Autor/in: Johann Wolfgang von Goethe Epoche: Sturm und Drang / Geniezeit Strophen: 9, Verse: 36 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-4, 4-4, 5-4, 6-4, 7-4, 8-4, 9-4
Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz;
Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick.
Jeden Nachklang fühlt mein Herz
Froh und trüber Zeit,
Wandle zwischen Freud’ und Schmerz
In der Einsamkeit.
Fließe, fließe, lieber Fluß!
Nimmer werd’ ich froh;
So verrauschte Scherz und Kuß
Und die Treue so.
Ich besaß es doch einmal,
Was so köstlich ist!
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!
Rausche, Fluß, das Tal entlang,
Ohne Rast und Ruh,
Rausche, flüstre meinem Sang
Melodien zu!
Wenn du in der Winternacht
Wüthend überschwillst
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.
Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt,
Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.
Es handelt sich bei dem hier abgedruckten Text um die Spätfassung aus dem Jahr 1789. Die Datierung 1778 bezieht sich dagegen auf die Frühfassung.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „An den Mond“ von Johann Wolfgang Goethe (1. Fassung 1778, 2. Fassung 1789) verbindet die Schilderung einer nächtlichen Naturszenerie mit der Thematisierung des Verlusts von Liebe und Freundschaft und der Abwendung von der menschlichen Gesellschaft. Der Rückzug in die Natur und insbesondere in die Einsamkeit der Nacht wird als Trost gegenüber den Enttäuschungen und Frustrationen dargestellt, denen das Individuum in der Gesellschaft ausgesetzt ist.
Das Gedicht besteht aus neun (in der Erstfassung nur sechs) Strophen mit je vier Versen. Dabei wechseln sich vier- und dreihebige Trochäen im Kreuzreimschema ab, sodass sich innerhalb einer Strophe jeweils die gleich langen Verse aufeinander reimen. Alle Verse haben männliche Kadenzen1, d. h. sie enden jeweils auf eine betonte Silbe. Dadurch ergibt sich eine Zäsur2 bzw. Atempause vor dem wiederum mit einer betonten Silbe beginnenden nächsten Vers. Gleichzeitig verleihen Versmaß und Strophenform dem Gedicht einen liedhaften Charakter.
Das Gedicht beginnt mit einer direkten Anrede des lyrischen Ichs an ein Gegenüber („Füllest wieder Busch und Thal“, V.1); allein der Titel des Gedichts verrät, dass es sich bei diesem Gegenüber um den Mond handelt. Diese Anrede an den Mond setzt sich in den folgenden Strophen fort, wobei sie in der 3. Strophe nur noch rudimentär durch den Imperativ „Wandle zwischen Freud‘ und Schmerz / In der Einsamkeit“ (V. 11f.) erkennbar ist. In den folgenden Strophen, die eine Erweiterung gegenüber der Erstfassung von 1778 darstellen, wird in ebenso personifizierender Weise ein Fluss angesprochen. Vereinfachend könnte man das Gedicht in drei inhaltliche Abschnitte zu je drei Strophen einteilen: Anrede an den Mond (Strophe 1-3), Anrede an den Fluss (Strophen 4, 6 u. 7) und Reflexion des lyrischen Ichs über seine seelische Befindlichkeit (Strophen 5, 8 u. 9). Dabei fällt es besonders auf, dass eine der Reflexionsstrophen – Strophe 5 – in die Anrede an den Fluss eingeschoben ist.
Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Aspekt der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs auch in denjenigen Strophen, in denen Mond oder Fluss direkt angesprochen werden, ausgesprochen präsent ist. Begriffe, die sich auf die Naturszenerie beziehen, werden konsequent solchen gegenübergestellt, die die Gefühlswelt des lyrischen Ichs betreffen (Strophe 1: „Busch und Tal“, V. 1 – „Meine Seele“, V. 4; Strophe 2: „Gefild“, V. 5 – „Geschick“, V. 8). Die Naturbeschreibung fungiert durchgehend als Spiegel für das innere Empfinden des lyrischen Ichs.
Dies wird bereits in der 1. Strophe unmittelbar augenfällig: Ebenso wie der Mond – der Wahrnehmung des lyrischen Ichs zufolge – „Busch und Thal / Still mit Nebelglanz“ füllt (V. 1f.), soll er „endlich auch einmal“ (V. 3) die „Seele“ des lyrischen Ichs „löse[n]“ (V. 4 / V.3) – was man als eine Umschreibung für den als Erlösung empfundenen Tod deuten kann. Wenngleich das Adverb „endlich“, anders als im heutigen Sprachgebrauch, im Verständnis des 18. Jhs. nicht zwingend einen Wunsch bzw. eine Hoffnung ausdrückt, sondern dem Wortsinne nach lediglich ‚am Ende‘ bedeutet, scheinen diese Verse doch eine gewisse Todessehnsucht auszudrücken. Wenn das lyrische Ich sich danach sehnt, dass seine Seele ‚gelöst‘ wird – und zwar „ganz“ (V. 4) –, dann bedeutet das im Umkehrschluss, dass es seine Seele als ‚gebunden‘ empfindet und darunter leidet. Die Gründe hierfür werden in den folgenden Strophen näher ausgeführt – zunächst in der Anrede an den Fluss: „Fließe, fließe, lieber Fluß! / Nimmer werd‘ ich froh; / So verrauschte Scherz und Kuß / Und die Treue so“ (Strophe 4, V. 13-16). Das lyrische Ich spricht hier den Verlust des Liebesglücks an; der Fluss erscheint in diesem Zusammenhang als Sinnbild von Wandel und Vergänglichkeit, auch von Ambivalenz – da er sowohl zerstörerisch („Wenn du in der Winternacht / Wüthend überschwillst“, V. 25f.) als auch belebend („Oder um die Frühlingspracht / Junger Knospen quillst“, V. 27f.) wirken kann. Dass er trotz dieser Ambivalenz als „lieber Fluß“ (V. 13) angesprochen wird, ist kein Widerspruch, da ja auch die Liebe selbst vom lyrischen Ich als ambivalent empfunden wird: Sie ist „köstlich“ (V. 18), bereitet aber auch „Qual“ (V. 19).
