Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Der Dichter Georg Heym, welcher von 1887 bis 1912 lebte, verfasste 1911/1912 das Gedicht „Der Nebelstädte winzige Wintersonne“. Dieses besteht aus vier Strophen, wobei die erste und vierte Strophe aus je fünf Versen, die zweite Strophe aus sechs Versen und die darauf Folgende aus acht Versen besteht. In der ersten Strophe reimen sich zwar die jeweils letzten Worte der Verse nicht, jedoch entsteht trotzdem ein Klang beim Lesen, welchen Heym durch die Alliterationen1 „winzige Wintersonne“, „mir mitten“, „voll vertrockneter“, „gestorbener Garten“. In der zweiten Strophe würde ich die Verse sechs bis acht und neun bis elf in zwei Sinnesabschnitte unterteilen, da hier ein Gegensatz zwischen Ruhe und Aufbrausen besteht und sich jeweils nur das letzte Wort des letzten Verses eines Sinnesabschnittes miteinander reimt „gebracht – gemacht“. In der dritten Strophe reimt es sich nur aller zwei Verse „Kampf – Krampf“, „Mal – Qual“ und in der letzten Strophe reimen sich Vers 20 mit 24 „starre – Geknarre“ und Vers 22 mit 23 „Hand – Rand“. Das Gedicht handelt von „Der Nebelstädte winzige Wintersonne“ handelt von dem Vergangenem, welches Qualen, wie den Zerfall von Städten und des Individuums, mit sich führte und von dem Beruhenlassen dieser Vergangenheit.
Das Gedicht lässt sich zeitlich, formal sowie inhaltlich in die Epoche Expressionismus, welche sich von 1910 bis 1925 erstreckt, einordnen. Es ist eine Zeit, in der Künstler und Dichter nicht mehr das malten bzw. schrieben, was sie im ersten Moment mit dem Auge sahen, sondern das, was sie dabei empfanden, in ihren Werken verarbeiteten. Des Weiteren nutzten sie Themen wie den Ich-Zerfall, die Großstadt sowie die Ästhetisierung des Hässlichen. Typisch für die Gedichte aus dieser Epoche ist der Reihenstil. Diesen nutzte auch der Expressionist Georg Heym in den Versen drei bzw. vier, sieben bis neun, 13 bis 15 und 22 bis 24. Hier wurden mehrere Metaphern2 aneinandergereiht, wobei diese nicht immer im direkten Zusammenhang zueinander stehen, wie zum Beispiel in der zweiten Strophe in den Versen sieben bis neun „...Mauern des Schlafes...zur Ruhe...Winde...sausenden Straßen“. Hierbei ist ein Gegensatz zwischen der Ruhe und dem Aufbrausen zu erkennen. Der Reihenstil dient zur Veranschaulichung und dem Entstehen von Gegensätzen sowie Bewegung durch Vermittlung vieler Eindrücke und Empfindungen. Somit ist auch die Metapher ein typisches Stilmittel des Expressionismus. In allen Strophen baute der Dichter Metaphern ein, wie zum Beispiel in der ersten Strophe „...ins gläserne Herz...das ist voll vertrockneter Blumen...“. Sie dienen zur Veranschaulichung und ebenfalls zur Verstärkung wie zum Beispiel in den Zeilen 14 bzw. 15 „...sterbenden Städte Schultern zuckten im Krampf“. Hierbei werden der Zerfall der Städte sowie die Qualen verdeutlicht. Außerdem soll auch die Alliteration zur Verstärkung führen. Diese wurde zum Beispiel in den Versen zwei bis fünf, neun, 14 und 24 angewandt. Die in Vers zehn genutzte Paraphrase „...frierenden Köpfen“ soll zur besseren Veranschaulichung dienen. „Finsternis – Unrat - … Qual“ ist eine Klimax3 und