Autor/in: Georg Heym Epoche: Expressionismus Strophen: 4, Verse: 14 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-3, 4-3
Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein
Zerreißet vor des Mondes Untergang.
Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang
Und blinzeln mit den Lidern, rot und klein.
Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt,
Unzählig Menschen schwemmen aus und ein.
Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein
Eintönig kommt heraus in Stille matt.
Gebären, Tod, gewirktes Einerlei,
Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei,
Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei.
Und Schein und Feuer, Fackeln rot und Brand,
Die drohn im Weiten mit gezückter Hand
Und scheinen hoch von dunkler Wolkenwand.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Stadt als grausamer, inhumaner Ort ist ein beliebtes Thema im Expressionismus. Auch das vorliegende Gedicht „Die Stadt“, geschrieben 1912, von Georg Heym widmet sich diesem Thema.
Im Folgenden werden Inhalt und Aufbau näher betrachtet.
Das Gedicht besteht aus vier Strophen und 14 Versen. Bei der Betrachtung der Anordnung der Verse wird deutlich, dass es sich um ein Sonett1 handelt. Die Strophen sind nämlich in zwei Quartette und zwei Terzette gegliedert.
Nun wird der Inhalt aller vier Strophen erläutert.
Die erste Strophe beginnt mit einer Naturbeschreibung: es ist Nacht, der Mond geht unter und unzählige Fenster sind beleuchtet.
In der zweiten Strophe wird die Stadt beschrieben. Es herrscht darin ein unstetes Leben der Menschen, die kaum zur Ruhe kommen. Ihr Treiben wird vom lyrischen Ich als stumpfer Ton empfunden.
Im ersten Terzett wird der ständige Wechsel von Geburt und Tod beschrieben. Es scheint, dass eines in das andere übergeht und überhaupt nicht als eigenständiger Vorgang wahrgenommen wird.
In der letzten Strophe wird der Blick des Lesers in die Ferne gelenkt. Dort steht Bedrohung durch Feuer für die Stadt bevor.
Die erste Strophe beginnt also von außen - aus der Natur - mit dem Blick auf die Stadt. In den beiden mittleren Strophen wird das Leben in der Stadt beschrieben und in der letzten Strophe schweift der Blick wieder nach außen – in die Ferne – wo Bedrohung naht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in dem Gedicht „Die Stadt“ um einen Ort geht, an dem Geborenwerden und Tod klanglos ineinander übergehen. Die Menschen nehmen einander nicht wahr und „schwemmen aus und ein“ (V. 6). Von außen droht Gefahr, die jedoch nicht wahrgenommen wird.
Nun werden die sprachlichen und formalen Mittel des Gedichtes betrachtet.
Allgemein lässt sich feststellen, dass diese die subjektive Wahrnehmung des lyrischen Ichs unterstützen.
Als erstes stellt sich die Frage, warum das Sonett als Gedichtform ausgewählt wurde. Ursprünglich ist es eine Form, die im Barock sehr beliebt war. Aufschluss darüber kann die Betrachtung des Themas geben. Im Barock (ca. 1600 – 1770) war die „vanitas“ (Vergänglichkeit) zentrales Thema in vielen Gedichten. „Vanitas“ beschreibt das Bewusstsein des Menschen über die Vergänglichkeit alles Lebens. Im Zuge dessen ist auch der Ausdruck „memento mori“ (Gedenke des Todes) bekannt. Bei aller Schönheit des Lebens wird auch immer das Wissen um den Tod bedacht.
Vermutlich ist also das gemeinsame Thema – die Erfahrung von Bedrohung und Vernichtung – der Grund für die Verwendung der Sonettform.
Das Metrum2 ist ein fünfhebiger Jambus. Im traditionellen Sonett hingegen wird der Alexandriner verwendet. In den Quartetten herrscht ein umschließender Reim (abba) vor. Jedoch wird dieser ebenfalls nicht in der traditionellen (abba abba), sondern in einer abgewandelten (abba cddc) verwendet. In den Terzetten finden sich ein Haufenreime (eee, fff), statt wie im traditionellen Sonett der Schweifreim (aa b cc b). Bei diesem Gedicht handelt es sich also um eine vereinfachte Form des Sonetts. Es lässt sich vermuten, dass durch die Störung des Ablaufes dieser Gedichtform der Eindruck des Durcheinanders im menschlichen Leben in dieser Stadt verdeutlicht werden soll.
Die Kadenzen3 sind männlich oder auch stumpf, was die Monotonie im Leben der Menschen der Stadt verstärkt.
Folgende Stilmittel sind in dem Gedicht zu finden.