Die beiden letzten, durch ein Enjambement3 („Und mit dem genießt, / Was, von Menschen nicht gewußt“, V. 32f.) miteinander verknüpften Strophen des Gedichts ziehen ein Fazit aus den zuvor angestellten Beobachtungen und Reflexionen: Die Konsequenz aus den Ambivalenzerfahrungen im Bereich der Liebe besteht für das lyrische Ich darin, sich „vor der Welt“ (V. 29) zu ‚verschließen‘ – also in der Abwendung von der menschlichen Gesellschaft; einer Abwendung, die jedoch „[o]hne Haß“ (V. 30) geschehen soll. Dass das lyrische Ich denjenigen, dem dies gelingt, „[s]elig“ nennt (V. 29), lässt darauf schließen, dass es ihm selbst an dieser Seligkeit mangelt – wohl auch, weil eine weitere Bedingung, die er dafür nennt, unerfüllt bleibt: „Selig“ ist vor allem der, der „[e]inen Freund am Busen hält“ (V. 31); „Busen“ ist hier im Sinne von „Brust“ zu verstehen. In der Erstfassung von 1778 stand an dieser Stelle statt „Freund“ „Mann“ – ein klarer Hinweis auf das in der Literatur des 18. Jhs. vielfach präsente Ideal der Männerfreundschaft als einer ein reineres, ungetrübteres Glück versprechenden Alternative zur heterosexuellen Liebe. Gerade ein solcher Freund fehlt dem Sprecher aber offenbar – eben deshalb wendet er sich ja an den Mond, dessen „Blick“ (V. 6) er mit „des Freundes Auge“ (V. 7; in der Erstfassung: „der Liebsten Auge“!) vergleicht.
Im Übergang zur letzten Strophe wird ausgeführt, worin diese ‚Seligkeit‘, die das lyrische Ich sich von einem idealen Freund verspricht, besteht: Zusammen mit einem solchen Freund ließe sich „genieß[en]“ (V. 32), „Was, von Menschen nicht gewußt / Oder nicht bedacht, / Durch das Labyrinth der Brust / Wandelt in der Nacht“ (V. 33-36). Die „Brust“ steht hier metonymisch4 für die Gefühlswelt des Menschen, in Abgrenzung zu seiner Rationalität, die durch den Kopf repräsentiert wird. Diese Gefühlswelt wird als ein „Labyrinth“ beschrieben, also als rätselhaft und undurchdringlich – und darum „von Menschen nicht gewußt / Oder nicht bedacht“ (in der Erstfassung wird es noch schärfer formuliert: „Was den Menschen unbewusst / Oder wohl veracht“). Für das lyrische Ich ist jedoch gerade dieses Unbewusste und Unerklärliche eine Quelle des Genusses.
In diesen Versen drückt sich eine oppositionelle Haltung gegenüber der einseitigen Betonung der Rationalität des Menschen in der Epoche der Aufklärung aus. Die Abgrenzung vom aufklärerischen Rationalismus durch eine verstärkte Hinwendung zu den emotionalen und irrationalen Aspekten der menschlichen Seele, die sich insbesondere in der Propagierung eines intuitiven Einsseins mit der Natur (als Gegenbild zur von Rationalität und Konventionalität geprägten menschlichen Gesellschaft) äußert, ist charakteristisch für die literarische Bewegung des ‚Sturm und Drang‘, zu deren Hauptvertretern der junge Goethe gehörte und in deren Kontext die Erstfassung des Gedichts entstand. In der überarbeiteten Fassung von 1789 ist die für den ‚Sturm und Drang‘ typische Radikalität tendenziell abgemildert, aber immer noch deutlich zu erkennen. Auch die schlichte, fast volksliedartig anmutende Form des Gedichts weist auf den ‚Sturm und Drang‘ hin, der sich damit von der in der rationalistischen Aufklärung – und später wieder in der Klassik – vorherrschenden Orientierung an antikisierenden Vers- und Strophenformen abgrenzte. Inhaltliche und formale Tendenzen des ‚Sturm und Drang‘ wurden eine Generation später – nachdem die ehemaligen ‚Stürmer und Dränger‘, und insbesondere Goethe selbst, sich der Klassik zugewandt hatten – von der literarischen Bewegung der Romantik wieder aufgegriffen. Es fällt auf, wie sehr Goethes Gedicht „An dem Mond“ – besonders in der Idealisierung der „Nacht“ (V. 36) als Freiraum für Individualität und Emotionalität und als Sphäre des Unbewussten und Irrationalen, in Abgrenzung von der Lichtmetaphorik der rationalistischen Aufklärung – auf die Dichtung der Romantik vorausweist (vgl. z. B. Novalis, „Hymnen an die Nacht“; Eichendorff, Mondnacht).
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