Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Novalis schrieb dieses Gedicht im Jahr 1800. Warum gerade dieses Gedicht als charakteristisch für die Epoche der Romantik bezeichnet wird, soll diese Interpretation zeigen. Das Gedicht steht in dem Roman Heinrich von Ofterdingen, der allerdings nicht fertiggestellt und erst nach dem Tod von Novalis 1802 veröffentlicht wurde. Novalis stammte aus einer adligen Familie, studierte Jura und genoss eine umfassende Bildung. Er kam mit zahlreichen wichtigen und großen Persönlichkeiten zusammen, mit denen er zum Teil einen persönlichen Kontakt pflegte. Er stand im Briefwechsel zu Goethe, traf sich mit Herder und sprach oft mit Jean Paul. Um die Jahrhundertwende, in der dieses Gedicht entstanden ist, stand Novalis in regem Kontakt zu den Brüdern Schlegel, zu Tieck und zu Schelling, die alle auf ihre Weise Einfluss nahmen auf die Entstehung einer Epoche, die wir heute unter dem Namen Romantik kennen. Ohne Novalis, die Brüder Schlegel, Tieck und den Philosophen Schelling hätte es wohl so etwas wie eine eigene Epoche mit dem Namen Romantik nicht gegeben.
Was für die Romantik charakteristisch ist, soll nicht vorausgeschickt, sondern am Gedicht selbst aufgezeigt und abgelesen werden. Wir erfahren so mehr über die Zeit, als wenn bloße Fakten genannt werden, die auch nur grob das wiedergeben können, was den Geist dieser Zeit ausmachte.
Es handelt sich bei dem Gedicht um eine einzige Strophe mit 12 Versen. Beim Versmaß handelt es sich um einen 4-hebigen Jambus. Es reimen sich die Verse jeweils als Paar (aa, bb, cc,...). Gesteigertes Tempo bekommt das Gedicht beim Lesen durch eine überschüssige Silbenzahl (weibliche Kadenz1) in den ersten 10 Versen, in welchen auch gleichzeitig inhaltlich Spannung aufgebaut wird dadurch, dass die Paare jeweils mit einem 'wenn' beginnen, das wiederum erst in den letzten zwei Versen durch ein 'dann' aufgelöst wird. Dieses Stilmittel, bei dem ein Satzanfang mehrfach wiederholt wird, nennt man Anapher2.
Worum geht es in dem Gedicht? Der Inhalt breitet sich aus innerhalb der Figur des Wenn-Dann. Es wird ein Szenario geschildert. Es geht nicht um diesen oder jenen Mann oder um diese oder jene Frau, sondern um etwas, das mit der ganzen Welt geschehen wird. In den ersten zehn Versen erfährt man etwas über die Bedingungen und die Voraussetzungen zu jenem Geschehen, das in den letzten zwei Versen wie folgt beschrieben wird: „Dann fliegt vor Einem geheimen Wort/ Das ganze verkehrte Wesen fort.“ (Vers 11-12) Doch was mit diesem verkehrten Wesen gemeint sein könnte, geht nur aus den vorhergegangen Versen hervor.
Einen Hinweis gibt der elfte Vers: es geht um das eine geheime Wort. Wenn man diese Betonung des Wortes bemerkt und damit auf die anderen Verse schaut, erkennt man ein Muster: in Vers 9 werden „Mährchen und Gedichte“ erwähnt, in Vers 3 geht es um diejenigen, die „so singen oder küssen“. Man kann davon ausgehen, dass es um solche geht, die der Worte mächtig sind, um Literaten, Schriftsteller, Poeten und Erzähler. Es entspricht dem Selbstverständnis der Romantiker, dass ein besonderes Gewicht gelegt wird auf die Kreativität der Künstler, auf den Schaffensprozess und die Produktivität der kreativen Geister. Kreativität kommt von creatio, was lateinisch soviel wie Schöpfung heißt. Aber diese Betonung des Künstlers, dass dieser aus freiem Geiste etwas schöpft und produziert, das kam erst in dieser Zeit auf und wurde charakteristisch für die Romantik.
Was sagt Novalis über diese Künstler? Er dichtet: „Wenn die, so singen […], / mehr als die Tiefgelehrten wissen.“ (V. 3-4) und auch: „Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten“ (V. 9-10). In dem poetischen Szenario Novalis' geht es um eine Zeit, in der die Künstler 'mehr' wissen als die Tiefgelehrten. Hier wird der Künstler nicht nur abgegrenzt von den Gelehrten, es findet auch eine Wertung statt, die dann dort erneut begegnet, wo Novalis meint, man könne in Märchen und Gedichten die „wahren Weltgeschichten“ erkennen. Ein für uns Heutige ziemlich abwegiger Gedanke, der aber für die Romantiker eine große Rolle gespielt hat. Im Mythos und in den alten Sagen meinten sie 'mehr' von der Welt erkennen zu können als in jedem Geschichtsbuch.