In Vers 1 f., 3 f., 7 f. und 13 f. gibt es Enjambements4. Diese dienen als Ausdruck der Dynamik, da in diesen Zeilen immer etwas Bewegendes geschieht. In V. 1 reißen die Wolken auf, in V. 3 „blinzeln“ die Fenster, in V. 7 ist ein Ton zu vernehmen und in V. 13 droht Feuer aus der Ferne.
Des Weiteren sind drei Personifizierungen in dem Gedicht zu finden. Es blinzeln die Fenster in V. 3 f. „mit den Lidern, rot und klein“, es drohen Schein und Feuer in V. 12 f. „im Weiten mit gezückter Hand“ und Fackeln „scheinen hoch von dunkler Wolkenwand“ (V. 14). Durch die Personifizierungen werden Gegenstände „vermenschlicht“, d. h., es werden ihnen menschliche Eigenschaften und Tätigkeiten zugeschrieben.
Das „Blinzeln“ der Fenster in Strophe ein, kann als das Flackern des Lichtes gedeutet werden. Da auf den Straßen kein menschliches Leben zu sein scheint, sind diese Fenster das Einzige, was menschlich in der Stadt erscheint. Da die Menschen selbst leblos und nur noch als Masse erscheinen. Die Fenster werden als „rot und klein“ (V. 4) beschrieben, wodurch sie in der Nacht noch stärker leuchten und schon in der ersten Strophe die Bedrohung andeuten.
Das „Drohen“ von Schein und Feuer in V. 12 f. verstärkt den Eindruck, dass das lyrische Ich nur die Gefahr sieht und nicht von wem diese ausgeht. Zudem scheint, dass diese Gefahr nicht besänftigt werden kann, wie man es bei Menschen versuchen könnte, da das Feuer ein Urelement ist. Die „dunkle Wolkenwand“ (V. 14) wird im Folgenden weiter beschrieben.
Die Alliteration5 „Feuer, Fackeln“ (V. 12) verstärkt das bedrohliche Gefühl in der vierten Strophe.
In V. 5 ist ein Vergleich zu finden: „wie Aderwerk gehen Straßen durch die Stadt“. Dieses Bild wird ebenfalls im Folgenden noch weiter betrachtet werden. Ebenso die Metapher6 „schwemmen“ in V. 6.
In V. 9 gibt es eine Aufzählung: „Gebären, Tod, gewirktes Einerlei“. Dadurch, dass die zentralen Momente im Leben eines Menschen (Geburt und Sterben) nur durch ein Komma getrennt sind, wird deutlich, dass sie in dieser Stadt überhaupt keine eigenständige Bedeutung haben. Die Geburt gibt Anlass zur Freude, der Tod Anlass zur Trauer, beides scheint es in der Stadt nicht zu geben. Gefühle existieren nicht. Es scheint kein Platz dafür zu sein. Dieser Eindruck wird durch das die Zeile abschließende „gewirktes Einerlei“ (V. 9) verstärkt. Es herrscht also ein ständiger Wechsel von Leben und Tod in der Stadt, der überhaupt nicht mehr von den Menschen wahrgenommen wird, sondern einfach nur noch geschieht.
In V. 1 und V. 7 f. findet sich eine Inversion7. Durch „Sehr weit ist diese Nacht“ wird betont, dass der Morgen – wie auch die Gefahr – naht. In V. 7 f. wird die Eintönigkeit in der Stadt betont. Auch die Alliteration „stumpfes Sein“ V. 7 betont die Monotonie des Lebens in der Metropole.
Des Weiteren finden sich in dem vorliegenden Gedicht Farbsymbole. Vorherrschend darin ist die Farbe rot. Rot ist eine Farbe mit verschiedenen, ambigen Bedeutungen. Zum einen ist rot Farbe der Liebe und Leidenschaft. Rot steht für das Feuer, das einen wärmt. Jedoch kann dieses Feuer auch gefährlich werden und vernichtend wirken. Auch das menschliche Blut ist rot, das zum einen für das Leben, zum anderen jedoch für Tod steht. In dem Kontext des Gedichts ist die Farbe rot als Zeichen der Gefahr zu verstehen. Diese Farbsymbolik wird schon in der ersten Strophe (V. 4) verwendet. Des Weiteren wird sie wieder in der vierten Strophe verwendet, als das Feuer aus der Ferne droht.
Ein letztes Stilmittel ist die o-Assonanz8 in dem Gedicht (rot V. 4, 12; drohn V. 13, toter V. 14). Die Verwendung von Wörtern, die vermehrt o-Vokale aufweisen, verleihen dem Gedicht einen speziellen Ausdruck und verstärken die wahrgenommene Bedrohung.
Zum Schluss werden die zentralen Bilder und Symbole des Gedichts näher betrachtet.