verstärkt das Geschehene und die bringende Qual. Um in dem Gedicht Bewegung aufkommen zu lassen, verwendete der Dichter Enjambements4, wie zum Beispiel in den Versen eins bzw. zwei, 14 bzw. 15 sowie 20 bzw. 21. Des Weiteren nutzte Georg Heym verschiedene Zeitformen der Verben: In der ersten Strophe stehen die Verben „leuchtet“ und „ist“ in Präsens Aktiv. Der letzte Vers dieser Strophe besitzt jedoch bereits ein Partizip II „gestorben“, was zur zweiten Strophe und somit zum Vergangenem, einem Rückblick überleiten soll. In dieser Strophe spricht das lyrische Ich von der kleinen Sonne, die in dessen gläsernes Herz scheint. Weiterhin beschreibt es, dass das Herz „voll vertrockneter Blumen [ist und] … einem gestorbenem Garten gleicht“. Dieser Vergleich soll die Kälte, die Leere und Welke des Lebens des lyrischen Ichs zeigen. In der zweiten Strophe beginnt nun das Vergangene. Dies wird an den Zeitformen Präteritum „war“ und Perfekt „ist gebracht“, „haben gemacht“ deutlich. Diese in Perfekt stehenden Verben sind Verben der Aktivität in der Vergangenheit. Durch sie wird beschrieben, dass alles Geschehene abgelegt wurde. Zwar ist es noch in der Erinnerung da, aber es ist nicht mehr sichtbar und versucht zu ruhen „...was ehe war, ist hinter den Mauern zur Ruhe gebracht.“. Durch den Gegensatz in den folgenden Versen neun bis elf wird Bewegung erzeugt, da von den Winden, die Menschen frieren lassen und verwirren, die Rede ist „...Winde...haben auf... Köpfen... Wind-Spiel gemacht“. Die dritte Strophe kann man als Rückblick ansehen. Hier wurden Verben nur im Präteritum „war“, „zuckten“, „gingen“, „scholl“ genutzt. Das Verb „scholl“ kommt von schallten, schallte, seltener scholl (Duden). Dies bestätigt, dass das Gedicht Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Alle Verben in dieser Strophe zählen zu Verben der Bewegung und verdeutlichen Krieg und Ich-Zerfall. Durch zum Beispiel im Krieg fallende Bomben und Schießereien glüht der Himmel rot, Städte werden zerstört und die Menschen sind geplagt von Qualen und Ängsten „...Dämmerung noch Blutiger Wolken Kampf...sterbenden Städte zuckten im Krampf“. Andererseits kann mit diesen Versen auch ein Sonnenuntergang an einem Herbsttag beschrieben werden. Das Verb „rühret“ in der letzten Strophe steht nun wieder im Präsens und zeigt, dass wir uns wieder in der Gegenwart befinden. Jedoch gibt es in Zeile 23 durch das im Präteritum stehende Wort „kollerte“ einen Rückbezug auf die Vergangenheit, da der „rostige Mond kollerte...zu... Wolken Geknarre“ und somit ein Tag zu Ende ging. Durch das Verb im Präsens wird deutlich, dass niemand das Vergangene anfassen und wiederkehren lassen soll, sondern es ruhen lassen muss. Man kann erkennen, dass die erste und letzte Strophe die zweite und dritte sowohl formal als auch inhaltlich einschließen. Denn die erste und vierte Strophe bestehen je aus fünf Versen und beinhalten zum Teil die Gegenwart und zum Anderen einen Übergang bzw. Rückschluss auf die Vergangenheit und die zweite sowie dritte Strophe, bestehend aus sechs bzw. acht Versen und somit gerader Anzahl an Versen, beinhalten das Vergangene und bilden den Rückblick auf das Geschehene.
