zur düsteren Stimmung beiträgt, sowohl durch ihren Inhalt, als auch durch ihre Funktion als Vermenschlichung der unnatürlichen und kalten Welt der Maschinen und ihrer Begleiterscheinungen.
In der zweiten Strophe verstärkt sich die Stimmung noch weiter, wobei inhaltlich eine gewisse Fokussierung auf einige Objekte geschickt, die jetzt noch genauer bestimmt werden: „zwei Dampfer“ (V. 5), „den Schornstein“ (V. 6), „a(n) (de)m Brückenbogen“ (V. 6). Hier verstärkt sich das Gefühl der hektischen Dynamik durch die „Musikkapellen“ (V. 5) auf den Dampfern, welche allerdings anonym bleiben und somit keine Menschen verkörpern. Diese „Vorherrschaft“ der „Maschinen“ im Bild wird durch die Personifizierung der Dampfer („kappten“, V. 6) erneut verstärkt und auf ein Höchstes getrieben. Das Ende der zweiten Strophe verdeutlicht die Situation der komplett verdreckten Umgebung, insbesondere des Wassers im Kanal („schmutzige Wogen“ V. 7 und „ölige Wellen“ V. 4), durch das Klimax7 „Rauch, Ruß, Gestank“ (V. 7), hervorgerufen von einer Gerberei, die offensichtlich brauch färb, was als Farbmetaphorik das genannte und völlig lebensgefährliche Milieu ergänzt. Bis hierher steigert sich also die Beobachtung des lyrischen Ichs von seiner Umwelt, in der bisher keine Menschen, sondern Maschinen die handelnden Charaktere waren. Diese „Welt“ der Maschinen ist, wie aufgezeigt, eine sehr hektisch-dynamische- zugleich aber verschmutze, fremde und anscheinend nicht für menschliches Leben geeignete Welt. Entgegen den Maschinen hatten die Menschen um das lyrische Ich bisher eine passive Rolle als Beobachter. In der zweiten Hälfte des Gedichtes, nach der Zäsur, wird diese Rolle umgedreht und die menschlichen Charaktere tauchen auf und werden aktiv. Genauso ändert sich die Grundstimmung, welche entgegen dem Aktiv-Werden der menschlichen Figuren von Dynamik auf Ruhe übergeht.
So bricht Heym in der dritten Strophe auch mit dem parataktischen Stil und fügt einen Nebensatz ein (vgl. V. 9f.), in dem durch das Pronomen „und“ (V. 9) das lyrische Ich sein Vorhandensein zum ersten Mal erwähnt. Es fährt nämlich auf einer „Ziele“ (V. 9) durch Berlin (vgl. V. 9ff, vgl. Titel). Dabei hört es „Signale“ (V. 10) in den Brücken, die es mit Trommeln in der Stille vergleicht. In dieser Antithese8 sind mit „Signale (n)“ die Geräusche und der Lärm der Industrie wie in den ersten beiden Strophen beschrieben, gemeint, die in die „Stille“ der still beobachtenden und passiven Menschen eindringen.
Diese Rolle der handelnden Figuren bringt das lyrische ich in der vierten und letzten Strophe anfangs auf den Punkt, indem es zweideutig ihr Loslassen (V. 12) von irgendwelchen Verankerungen der Kähne und den Verbindungen, eventuell Ängsten und Zwängen, im Bezug auf die Welt der Maschinen beschreibt. Die Alliteration „ließen los“ (V. 12) vertont den Effekt praktisch. Daraufhin „treiben“ sie „langsam… im Kanale“ (V. 12f.), was ihre Ruhe und Entfernung von der hektischen Welt um sie herum darstellt. Paradox scheint nicht nur dieser Gegensatz, sondern auch die Beobachtung des Ichs von „Gären“ (V. 13) inmitten der düsteren Welt und vor allem die Bezeichnung der Situation als „Idylle“ (V. 13), ein weiterer und abschließender Beweis der „zwei Welten“. Letztlich endet das Sonett mit der Sicht des Ichs von einem „Fanale“ (V. 14), also einem Zeichen, das Veränderung ankündigt. Dieses Ende zeigt die- in Anbetracht der Situation der Umwelt in der Großstadt kaum vorstellbare-Hoffnung der Menschen auf eine Wende zum Guten, nämlich das Ende der als „Riesenschlote“ (V. 14) symbolisierten Fabriken und Werke als „Beherrscher“ einer Welt.
Vergleich zu „In Danzig“ von Joseph von Eichendorff
Beim Vergleich dieses Gedichts „Berlin I“ mit Joseph von Eichendorffs „In Danzig“, das 1842 entstanden ist, fällt zuerst einmal das gemeinsame Thema auf: eine Stadtsituation. Ähnlichkeiten weisen beide Gedichte in ihrer Stimmung auf, die durch eine gefühlsbetonte, beziehungsweise ausdrucksstarke Sprache entsteht. Insbesondere Das Motiv der Einsamkeit kommt in beiden Gedichten zum Vorschein, was auch typisch für die zugehörige Literaturepoche der Romantik (Eichendorff) und des Expressionismus (Heym) ist. Der Unterschied in dieser Einsamkeit ist, dass sie in der Romantik ein erwünschtes Gefühl darstellt, wohingegen sie im Expressionismus eher mit Entfremdung gleichzusetzen ist, demzufolge ein negatives Gefühl der Menschen. Abgesehen von der Gemeinsamkeit der vier Strophen unterscheiden sich die beiden Gedichte nun stärker. Die Form ist, wie für die Epoche nicht untypisch, bei Heym ein Sonett, bei Eichendorff sind es vier Mal vier Verse. Bei Eichendorf finden sich außerdem durchgängige Kreuzreime, die einen für romantische Gedichte charakteristischen Lesefluss ergeben, der bei Heym nicht nur durch die Reime, sondern vor allem durch die vielen Enjambements gestört wird, was wiederum ein typisches Merkmal expressionistischer Lyrik ist.
Der inhaltliche Unterschied, trotz derselben Thematik, ist logischerweise auf die andere Zeit der Entstehung zurückzuführen. Zwischen den Gedichten liegt nämlich zeitlich das einschneidende Ereignis der Industrialisierung, was in einer komplett anderen Auffassung der Stadt resultiert, wie in den gegebenen Beispielwerken sehr gut ersichtlich. In der Romantik ist das Thema Stadt eine Art „guter Traum“ (vgl. „träumerisch“, V. 5, Eichendorff), wohingegen im Expressionismus selbiges Thema als „schlechter Traum“ wahrgenommen wird (s. Interpretation oben). Diese Auffassung kommt hauptsächlich von der Erfahrung der Menschen mit der Not und Gefahr, die trotz oder sogar durch den technische herrscht. Des Weiteren ist die Darstellung der Wirklichkeit in der Romantik als zauberhaftes Märchen erfolgt, im Gegensatz zur Teilweise surrealen und grotesken Abbildung der Realität im Expressionismus. Der Inhalt Gottes Findet sich auch in der Romantik typischerweise wieder (vgl. V. 15). Eine stilistische Gemeinsamkeit beider Epochen ist wiederum die Benutzung von Alliterationen10, Symbolen und Metaphern. Insgesamt lassen sich durchaus Ähnlichkeiten in beiden Literaturepochen erkennen, wobei die faktischen Unterschiede schwerer wiegen. Zurückzuführen ist das hauptsächlich auf den geschichtlichen Hintergrund der Entstehungszeiten.