Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Wünschelrute“ wurde von Eichendorff im Jahr 1835 geschrieben. Erst drei Jahre später wurde es veröffentlicht. Heutzutage gilt es gemeinhin als die Quintessenz von Eichendorffs spätem Denken. Warum gerade dieses Gedicht so bekannt geworden ist und so zentral ist für die Einschätzung Eichendorffs Persönlichkeit, werde ich versuchen innerhalb dieser Interpretation zu begründen.
Das Gedicht besteht aus 4 Versen. Nicht übersehen darf man jedoch den Titel des Gedichts. Bei so wenigen Wörtern ist keines umsonst oder aus irgendeiner Laune heraus geschrieben worden. Deswegen bedarf es höchster Aufmerksamkeit bei der Analyse und gerade bei der Interpretation und Deutung des Gedichts.
In allen vier Versen stößt man beim Lesen auf einen vier-hebigen Trochäus. Der Kreuzreim ist nicht das einzige Merkmal, dass die sich gegenüberstehenden Verse 1 und 3 sowie 2 und 4 verbindet. Die Verse 2 und 4 enden mit einer männlichen Kadenz1, d. h. mit einer betonten Silbe. Die einleitenden Verse 1 und 3 hingegen mit einer unbetonten Silbe (8 gegen 7 Silben). Man merkt beim Lesen, dass Verse mit einer weiblichen Kadenz den Lesen vorantreiben, während eine „stumpfe“ Kadenz den Leser stoppt. Deswegen hat man das Gefühl, dass nach jedem 2ten Vers ein Punkt stünde. Doch der erste Punkt wird inhaltlich sofort aufgebrochen durch ein Und, dass die beiden Abschnitte vom Sinn her miteinander verbindet. Weiterhin ist zu sagen, dass zwar ein grammatikalisches Verhältnis von Hauptsatz zu Nebensatz aufzufinden ist, dass jedoch inhaltlich gesehen kein Vers fehlen dürfte.
Das Gedicht besitzt so einen starken Rhythmus, dass man den Trochäus auch durchaus aufbrechen könnte. Bei 3 unbetonten Silben erinnert das Gedicht stark an ein Musikstück im Vier-Viertel Takt. Die Betonungen liegen genau dort, wo der menschliche Herzschlag bei einer ruhigen Frequenz einsetzen würden. Viele Künstler haben diesen Gedanken mit in ihre Komposition aufgenommen, doch ob es Eichendorff bewusst getan hat, muss Mutmaßung bleiben.
Doch das Interessante an diesem Gedicht ist ohne Zweifel sein Inhalt. Zur Vereinfachung wird dieser in der ersten Bedeutungsebene erst einmal wiedergegeben, um dann die benutzten Metaphern2 des Dichters besser verstehen zu können. In allen Dingen, das heißt, in der Welt (und auch im Menschen?) ist etwas Schlafendes, dass die Qualität eines Liedes besitzt. Im ersten Vers wird ein „es“ unterschlagen. Dieses sachliche Pronomen weist auf das Lied. „Das Lied, es, schläft in allen Dingen“ (V. 1). Doch man darf diesen Vers auf diese Weise nicht verändern. Es ist wichtig, dass es kein bestimmtes Lied ist, sondern nur „ein Lied“.
Das „es“ wirkt viel eher situativ und beschreibend. Man denke an Sätze wie „es hat geregnet“. Man unterschlägt ein Subjekt. Was hat geregnet? Was für eine Frage. Es, der Himmel? Also hat er geregnet? Diesen Gedanken muss man verfolgen, denn mit dem Es ist nicht „das Lied“ gemeint. Sondern man gibt eine Beschreibung der Situation. Ausformuliert als: Es ist so das, ein Lied in allen Dingen schläft.
Dem aufmerksamen Leser stört aber etwas ganz Anderes. Kann denn ein Lied schlafen? Hier wird das Lied personifiziert. Aber schon vorher ist etwas am Lied, das im Verhältnis zum Menschen steht. Das besondere am Lied ist die Sprache. Die Qualität des Liedes ist die, dass es vom Wesen her Sprache ist und zusätzlich noch Musik. Da das Lied das zentrale Wort dieses Gedichts ist, werde ich es später noch einmal aufgreifen.