Auch der Titel „Der Nebelstädte winzige Wintersonne“ zeigt Gegenwart und Vergangenes zugleich: In der Vergangenheit entstand durch die Zerstörung der Städte und Individuen, neben dem aufgewirbelten Staub auch Trauer und Einsamkeit. Dadurch wurden die Städte nun zu „Nebelstädten“, welche durch Undurchsichtigkeit, Ungewissheit, was die Zukunft bringen werde und trauriger Atmosphäre für mich gekennzeichnet sind. Selbst die Sonne scheint durch den Nebel nur schwach, versucht zwar in die Herzen zu leuchten, wird es aber nicht bei allen schaffen, da zum Beispiel das Herz des lyrischen Ichs gläsern durch das Geschehene geworden ist und somit keine bzw. nur schwer Wärme spüren kann. Die zweite und dritte Strophe begründen meiner Meinung nach, warum das Herz gläsern wurde und kein Leben mehr inne hält, sondern nur noch Gestorbenes und Welkes. Sie beinhalten die Themen Zerstörung der Großstadt und den Ich-Zerfall, was zu solch einer Leere führt. Die Themen Großstadt und Zerstörung sowie Enge werden für mich durch die Verse neun, zehn („...Straßen...“, „...frierenden Köpfen...“ und durch die Verse 14 und 15 „...sterbenden Städte...“, „...Blutiger Wolken Kampf...“ deutlich, da hierbei die Menschen, Straßen, Städte und Wolken beschrieben werden.
Ich denke, dass Georg Heyms Motiv, dieses Gedicht zu verfassen, war, zu zeigen, dass es durch Enge und Einsamkeit in der Großstadt zur Zerstörung der Großstadt und des Individuums sowie zu Angst, Hunger, Not und die Einsamkeit kommen kann. Viele Menschen leiden dadurch an psychischen Störungen sowie Panikattacken. Oft sehen sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben, was meiner Ansicht nach durch das gläserne Herz mit den vertrockneten Blumen deutlich wird. Andererseits denke ich auch, dass Georg Heym dem Motiv folgte, dass man trotzdem versuchen sollte, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nicht aufzuwühlen, weil sonst nie die Sonne das Herz wieder wärmen kann „...was...war, ...hinter den Mauern des Schlafes... zur Ruhe gebracht.“, „...niemand rühret das starre Gestern nocht mit der Hand“ und man sonst immer traurig sein wird und von Angst sowie Einsamkeit geplagt sein wird.
Joseph von Eichendorff verfolgte in seinem Gedicht „In Danzig“, zwar auch das Motiv der Einsamkeit, jedoch in einem anderen Zusammenhang und nicht mit negativen Assoziationen verbunden. Das Gedicht „In Danzig“, welches aus vier Quartetten mit Kreuzreimen, wie zum Beispiel „Fenster-Gespenster“, „sehn-stehn“ besteht, wurde im Jahre 1842 verfasst und zählt somit in die Epoche Romantik. Das lyrische Ich spricht von Türmen, die eventuell zu einer Burg gehören, und von dem Bild, welches bei Mondschein von der Stadt entsteht. Des Weiteren schildert das lyrische Ich sein Empfinden einer Märchenwelt und die Einsamkeit, in welcher es alle Eindrücke genießt, wie zum Beispiel den Schein des Mondes, wodurch die Stadt dem lyrischen Ich wie eine Märchenwelt erscheint, oder der Türmer, welcher ein uraltes Lied singt.
Typisch für die Epoche Romantik sind die Metaphern, wie zum Beispiel „zauberhaft versteinert drunten eine Märchenwelt.“ in den Versen sieben, acht. Des Weiteren wurden Paraphrasen, wie „hohe Fenster“, „tiefe Lauschen“ verwendet, welche unsere bildhafte Vorstellung verstärken. Außerdem ist die Onomatopoesie sehr typisch für Gedichte, welche in der Epoche Romantik entstanden. Für mich ist die dritte Strophe sehr lautmalerisch: Durch die gewählten Wörter, wie „Lauschen“, „Meeres fernes Rauschen“, wird man in seine eigene Traumwelt versetzt und durch den Klang wird dies verstärkt. Am Ende dieser Strophe folgt ein Resümee „Wunderbare Einsamkeit“, welches den schönen Ort, die Ruhe und Faszination verdeutlichen soll. Alle Verben sind im Präsens geschrieben, wie zum Beispiel „stehn“, „gefällt“, „scheinet“, „singt“, „vorüberzieht“. Dies dient ebenfalls zur Verstärkung unserer Vorstellungen, sodass wir denken, dass wir gerade jetzt vor dieser Burg stehen, der Mond scheint, wir die Stadt als verzaubert sehen und Gesang hören.
