Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In Goethes Gedicht „Neue Liebe, neues Leben“, das er 1775 verfasste, geht es um die Liebe Goethes zu Lilli Schönemann, die ihn wider Willen sehr einengte.
Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils acht Versen. Es ist durchgängig im vierhebigen Trochäus geschrieben. Die jeweils ersten vier Strophen weisen einen Schweifreim auf (abab) und die vier folgenden Verse einen Paarreim. Die Kadenzen1 treten in allen Strophen nach dem gleichen Schema auf: Die ersten und dritten Verse haben weibliche, also zweisilbige Kadenzen, die zweiten und vierten Verse männliche Kadenzen.
Die erste Strophe beginnt mit zwei rhetorischen Fragen in den ersten beiden Versen. Das erste Wort „Herz“ im Vers 1 lässt- wie auch schon der Titel- vermuten, dass es sich um ein Gedicht handelt, das die Liebe als zentrales Objekt der Betrachtung hat. Die Anapher2 „was“ und der parallele Aufbau der rhetorischen Fragen heben diese hervor. Im Vers zwei wird durch das Verb „bedrängen“ deutlich, dass sein Herz nicht freudig gestimmt ist. Er spricht sein Herz an und personifiziert es, indem er ihm viele Fragen stellt. Es folgt eine erste Erklärung für den Zustand, indem sich das Herz befindet, ein „fremdes, neues Leben“ (Vers 3). Der nächste Vers verstärkt den Eindruck, dass das Herz „bedränget“ ist.
Denn mit dem „Herz“ im ersten Vers meint Goethe sich selbst. Die Fragen, die er seinem Herz stellt, müsste er eigentlich sich selbst stellen. Der vierte Vers „ich erkenne dich nicht mehr“ unterstreicht, dass es eine Veränderung in seinem Leben gab, die Goethe in große Konflikte und innere Widersprüche stürzt. Im Gegensatz zu den restlichen Versen, die allesamt im Präsens geschrieben sind, sind die Verse fünf und sechs im Präteritum geschrieben. Denn es handelt sich um eine „Rückblende“, es wird beschrieben, was alles infolge der neuen Liebe „weg“ ist. Nämlich „alles warum du dich betrübtest“ (Vers 6), also alles, was Goethe zuvor belastete. Auch der „Fleiß“ und die „Ruh“ (V. 7) seien nun weg. Wenn man betrachtet, was denn nun alles mit der neuen Liebe anders wurde, alles Gute und alles Schlechte („liebtest“, V. 5 und „betrübtest“, V. 6), so merkt man, dass nun schlichtweg alles weg ist. Sowohl das materielle als auch das subjektive Gefühl der Ruhe. Der Seufzer „Ach“ im achten Vers macht deutlich, wie sehr Goethe diesen Verlust bedauert. Das Ausrufezeichen macht den letzten Vers der ersten Strophe zugleich zu einem Vorwurf: „Wie kommst du nur dazu!“ (V. 8).
An dieser Stelle macht es Sinn, den biographischen Hintergrund Goethes zu erklären. Als er 1775 in Frankfurt die Bankiers-Tochter Lilli Schönemann kennen lernte und sich mit ihr verlobte, hatte dies die Ablehnung der Beziehung durch beide Familien zur Folge. Durch diese Liebe, die Verbindung über die Schichten der Gesellschaft hinweg, fühlte Goethe sich bald eingeengt. Nach einem halben Jahr löste er die Verlobung.
Die Verse 5 bis 7 stehen für Goethes altes Leben, das nun völlig verändert wurde. Die Verlobung mit einer Angehörigen der Oberschicht erklärt auch, warum das Gedicht, eher untypisch für die Epoche des Sturm und Drangs, ein einheitliches Reimschema, geordnete Kadenzen aufweist und kein völlig von der Realität losgelöstes Schwärmen enthält.
In der zweiten Strophe redet Goethe weiterhin das Herz an. Das Verb „fesseln“ zeigt, dass die Bindung des Herzens an seine Geliebte übermächtig ist. Über vier Verse hinweg wird die rhetorische Frage gestellt, die wohl dem Grund für diese Bindung auf den Zahn fühlen soll, die Bindung, die so unfreiwillig und unglücklich wirkt. Die „Jugendblüte“ (V. 9) als eine mögliche Ursache, also das wohl recht junge Alter der Lilli wird ebenso erwähnt wie ihre „liebliche Gestalt“ (V. 10), ihr annehmbares Äußeres und der „Blick voll Treu und Güte“ (V. 11). Diese positive Schilderung seiner Lilli stehen im Kontrast des diese Charakterisierungen syntaktisch umfassenden Ausdrucks „mit unendlicher Gewalt gefesselt“ (Vers 9 und 12) und bilden eine Antithetik. Die Jugendblüte, die Gestalt und der Blick sind Personifizierungen. Die Anapher „diese“ (Vers 10 und 11) verstärken diesen Eindruck. Die „unendliche Gewalt“, mit der sein Herz an Lilli gefesselt wird, ist eine Hyperbel3, ein Superlativ. Goethe scheint keinen Einfluss auf die Liebe zu haben, scheint ihr auch nicht zuzustimmen.