Das Motiv des Schlafs wird im zweiten Vers, der als Relativsatz das Nomen „Dinge“ näher bestimmt, fortgeführt. Die Dinge träumen fort und fort (vgl.: V.1-2). Auch die Dinge werden personifiziert, obwohl man an dieser Stelle schon merkt, wie wenig mit der normalen Begrifflichkeit dargestellt werden kann. Werden die Dinge wirklich vermenschlicht? Oder wird nicht viel eher die Bedeutung von Schlaf ausgeweitet? Wenn die Dinge träumen können und ein Lied schlafen, muss das nicht heißen, dass diese vermenschlicht wurden. Bevor es zu einer klaren Trennung zwischen schlafen und träumen kommen kann, muss dieser Gedanke nachvollzogen werden können, denn er ist wichtig, um den Sinn des Gedichtes zu verstehen.
Der Schlaf ist ein Ruhezustand, aber damit ist nicht alles gesagt. Ist es ein Zustand der bewusst herbeigeführt und beendet werden kann? Man ist sich nicht mal des Schlafs bewusst, wohingegen man beim Träumen doch ein Bewusstsein hat. Die Wiederholung des Wortes „fort und fort“ weist auf den theoretischen Ewigkeitscharakter beider Zustände hin. Denn auch der Träumende kann sich ohne eine äußere Einwirkung, sei es der eigene Körper, nicht aus seinem Traum befreien.
Man sollte auch überlegen, ob nicht das Verhältnis vom Schlaf des Liedes zum Traum des Dinges nicht die ähnliche ist wie bei uns Menschen. Erst durch den Schlaf können wir träumen. Die Qualität des Liedes führt dazu, dass die Dinge träumen.
Das Lied ist also nichts Nebensächliches, was dem Ding neben anderen Eigenschaften auch noch hinzukommt. Sondern es ist Voraussetzung für die (ewige) Tätigkeit des Dinges. Das Lied ist das Wesen des Dinges.
Die Verse 3 und 4 bilden zusammen einen Konditionalsatz. Die übliche Form des „wenn..., dann... “ ist durch das „nur“ ersetzt worden. Aufgegliedert hieße der Satz: „Wenn du das Zauberwort triffst, (dann) hebt die Welt an zu singen “ (vgl. V. 3-4). Durch diese Konstruktion ist das für den Leser am wichtigste, nämlich das „Wie“ oder die Zauberformel an das Ende gerückt und betont worden.
In den ersten drei Versen erfahren wir das „Was“. In jedem Vers wird der Spannungsbogen angehoben. Von den Bewusstseinsstufen aus gesehen, die durch die Verben beschrieben werden, bewegt sich der Leser durch Phasen des Schlafens, des Träumens und dann des Singens.
Schlafen ist ein Zustand ohne Bewusstsein, ein ewiger Ruhezustand ohne Bewegung. Träumen kann man nur, wenn man ein Bewusstsein hat. Etwas passiert innerhalb des Traumes, aber man befindet sich noch im Rahmen des Schlafes: Innerhalb der Ruhe ist Bewegung.
Wenn die Welt zu singen anhebt, ist der höchste Zustand erreicht. Was wir bisher über das Lied gesagt haben, trifft genauso auf sein Verb zu. Im Singen ist Sprache, aber auch die Kunst. Es ist keine gesprochene Sprache, sondern Gesang. Hier sei angemerkt, dass Hymnen, also gesangsartige Dichtung, genauso gesungen wird. Das „Lied“ kann Musik, aber auch Poesie sein.
Nachdem der Leser gehört hat, was passiert, möchte er wissen, wann es passiert. Wann sind die Bedingungen erfüllt, damit die Welt zu singen anhebt? Diese Bedingung steckt im vierten Vers.
Die Erwartungen des Lesers können natürlich nur wachgerufen werden, wenn es sich um ein positives „Was“ handelt. Dieses Positive ist nur oberflächlich gegeben. Zwar sind die Verben und die Nomen im Gedicht ohne Frage positiv konnotiert; man sagt nicht umsonst: „Böse Menschen singen keine Lieder“. Aber das liest der Leser hinein. Mit bösen Absichten könnte man Eichendorff unterstellen, er hätte bewusst keine Adjektive in sein Gedicht integriert.
Hier sei (nicht wörtlich) E.M. Cioran wiedergegeben, der behauptet, dass es sich der Mensch durch die Benutzung von Adjektiven zu einfach auf der Welt gemacht hat. Adjektive qualifizieren Wörter, aber wenn man genau überlegt, haben nur abstrakte Dinge Adjektive. Welche Farbe hat schon eine Rose? Sie ist nicht einfach nur rot. Um die Rose zu beschreiben, hat sich aus diesem Nomen ein Bei-Wort gebildet: rosenrot. (Dieses Beispiel stimmt nicht 100%, nur vom Sinn her) Adjektive kommen immer aus der Sache selbst. Sie können also im Nomen aufgefunden werden (Adjektiv heißt im griechischen: epi-theton, es ist etwas nach-gefügtes). Wer also behauptet, dass das Lied, welches in den Dingen schläft, ein „schönes“ Lied sei, im Sinne von „es hört sich gut an“, der liest das Gedicht nicht so, wie es gelesen werden soll. Das Lied ist Kunst, der Traum ist besonderes Bewusstsein, Schlaf ist Chaos – all das ist Leben, es besitzt „gute“ und „schlechte“ Seiten.