Man kann deutlich das Thema Einsamkeit erkennen und ich denke, dass Joseph von Eichendorff das Motiv der schönen Einsamkeit verfolgte, sodass wir sehen können, dass Einsamkeit auch romantisch sein kann.
In Georg Heyms Gedicht ist die Einsamkeit hingegen mit negativen Assoziationen verbunden, da sie durch die Zerstörung der Städte und der Persönlichkeit entstand. Ich verbinde diese Einsamkeit mit Traurigkeit und Angst. Diese negativen Assoziationen werden fortlaufend in dem Gedicht zum Beispiel durch die Wörter „gläserne Herz“, „Zerrissen uns“, „Unrat“, „Qual“ sowie „starre Gestern“ verstärkt. Jedoch entsteht die Einsamkeit in dem Gedicht von Joseph von Eichendorff durch die Fantasue jedes Einzelnen und durch die romantische Atmosphäre, die durch die Wörter „fernes Rauschen“, „Wunderbare Einsamkeit“, „zauberhaft“ sowie „Märchenwelt“ entsteht.
Georg Heym gestaltete sein Motiv mit Worten, die wir in Verbindung mit Negativem bringen, wie zum Beispiel Qual und macht die Einsamkeit durch den Ich-Zerfall „Wir aber gingen...Zerrissen uns“ deutlich. Georg Heym nutzte also viele Metaphern, die für uns nur Tod „voll vertrockneter Blumen“ und Leere „gläserne Herz“ ausdrücken. Im Gegensatz dazu nutzt Joseph von Eichendorff kaum Enjambements, die in Heyms Gedicht die Bewegung verursachen, sondern der Dichter der Romantik verwendet viel mehr Substantive der Stille, wie zum Beispiel „Lauschen“, „Rauschen“, „Meer“, und Adjektive, wie „zauberhaft“ und „träumerisch“, wodurch das Gedicht ruhig erscheint und man sich durch die Klang- und Lautmalerei in das Gedicht hineinversetzen kann und das Beschriebene vorstellen kann. Ein weiterer Unterschied in der Motivgestaltung liegt in der Wahl der Verben: Während Georg Heym eher aufbrausende Verben, wie „zuckten“, „zerrissen“, „gestroben“, nutzte, wählte Joseph von Eichendorff eher Verben, mit denen wir Stille und Romantik verbinden, wie zum Beispiel „sehn“, „singen“ und „gefällt“.
Auch der Nebel spielt in beiden Gedichten eine Rolle, doch unterscheiden sich diese voneinander: In dem Gedicht „Der Nebelstädte winzige Wintersonne“ sind die Nebelstädte durch die Zerstörung, Einsamkeit sowie durch die Enge entstanden. Der Nebel steht hier für Angst, Zerfall und Unwissenheit. Im Gegensatz dazu steht der Nebel im Gedicht „In Danzig“ in Vers zwei für das Durchschimmern der Türme sowie für den Mondschein, der durch seinen Glanz die Stadt als eine Märchenwelt erscheinen lässt.
Diese Unterschiede in in der Themenwahl, in den Motiven sowie in deren Gestaltung sind zum Teil auch auf die Epochen und deren Besonderheiten zurückzuführen. Währenddessen die Expressionisten Themen wie den Ich-Zerfall und Großstadt wählten, nutzten die Romantiker im Gegensatz dazu Themen, wie zum Beispiel Einsamkeit und Motive, wie die Sehnsucht. Daraus resultieren auch die unterschiedliche Wahl der Verben und Stilmittel um die jeweiligen Themen umzusetzen. Georg Heym wollte den Ich-Zerfall, die Zerstörung der Städte sowie die Einsamkeit mit Angst verdeutlichen. Daher verwendete er Enjambements um Bewegung entstehen zu lassen und Metaphern, die die Einsamkeit verstärkt zeigen. Im Gegensatz dazu baute Joseph von Eichendorff viele Paraphrasen und Metaphern ein, die unserer Veranschaulichung dienlich sind.
Gedichte haben also oft das gleiche Motiv, wie zum Beispiel Einsamkeit, doch muss man immer den Unterschied in deren Gestaltung machen, wobei die Epochen und die Wahl der Stilmittel eine große Rolle spielen.