Genau diese Hypothese wird durch die folgenden Verse bestärkt. In den Versen 13 und 14 erklärt er, wie er sich versucht zu lösen. Das Trikolon „entziehen“, „ermannen“, „entfliehen“ ist sehr eindrücklich. Doch jeder Versuch des Lösens, der Trennung führt ihn sofort, „im Augenblick“ (V. 15) „zu ihr zurück“ (V. 16). Der Seufzer im Vers 16 bestärkt den Eindruck, dass Goethe völlig machtlos ist und keine Chance hat, zu entkommen.
Dieses „sich- nicht- lösen- können“ wird in der dritten Strophe wieder aufgefasst. Die Alliteration4 „wider Willen“ (V. 20) zeigt, dass dies alles unfreiwillig geschieht. An einem „Zauberfädchen“ (V. 17) werde er festgehalten. Er sieht nun die Fähigkeiten der Lilli als Zauberei, als Fluch und schreibt ihr übernatürliche Kräfte zu. Bei diesem Zauberfaden handelt es sich ja um ein „Fädchen“. Doch selbst dies ist nicht zerreißbar. Und das Mädchen hält ihn, einen gestandenen Mann, einfach fest. Dies kann nur mit übernatürlichen Kräften vonstattengehen und so ist auch im 21. Vers die Rede von einem „Zauberkreise“. Das erste Wort „muss“ und „auf ihre Weise“ (nicht auf seine eigene Weise!) machen abermals deutlich, dass die Bindung, die Liebe, ohne sein Einverständnis stattfindet. Er sehnt die alten Zeiten herbei, der Seufzer im Vers 23 zeigt, wie er diesen Zwang, an seine Geliebte gebunden zu sein, bedauert. Der letzte Vers enthält die Anapher „Liebe“ und einen Appell: „Lass mich los“. Diese Forderung des Loslassens betont ein letztes Mal, wie sehr Goethe sich in der Liebe zu Lilli Schönemann eingeengt fühlt, vielleicht ist es auch das Bedauern darüber, dass er sich nun anpassen muss.
Der Titel letztendlich fasst die Hauptaussage einigermaßen prägnant zusammen. Es handelt sich um eine Anapher, eine Alliteration. Eine neue Liebe bringt auch ein neues Leben mit sich. Und, wie Goethe zeigt, erfordert auch einiges an Anpassung. Wie ich bereits erwähnte, hat Goethe mit dem Gedicht eine für die „Stürmer und Dränger“ ungewöhnlich geordnete Form gefunden. Typisch für seine Zeit sind die Personifizierungen und das Darstellen und Erklären der Liebe durch Bilder der Natur, vgl. „Jugendblüte“, Vers 9. Die zahlreichen Gedankenstriche, Kommas, Ausrufe- und Fragezeichen lassen den Text lebendig wirken, geben dem Gedicht eine Dynamik. Für die Epoche des „Sturm und Drang“ ebenfalls typisch ist der Egoismus. Auch Goethe schildert sein eigenes Dilemma, sein Spiel als Marionette in den Händen seiner übermächtigen Freundin, ohne dabei auf ihre Gefühle einzugehen. Dass während des ganzen Gedichts die männliche Kadenz des jeweils zweiten Verses der Strophen von der weiblichen Kadenz der Verse eins und drei umschlossen, ja eingerahmt wird, zeigt auch deutlich, wie sehr Goethe eingeengt wird, wie wenig „Bewegungsfreiraum“ er hat. Vor allem auch in den Paarreimen der zweiten und dritten Strophe spielen die Kadenzen und der Inhalt eng zusammen. In der Schilderung seiner „Fluchtversuche“ in den Versen 13 und 14 verwendet er weibliche. Sie scheinen seinem Tun einen Riegel vorzuschieben. Und auch in den Versen 21 und 22 bilden weibliche Kadenzen einen Rahmen, gleich einem „Zauberkreise“.