Dies ist eine ungewohnte Denkart, an die man sich nicht leicht gewöhnen kann. Es bleiben außerdem noch die Wörter „Zauberwort“ und der wichtige Titel „Wünschelrute“, die doch auch auf etwas Positives weisen? Dagegen kann erwidert werden, dass doch auch der Fluch ein Zauber sei.
Und zur Wünschelrute (wunsciligerta): Sie ist schon durch Eichendorffs Zeitgenossen Jacob Grimm3 (1785-1863) als „gerte, durch deren besitz man alles irdischen heils theilhaftig wird“ gedeutet worden (Wikipedia.de). Erst im Laufe der Zeit haben die Benutzer der Wünschelrute in Fabeln und Märchen nur noch Schätze und Gold gefunden.
Aber das für und wider beider Seiten abzuwägen oder sich für eine Seite zu entscheiden, ist ziemlich müßig. Es ist also ratsam, dieses Hin- und Her der Argumente aufzulösen, denn das Schöne muss nicht das Gute sein. Auch beim Wort „das Höhere“ assoziiert man, als Bewahrer christlich-jüdischer Traditionen, Bilder an ein Paradies oder an lichtdurchflutete Ebenen voll hellem Licht. Das Göttliche jedoch, ist von sich aus ohne Beiwort – ohne Adjektiv (Der Mensch muss das Beiwort Gottes werden, Meister Eckhart). Es ist also nicht das Schöne, nicht das Gute und auch nicht das Höhere. Aber es ist ein Lied.
Der Leser ist ohne Zweifel von dem Gutsein des Liedes beim Lesen des Gedichtes überzeugt. Er soll es auch sein, damit der Spannungsbogen sein Ziel erreichen kann: den vierten Vers.
Wenn das Zauberwort getroffen wird, dann hebt die Welt an zu singen. Eine komische Wendung. Mit der Welt sind die Dinge gemeint, das geht klar aus dem „Und“ (V. 3) hervor, welches die beiden Sätze miteinander verbindet. Die Welt hebt an,... was kann das heißen? Anheben hat im Deutschen viele Bedeutungen. Naheliegend ist anheben im Sinne von „anfangen“. Man beginnt damit, ein Lied zu singen. Aber man kann auch ein Niveau anheben. Ein stetiger Prozess – oder auch als abgeschlossener – als „Latte heraufsetzen“. Sogar eine vierte Bedeutung versteckt sich hinter dem Wort. Man kann etwas hochheben und damit etwas freilegen.
Damit soll gezeigt werden, dass mit dem Anheben eine neue Qualität erreicht worden ist. Mit dem Beginn des Gesangs ist ein höheres Niveau erreicht, welches wiederrum Neues freilegen kann.
Der Schlaf des Liedes hat sich im dritten Vers mit dem träumenden Ding verbunden. Aber war nicht das Lied das Wesen des Dinges? Waren die nicht von vornerein verbunden? Nur dialektisch kann dies nachvollzogen werden. Das bisher Erklärte kann verstanden werden als: A ist B. Das Ding ist das Lied. Was ist das für eine Beziehung? Ein bloßes Einerlei von Verschiedenem? Aber wir haben gesagt, dass der Schlaf des Liedes Voraussetzung für das Träumen der Dinge ist. Beide haben ein Verhältnis zueinander. Das Lied ist das Wesen, die Dinge haben (!) eine Funktion. So stehen beide in einem Verhältnis, aber wie steht denn A zu B? Das Verhältnis ist durch das „ist“ beschrieben. Aber was „ist“ dieses ist? Die Antwort bekommt der Leser im lang erwartetem vierten Vers. Denn das Verhältnis beider kommt nur zu Stande, wenn die Bedingungen geschaffen worden sind (wenn..., dann...). Also nur dann, wenn „du“ das „Zauberwort triffst“. Das „ist“ des Satzes „Das Ding ist das Lied“ setzt sich demnach zusammen aus einem „du“, worunter nur ein Mensch verstanden werden kann und einem mysteriösen „Zauberwort“.