Aber wir ahnen nur, was mit diesem 'mehr' gemeint sein könnte. Geht es Novalis nur um ein 'mehr wissen'? Also nur darum, dass die Künstler quantitativ mehr wissen als jeder Gelehrter? Dann wären Künstler nur die gelehrteren Gelehrten und die Abgrenzung zwischen Künstler und Gelehrter und die Betonung des Gesangs, der Gedichte und des Wortes würden überflüssig werden.
Über dieses 'mehr wissen' erfahren wir in den Versen 7 und 8 etwas Näheres: „Wenn dann sich wieder Licht und Schatten/ Zu ächter Klarheit werden gatten“. Ein sehr wichtiges Motiv für die Romantik war die Abgrenzung gegen die Aufklärung, gegen die Vorstellung, man könne alles in Zahlen umwandeln und so messbar machen. Alles sei rational, das hieß damals vor allem: mathematisch erklärbar. Die Naturwissenschaften erfuhren in dieser Zeit einen unglaublichen Hype. Es wurden damals die Grundsteine geebnet für die Industrialisierung, welche wiederum das Fundament für die heutige Zeit bildet. Aber wenn wir von der Aufklärung eines wissen, dann ist es deren enge Beziehung zur Metapher3 des 'Lichts'. Die Aufklärung wurde in Frankreich Siècle des Lumières genannt. Lumen ist lateinisch für Licht. Das Licht kommt vom Verstand selbst. Er erleuchtet die unzähligen Dinge, macht sie erkennbar, messbar und in der Folge auch: kontrollierbar. Was die Romantiker von diesem bloß rationalen Denken dachten, kann nicht besser und schöner in Worte gefasst werden als wir es von Novalis überliefert haben: „Wenn dann sich wieder Licht und Schatten/ Zu ächter Klarheit werden gatten“ (V. 7-8). Echte Klarheit kann es nur dort geben, wo sich Licht und Schatten durchmischen. Nicht in der absoluten Helligkeit des Lichtes gäbe es die echte Erkenntnis, sondern dort, wo man beides hat, Licht und Schatten. Wenn es heißt, nachts sind alle Katzen grau, kann nun mit gleicher Ironie erwidert werden, im hellsten Licht ist alles weiß. Beide Male ist nicht viel erkennbar.
Von hier aus wird nun auch der Titel und die ersten beiden Verse des Gedichts deutlich: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren/ Sind Schlüssel aller Kreaturen“ (V. 1-2). Die Deutung liegt nun auf der Hand: Es geht Novalis um eine Zeit, in der es nicht darum geht, die Kreaturen, worunter Tiere und Menschen gleichermaßen zu fassen sind, mithilfe von Zahlen verstehen zu wollen. In der Sprache Novalis': Der Schlüssel zu den Kreaturen ist nicht die Mathematik, sondern...? Hier fällt uns ein, dass Novalis mehrere Male auf den Künstler Bezug genommen hat. Künstler, Sänger, Märchen und Gedichte, all das scheint in Abgrenzung zum bloßen Gelehrtentum aufgeführt zu werden. Der Schluss des Gedichts sagt, worauf es ankommt: „Dann fliegt vor Einem geheimen Wort/ Das ganze verkehrte Wesen fort“ (V. 11-12). Es ist das eine geheime Wort. Kein geläufiges Wort, kein alltägliches Wort, sondern ein besonderes und geheimes. Ein einzelnes Wort? Novalis schreibt den unbestimmten Artikel groß: „vor Einem geheimen Wort“ (V. 11). Darauf kommt es wohl aber nicht an. Es wiederholt sich im Schluss der Grundgedanke, dass das verkehrte Wesen, das bloße Gelehrtentum und die Vorstellung, man könne alles mathematisch bestimmen, messen und so zu echter Erkenntnis gelangen, verschwindet, wenn nur diejenigen, die der Worte mächtig sind, in ihrer Zeit ankommen. Es ist die Sehnsucht nach einer besseren Zeit, einer Zeit der Künstler, des Gesangs, der Märchen und der Gedichte.
Novalis' Gedicht ist zwar der Form nach nicht sehr außergewöhnlich. Aber aus dem Inhalt geht hervor, dass hier etwas Neues im Begriff ist, sich zu entfalten. Ein neuer Gedanke, der zumindest so stark wurde, dass wir heute dieser Zeit den Namen Romantik geben. Gegen die aufkommende Industrialisierung und Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche konnten aber auch die Romantiker nichts unternehmen.