Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
In dem Gedicht „Der Gott der Stadt“, geschrieben von Georg Heym im Jahre 1910, beschreibt das lyrische Ich eine Stadt und einen Gott, der über die Stadt wacht und regiert. Das, der Epoche des Expressionismus zuzuordnende, Gedicht ist in fünf Strophen zu je vier Versen gegliedert. Das Reimschema entspricht einem regelmäßigen Kreuzreim. Das Metrum1 ist ein regelmäßiger Jambus. In dem Gedicht beschreibt das lyrische Ich einen Gott, der über eine Stadt wacht und herrscht. Dieser Gott wird als ein zorniger Gott dargestellt. In der ersten Strophe geht das lyrische Ich zunächst auf den Gott ein. Dieser sitzt auf einem Häuserblock und schaut zornig in die Ferne wo nur noch einzelne Häuser stehen. In der zweiten Strophe beschreibt es den Sonnenuntergang und das Läuten der Kirchenglocken. Anschließend beschreibt es die Musik, die durch die Straßen dröhnt und den Rauch der Fabriken, der über der Stadt schwelt. In der vierten Strophe umschreibt das es den Übergang von Abend zu Nacht und beschreibt das Wetter. Zuletzt beobachtet es, wie „der Gott der Stadt“ eine Straße durch eine Handbewegung in Brand setzt und somit die Straße bis zum Morgen mit Rauch gefüllt ist.
Das lyrische Ich beschreibt die Stadt düster, laut, voller und Rauch und Feuer. Das Leben in der Stadt wirkt unangenehm und gefährlich, alles andere als lebenswert. Diese Wirkung durch einige sprachliche Besonderheiten erzeugt.
Zum einen werden die Menschen der Stadt nicht richtig genannt, die Menschen werden auf Zahlen oder Häuser reduziert, beziehungsweise depersonalisiert. Es sind nicht die Menschen, die am Rauche der Stadt wohnen sondern „Häuser [die sich] in das Land verirr'n“ (V. 4). Ebenso ist es nicht die Musik der Menschen, sondern „die Musik der Millionen“ (V. 9f.), die die Stadt erfüllt. Dadurch wirkt die Stadt leer, einsam und verlassen, es wirkt, als wären die Menschen keine Individuen, sondern ein Teil der Stadt.
Das lyrische Ich geht häufiger auf Bestandteile von Religionen ein, die aber eher negativ dargestellt werden. Der Gott der Stadt wird als ein Gott beschrieben, der durch Menschenopfer gnädig gestimmt werden muss (vgl. V. 5) und der ansonsten sehr zornig ist (vgl. V. 3). Es scheint, als würden die Bewohner der Stadt versuchen, den Gott zu besänftigen durch Kirchenglocken und rituelle Musik (vgl. V. 7 & V. 9). Der Rauch der Fabrik wird ebenfalls mit einem religiösen Symbol in Verbindung gesetzt, er wird mit Weihrauch verglichen (vgl. V. 12). In der letzten Strophe des Gedichtes wird jedoch klar, dass der Gott nicht besänftigt werden kann, er gibt ein Zeichen, wodurch eine Straße in Brand gesetzt wird (vgl. V. 17f.). Insgesamt drücken diese Ausdeutungen Hoffnungslosigkeit und Gottverlassenheit aus. Die Bemühungen der Menschen sind irrelevant egal, ob ungeheuer viele Glocken läuten oder Millionen von Menschen Musik machen, um ihren Gott zu schmeicheln (vgl. V. 7 & 9f.), der Gott der Stadt wird zornig bleiben.
Die ganze Stadt wird voller Arbeit dargestellt, die Menschen arbeiten in Fabriken, die überall stehen (vgl. V. 8, 11). Die Stadt ist von Rauch erfüllt, das Meer aus „schwarzen Trümmern“ (V. 8) ist eine Metapher2 für die vielen Schornsteine der Fabriken steht. Die Menschen arbeiten sehr lange obwohl es schon Abend ist (vgl. V. 5), arbeiten die Menschen noch und die Schornsteine qualmen (vgl. V. 11f.). Das einzige natürliche, was in diesem Gedicht beschrieben wird, ist das Wetter, welches vom Gott der Stadt kontrolliert wird (vgl. V. 13-16). Der Gott der Stadt ist auch ein Sturmgott. Die Stürme werden personifiziert als Geier dargestellt, die um den zornigen Gott kreisen (Vgl. V. 15f.). Dadurch, dass die Stürme wie Geier gucken, wirkt es, als ob sie auf Opfer und Tote warten, dadurch wird eine angespannte und bedrohliche Stimmung erzeugt.
Das lyrische Ich beschreibt, wie der Gott der Stadt, die Menschen in Gefahr bringt und ihr Leben zerstört. Er gibt ein Zeichen, sodass ein „Meer von Feuer [...] durch eine Straße [jagt]“ (V. 18-19). Das Oxymoron3 „Meer von Feuer“ vereint zwei Begriffe, die eigentlich konträr zueinander stehen, das verdeutlicht wie mächtig dieser Gott ist, er hat nicht nur die Stadt und die Menschen, sondern auch die Natur und die Elemente unter Kontrolle. Das „Meer von Feuer“ wird zusätzlich personifiziert, es „jagt durch eine Straße“ (V. 18f.). Es wird noch unkontrollierbarer und gefährlicher dargestellt. Es ist ein eigenständiges Wesen, es wirkt animalisch und wild. Nach dem Feuer wird die Straße vom „Glutqualm“, der braust, „[aufgefressen]“ (V. 19f.). Auch der Glutqualm wird personifiziert und wirkt wie ein wildes Tier. „Glutqualm“ ist zudem ein Neologismus4, der aus den beiden Wörtern Glut und Qualm besteht, dies lässt ihn als etwas Neues, Unbekanntes, Bedrohliches wirken.