Die Initiative geht vom Menschen aus. Aber er muss das Zauberwort treffen, um das in den drei vorherigen Versen Angedeutete in Gang zu setzen! Was ist dieses Zauberwort? Ist es Sprache? Also auch etwas, was nach gemeiner Auffassung nur dem Menschen zukommt? Der Mensch ist sprachbegabt, aber er besitzt die Sprache nicht. Kann er einfach drauflossprechen und irgendwann trifft er das richtige Wort? Er muss es nur „treffen“, aber wie es dem Menschen gelingen kann, wird nicht weiter gesagt. Es ist außerdem kein normales Wort. Eichendorff hat nicht geschrieben „triffst du nur das richt'ge Wort“. Es ist ein Zauberwort. Alles Anzeichen dafür, dass der Mensch von sich aus nicht in der Lage zu sein scheint, den Prozess in Gang zu bringen.
Was könnte mit diesem Zauberwort gemeint sein? Ins Auge sticht der Bezug zum Lied. Das Lied ist auch Sprache hatten wir gesagt. Es ist nicht nur Musik, aber auch nicht nur Sprache. Es ist Poesie. Könnte also das Zauberwort so etwas sein wie die Poesie? Muss der Mensch Poet sein, um das Lied zu wecken? Man kommt an dieser Stelle nicht mehr viel weiter.
Das unschuldige „du“ weist eigentlich nicht auf eine bestimmte Person mit besonderen Anlagen. Das „du“ könnte jeder sein. Wenn man sich das Zauberwort näher anschaut, kommt man vielleicht auf des Rätsels Lösung. Wer benutzt Zauberwörter? Magische Wesen, die einen Zauberspruch aufsagen. Das Zauberwort könnte also auch für etwas stehen, was sich jenseits der Sprache und jenseits der Dinge befindet. Eine Art Chiffre4, welche den Weg beschreibt, auf dem der Mensch die Dinge zum Singen bringen könnte. Es muss sich also nicht um einen Poeten handeln, sondern es könnte auch um den normalen Menschen handeln, der sich richtig verhält.
Aber das genaue „wie“ bleibt dunkel. Betont werden muss, dass der Mensch für die Welt etwas Äußeres ist. Es gibt ein Lied in den Dingen, es gibt die Dinge, und es gibt den Menschen. Vielleicht ist das Zauberwort etwas Viertes, vielleicht ist es die Poesie. Aber man kann das bisher Gesagte nun zusammenfügen. A ist B. Das „ist“ setzt sich zusammen aus einem Menschen und aus dem Zauberwort. Das nackte Mensch-Sein scheint nicht zu genügen, es muss noch etwas hinzukommen oder der Mensch muss etwas werden (Poet).
Wir verstehen nun aber, warum dieses Gedicht so wichtig geworden ist. In diesen vier Versen steckt mehr verborgen als in so manchem Roman. Eichendorff war nicht nur Romantiker. In diesem Gedicht merkt man, wie stark die philosophischen Systeme seiner Zeit Eichendorffs Persönlichkeit und Denken geprägt haben. Die Unterscheidung zwischen Wesen und Willen, also zwischen Lied und Ding geht auf Schelling zurück (Giordano Bruno und Leibniz). Die dialektischen Ansätze, die ich versucht habe darzulegen, waren für den gesamten Deutschen Idealismus von entscheidender Bedeutung. Aus den Überlegungen zur Identität folgt die Einsicht, dass die zentralen Sätze des Denkens die Sätze von der Identität und vom Grund sind. Sie finden sich in poetischer Form in genau diesem Gedicht wieder (A ist B).
Das Besondere ist an dieser Stelle, dass es sich nicht um stupide Logik handelt, sondern dass etwas Dunkles im „ist“ verborgen liegt. Und es muss verborgen bleiben, es bleibt „Zauberwort“. Genauso wenig kann über das Lied gesagt werden; weder positives noch negatives Attribut passen, um das Wesen der Dinge zu beschreiben.
Aber die Frage ist, ob in Eichendorffs kurzem Gedicht nicht schon die Überwindung des Idealismus angedeutet ist. Die Dinge sind ganz klar außerhalb des Menschen. Sie besitzen dort sogar ein eigenes Wesen. Es wird also nicht die Ichheit des Ichs auf die Dingwelt übertragen (Fichte), sondern die Außenwelt wird anerkannt als etwas Fremdes. Ob dieses Fremde durch die Poesie erreicht werden kann – vielleicht aber nur in Abschwächungen, denn der Poet kann das Zauberwort nur treffen, es gehört ihm also nicht, das muss der Leser für sich entscheiden. Das Dunkle und Geheimnisvolle des Gedichts, kann eh nur im und durch das eigene Leben nachvollzogen und „verstanden“ werden.