Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Wie viele junge und gebildete Menschen zu dieser Zeit verlangte es den 25 Jahre alten Johann Wolfgang von Goethe, neue Lebensinhalte aufzustellen. Angeregt durch die Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit, durch die Forderung der Aufklärung nach Benutzung des eigenen Verstandes, taten viele junge Dichter ihre Unzufriedenheit mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen kund und forderten neue Lebensideale und neue Werte für ein menschliches Leben. So strebten viele danach, den Gefühlen und Empfindungen des Menschen eine neue Bedeutung zu geben, da sie in der Aufklärung völlig an Bedeutung verloren hatten. Außerdem sollte jeder Mensch nach seiner eigenen Erfüllung seines Lebens suchen, ohne sich dabei an Normen oder Dogmen halten zu müssen. Diese neue Einstellung zu Leben und diese neuartigen Ideale für ein Leben fasst Goethe 1774 mit seinem Gedicht „An Schwager Kronos“, das fast einen philosophischen Charakter hat, zusammen. Damit läutet er die Zeit des Sturm und Drang ein, deren Mitbegründer er ist, wie an diesem Gedicht deutlich wird.
Das Gedicht, das am 10.Oktober 1774 entstanden ist, besteht aus sieben Strophen mit unterschiedlicher Versanzahl, die zwischen fünf und acht Stück variiert. Auf Reime verzichtet das Gedicht völlig, genau so wie auf ein regelmäßiges Metrum1. Auf diese Weise wird der Inhalt und die Intention weiter in den Mittelpunkt gerückt, die der Leser nach dem erstmaligen Verstehen nicht gleich wieder vergessen soll, sondern auf seine persönliche Situation übertragen und verinnerlichen möge. Das Thema des Werkes ist nämlich das bereits angesprochene Lebensideal und -Gefühl der neuen Epoche des Sturm und Drang. Das Gedicht vermittelt beim ersten Lesen sofort eine leidenschaftliche, gedrängte und damit ehrgeizige Stimmung. Vor allem die vielen Bilder und Symbole, aber auch das inkonstante Versmaß führen zu dieser Situation. Des Weiteren glänzt das Gedicht durch unvollständige Interpunktionen und Ellipsen2 („…Frisch den holpernden/ Stock Wurzeln Steine Trott/ Rasch in's Leben hinein!“, V. 6-8), wie durch zeitgenössische Wortwahl, was keine Überraschung darstellt. Zudem benutzt Goethe aber auch Wörter und Begriffe aus der griechischen Mythologie was die Nähe zur Aufklärung zeigt (vgl. V. 1; 39).
Die erste Strophe kann man als eine Art Einführung ins Thema betrachten. Das lyrische ich spricht dabei zu Kronos, dem nach Goethes Verständnis griechischen Gott der Zeit, der als personifizierende Allegorie3 anzusehen ist. Er symbolisiert das vergehende Leben eines Menschen. Das lyrische Ich beschreibt in den Versen zwei bis sieben die bisherige Situation des menschlichen Lebens auf der Erde, wie sie gegen die tatsächlichen Wünsche des Menschen besteht und ihnen ein Hindernis ist („…vor die Stirne dein Haudern“, V. 5; „Stock, Wurzeln, Steine…“, V. 7). Dieses wird mit einer Akkumulation in seinem Ausmaß geschildert (vgl. V. 7). Dabei fasst die Epipher der Verse zwei und sieben endend auf „Trott“, diese vorherrschende Situation ein, ein Rahmen ist geschaffen. Die Situation ist das Leben der Aufklärung, das dem lyrischen Ich widerstrebt. Kronos, der, wie bereits erklärt, personifizieren zu verstehen ist, wird im gesamten Gedicht als Postkutscher (Schwager) hingestellt, der durch die Zeit eines Lebens fährt und damit für jeden Weg, vergleichbar mit jedem auf und Ab des Lebens verantwortlich gemacht wird. Daher werden Begriffe wie „Trott“ (V. 2; 7), „spu(t)e dich…“ (V. 1) oder „Berg hinauf“ (V. 11) benutzt. Die erste Strophe wird im Vers acht mit einer Aufforderung an jenen Kronos, „in das Leben hinein“ zu fahren, also es zu leben.