Das Gedicht „Der Gott der Stadt“ lässt sich sehr gut der literarischen Epoche des Expressionismus zuordnen. Es kommen epochentypische Motive vor, wie zum Beispiel der Zerfall, eine vor-apokalyptische Stimmung und Zerstörung. Ein weiteres sehr prägnantes Motiv ist die Ästhetik des Hässlichen. Die Stadt wird als hässlich und düster beschrieben, jedoch so wie man von einem Berg auf die schöne Landschaft ins Tal schauen würde. Außerdem hat das Gedicht eine sehr einprägsame Bildlichkeit, die durch eine ausführliche Beschreibung des lyrischen Ichs hervorgerufen wird.
Wenn man die historischen Entwicklungen und die damaligen Ansichten, aus denen der Expressionismus hervorgeht, anschaut, spiegeln sich diese auch wider, wie zum Beispiel die Hochindustrialisierung, die Aufklärung, die Angst vor einer kommenden Apokalypse aufgrund von gewissen Vorboten wie dem Halleyschen Kometen. Außerdem spiegelt sich eine gewisse Kritik an dem Hang, den Menschen zunehmend mehr und mehr in seinem Nutzwert zu sehen, wider.
Insgesamt ist das Gedicht von Heym epochentypisch und stellt das Leben in der Stadt als gefährlich dar. Außerdem wirkt es, als ob jegliche Anstrengungen nutzlos seien und das schlechte unausweichlich sei.
Vergleich zu „Hörst du nicht die Brunnen rauschen“ von Clemens Brentano
Auch in dem romantischen Gedicht „Hörst du nicht die Brunnen rauschen“ von Clemens Brentano aus dem Jahre 1827 wird die Umgebung und Umwelt des lyrischen Ichs beschrieben. Brentano thematisiert in seinem Gedicht die Freiheit die man in Träumen erleben kann. Das Gedicht das im Gegensatz zu Heyms Gedicht aus einer Strophe mit zwölf Versen besteht, hat einen unregelmäßigen Trochäus als Metrum und, genau wie bei Heyms Gedicht einen regelmäßigen Kreuzreim als Reimschema. Das lyrische Ich beschreibt zunächst die Geräusche in seiner Umgebung und fordert eine zweite Person auf, mit ihm auf die Geräusche zu lauschen. Es bewundert diejenigen, die in Träumen sterben und von den Wolken gewogen werden. Es bewundert alle, die in ihren Träumen Freiheit und Glück finden. Am Ende des Gedichtes fordert es eine zweite Person auf, auch zu träumen und sagt es würde sie bald aufwecken.
In Brentanos Gedicht sieht die Umwelt des lyrischen Ichs extrem anders aus als bei Heym. Es ist im Vergleich ruhig, man hört nur Wasser aus dem Brunnen rauschen und Grillen zirpen (vgl. V. 1-3).
In diesem Gedicht sind die Wolken etwas schönes, sanftes. Das lyrische Ich sehnt sich danach, von den Wolken gewogen zu werden (vgl. Z.5). Das drückt eine Verbundenheit zu Natur und ein Verlangen nach Freiheit und Nähe zur Natur aus. Im Gegensatz dazu werden die Wolken in Heyms Gedicht als Rauch der Fabrik dargestellt, die nichts Schönes und betörliches haben (vgl. V. 11-12). Auch der Himmel wird in Brentanos Gedicht als ruhig und klar beziehungsweise als „blaue Himmelsdecke“ (V. 9) beschrieben. Es gibt keine flatternden Stürme oder Rauch wie im anderen Gedicht (vgl. V. 15) indem es selbst tagsüber aufgrund des Qualmes düster ist (vgl. V. 2).
Das gesamte beschriebene Bild in „Hörst du nicht wie die Brunnen rauschen“ ist friedlicher und natürlicher. Die Menschen die träumen können und im Traum Freiheit finden, also z. B. fliegen können, sind selig (vgl. V. 4 & V. 6). Brentano stellt die Träume als Ort da, wo wo der Mensch glücklich und frei ist. Das lyrische Ich sehnt sich nach Freiheit, Glück und Ruhe, die es aber im Traum finden kann. In Heyms Gedicht hingegen gibt es keine Ruhe, bis zum Morgen qualmen und brennen die Straßen. für die Menschen in der Stadt gibt es anscheinend diese Ruhe nicht (vgl. V. 18f.). Das lyrische Ich in Brentanos Gedicht beschreibt, dass es in den Träumen möglich ist Sterne wie Blüten zu pflücken (vgl. V. 10). In den Träumen ist folglich alles möglich.
In dem anderen Gedicht beschreibt das lyrische Ich, dass es unmöglich für die Bewohner der Stadt ist, irgendetwas zu ändern. Sie können sich so sehr bemühen ihrem Gott zu schmeicheln, am Ende zerstört er ihre Straßen dennoch (vgl. V. 18f). Insgesamt sind die beiden Gedichte und die Umwelt bzw. Umgebung, die in ihnen beschrieben wird, sehr unterschiedlich, wenn nicht sogar konträr.
Im ersten Gedicht von Georg Heym handelt es sich um eine Stadt, die Tag und Nacht von Rauch und Lärm erfüllt ist. Die Menschen müssen in Angst leben und mühen sich ab, ihrem Gott zu besänftigen, was aber wirkungslos und unnötig ist. Brentanos Gedicht hingegen stellt eine ruhige und natürliche Umwelt dar, die Menschen finden im Traum Ruhe und Frieden.