Die Stadt wird in dem Gedicht als Lebewesen beschrieben. Es besitzt Augen (V. 3 f.: Fenster, die blinzeln) und ein Adergeflecht aus Straßen (V. 5). In V. 6 schwemmen unzählige Menschen „aus und ein“. Diese Beschreibung legt die Vorstellung eines Körpers nahe, der Nährstoffe, in diesem Fall die Menschen, aufnimmt und auch wieder abgibt. Die Stadt wird also mit einem Lebewesen verglichen; die Menschen darin sind nur dazu da um diesem das Überleben zu ermöglichen. Durch die Assoziation des „Ernährens“ durch die Bewohner, wird allzu sehr deutlich, dass die Menschen in der Stadt keinen Selbstzweck haben, sondern nur als Nahrung dienen. Sie selbst scheinen kein eigenständiges, erfülltes Leben führen zu können (vgl. V. 8).
Ein weiteres Bild in dem Gedicht von Georg Heym ist die Monotonie des menschlichen Lebens in der Stadt. Alles Leben darin ist einem unendlichen Kreislauf von Geborenwerden und Sterben unterworfen (vgl. V. 9 f.). Dies wird durch den Ausdruck „blinder Wechsel“ (V. 11) verstärkt. Die Menschen haben jeden Sinn für Freude und Trauer verloren und leben nur noch vor sich dahin. Die einzigen Laute, die von den Menschen vernommen werden können, sind das „Lallen der Wehen“ und ein „langer Sterbeschrei“ (V. 10). Dazwischen scheint es nichts zu geben.
Die Menschen werden dabei auch als undefinierbare Masse durch das Adjektiv „unzählig“ (V. 6) geschildert; ebenso wie die tausend Fenster (V. 3). In dieser Stadt gibt es also keine Individualität, nur eine breite Masse von Menschen die Tag für Tag ein- und ausschwemmen. Dieses Verb (schwemmen) verdeutlicht die Willenlosigkeit dieser Individuen, denen kein anderer Sinn zugeschrieben wird, als geboren zu werden und wieder zu sterben. Ein weiteres Zeichen für das Leben der Menschen ohne Ziele ist das „stumpfe Sein“ (V. 7), in dem sie sich befinden. Von ihnen geht nur ein einziger „ewig stumpfer Ton“ (V. 7) hervor, der die Monotonie des Lebens in der Stadt weiter verstärkt.
Zuletzt werden die Bilder der herannahenden Zerstörung beschrieben. Diese wird schon im ersten Quartett durch das „Zerreißen“ (vgl. V. 2) der Wolken und den Untergang des Mondes (vgl. V. 2) vorhergesagt. Interessant bei dieser Anordnung ist auch, dass der Mond untergeht, aber dennoch keine aufgehende Sonne (Symbol der Hoffnung, Freude) zu existieren scheint. Die Stadt scheint also verloren und dem Untergang geweiht.
Diese erste Strophe steht in inhaltlicher Verbindung mit der letzten, in der die Bedrohung deutlich durch die Farbsymbolik (rot, V. 12) und die Wortwahl (rot V. 4, 12; drohn V. 13, toter V. 14) beschrieben wird.
Die „dunkle Wolkenwand“ im letzten Vers verleiht dem Gedicht zum Abschluss ein beunruhigendes Gefühl. Wolken stehen generell für Leichtigkeit und Schwerelosigkeit. Hier sind sie hier zu einer Mauer formiert, die für Härte und Eingeschlossensein steht. Dies zeigt also, dass die Stadt der Gefahr nicht entkommen kann. Das Adjektiv „tot“ kann sich auf die Farbe der Wolken beziehen – es ist zu vermuten, dass die Wolken grau bis schwarz sind – oder aber auch darauf, dass wenn sie die Stadt erreichen, den Menschen darin ebenfalls der Tod droht.
Georg Heym gilt heute als heute einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache und Wegbereiter des literarischen Expressionismus. Ein zentrales Thema dieser Epoche, wie auch in „die Stadt“, ist die Großstadt. Die drohende Zerstörung, die in dem Gedicht beschrieben wird, könnte anhand der Jahreszahl (1912) auf den ersten Weltkrieg hindeuten. Zudem sahen die Künstler dieser Epoche den Krieg als „erneuernde Kraft“ um überkommene Gesellschaftsstrukturen zu zerstören und neue Möglichkeiten zu schaffen. Somit wurde dieser in den Werken der Expressionisten oftmals herbeigesehnt und verherrlicht. So wird auch in diesem Gedicht das Leben in der Stadt als unmenschlich beschrieben und dessen nahende Zerstörung beschrieben.
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