Die folgenden fünf Strophen sind der Hauptteil des Gedichtes, die ein solches Leben beschreibt. In Strophe zwei geht es um die Bemühungen, die für das Leben vom Menschen gefordert sind. Er soll sich anstrengen und nicht verzagen, ausgedrückt durch die Epipher und Worte von Vers zwölf, der sogar als Aufforderung formuliert ist, um durch diesen schwierigen Schritt den Lohn zu erhalten, der in der Strophe drei gezeigt wird. Es geht also „hinauf“ (V. 11) für Kronos, bevor in Strophe drei die Höhe erreicht hat. Hier zeigt sich der Lohn der Mühe, die zufriedenstellende und glücklich machende Selbsterfüllung, die angestrebt wurde. Er wird umschrieben vom „herrlich (en) Blick ins Leben hinein“ (V. 14f.) was das erreicht Haben einer besonderen Position bedeutet, die einem erlaubt, das Leben zu überblicken und dem „ewigen Leben“ ähnelt. In Strophe vier zeigt sich eine weitere Neuerung des Sturm und Drang, es sind dem Menschen nämlich Fehler gestattet, wie es vorher nicht üblich war. So ist es auf einmal möglich und sogar gewollt, sich an den Möglichkeiten des Lebens zur Leidenschaft zu erfreuen und diese zu nutzen, wie durch das Mädchen als Symbol für Sexualität und Lust beschrieben. Es wird sogar direkt dazu aufgefordert sichtbar an der Parenthese: „Labe dich!“ in Vers 23. Des Weiteren wird diese Freude mit Bildern (vgl. V. 24f) verdeutlicht. Kronos, der Postkutscher des Lebens, fährt hier „seitwärts“ (V. 19).
Strophe fünf erzählt vom Ende des Lebens, die Kutsche „fährt“ „hinab“ (V. 26). Die Strophe geht inhaltlich direkt in die sechste über, die nun das Sterben beschreibt. Das „hinauf“ in Vers elf (Strophe zwei) und das hinab in Vers 26 (Strophe fünf) sind bewusst gewählt, da sie in ihrer klanglichen Ähnlichkeit den Kontrast zur Geltung bringen. Das lyrische Ich fordert in den Strophen fünf und sechs den Tod, bevor es die unschönen Leiden des Alters erleben muss, die mit vielen Bildern und Metaphern4 (vgl. V. 29-35) aufgezählt werden. Dies ist ebenfalls als Strömung des Sturm und Drang zu erkennen: der Selbstmord als Mittel zu Selbsterfüllung. So soll ein bildliches „Feuermeer“ (V. 33) das lyrische Ich in das symbolische „Tor der Hölle“ (V. 36) reißen, worin einmal mehr das neue leidenschaftliche und gefühlsprägende Lebensgefühl zum Ausdruck kommt. Damit schließt sich der Kreis des Lebens, den der Mensch des Sturm und Drang auf diese neue Art und Weise durchwandern soll.
Schließlich beendet Goethe das Gedicht mit Strophe sieben als Schlussteil in dem er den Epochenwechsel ankündigt. Hier wird Kronos aufgefordert, sein „Horn“ (V. 37) zu blasen, um in diesem übertragenen Sinne dem allegorischen „Orkus“ (V. 39) den neuen und besseren Menschen anzukündigen, der den der Aufklärung ablöst, beschrieben durch die letzten zwei Verse: „Drunten von ihren Sitzen/ sich die Gewaltigen lüften“. Damit verkündet Goethe ahnend, dass sich „seine“ neue Epoche durchsetzen wird. Somit verbindet er mit dieser Strophe den Inhalt (mit der Fahr Kronos') mit der Realität der Lyrik und Zeitgeschichte (mit der Intention des Epochenwechsels).
Johann Wolfgang von Goethe will mit diesem Gedicht und der „Fahrt“ seines Kronos also das besagte neue Lebensgefühl zeigen und bekannt machen. Aus diesem leiten sich die Ideale des Lebens für die jungen Künstler des Sturm und Drang ab, wie Goethe in seinen jungen Jahren einer war. Dieses neue Leben lebt auch Goethes Werther in seinem Werk „Die Leiden des jungen Werthers“, alle Gefühle und Emotionen, die den Sturm und Drang prägen, in sich vereint. Außerdem wird es in Schillers „Die Räuber“ deutlich, wo die Hauptpersonen von maßgebenden Gefühlen hin- und hergerissen werden. Ich persönlich halte das Gedicht „An Schwager Kronos“ für ein auf Grund der Sprache schwieriges, aber durchaus intelligentes Werk Goethes, der den Gedanken der Zeit perfekt trifft. Ebenso lässt sich dieser Gedanke aber auch auf die heutige Zeit übertragen, in der den Menschen auch oft die Lebensphilosophie fehlt, was das Gedicht zusätzlich interessant macht.