Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das vorliegende Gedicht, „Künstlers Abendlied“ entstand 1774 durch Johann Wolfgang von Goethe. Veröffentlicht wurde es erstmals im Jahr 1789. Aufgrund des Entstehungsdatums ist es daher eindeutig der literarischen Epoche des Sturm und Drang zuzuordnen, der seine Hauptschaffenszeit 1767-1785 verzeichnete. Das Thema ist ein innerlicher Monolog eines Dichters – symbolisiert als Künstler – dem es nicht gelingt, die Natur als Ideal in seiner Kunst abzubilden.
In diesem Werk schlagen sich die Einflüsse der Epoche des Sturm und Drang sehr charakteristisch nieder. Die Künstlergestalt des lyrischen Ichs verkörpert den Willen nach Individualität und Lebendigkeit, das es in seinem künstlerischen Schaffen ausdrücken will. Es wendet sich eher von der Rationalität und Allgemeingültigkeit der Aufklärungsbewegung ab und ist ein schöpferisches Genie, was sich nur an der Natur orientiert.
Der allgemeine Aufbau des Gedichtes ist sehr regelmäßig. Es besteht aus fünf Strophen, die jeweils wiederum aus vier Versen bestehen. Es ist im Kreuzreim geschrieben und im Endreim wechseln sich jeweils die weibliche und männliche Kadenz1 ab. Dies wird auch im Metrum2 durch einen Wechsel von siebenhebigem und achthebigem Trochäus deutlich. Diese Regelmäßigkeit ist eher untypisch für den Sturm und Drang, da die Dichter sich in dieser Epoche von regelmäßigen, leicht zu erlernenden Normen der Aufklärung abwenden, um ihre Individualität herauszustellen.
Natürlich wird aber auch der Individualitätsgedanke in diesem Gedicht veranschaulicht. Es findet innerhalb des Gedichtes ein Wechsel des Tempus statt. Eine Strophe im Präteritum wird hier, ähnlich eines Rückblicks von jeweils eine Strophe im Präsens umschlossen. Es entsteht eine Dreiteilung des Gedichtes, ähnlich einer Rahmenhandlung. Diese drei Sinnesabschnitte beinhalten deshalb auch jeweils ein unterschiedliches Thema. In den ersten zwei Strophen steckt das lyrische Ich in einer innerlichen Schöpfungskrise. Es will die Natur in deinen Werken fassen (V. 8), kommt jedoch zu keinem Ergebnis. Im zweiten Sinnesabschnitt – der dritten Strophe – denkt das lyrische ich an seine früheren Werke, (vgl. V. 9f.) die nur durch die Inspiration durch die Natur entstanden sind zurück. Im dritten Sinnesabschnitt sehnt sich das lyrische Ich nach der von ihm offensichtlich personifizierten Natur (V. 13) und beschreibt seine Freude an ihr und den Grund für sein künstlerisches Schaffen sehr ausführlich.
In der ersten Strophe sind jeweils die beiden aufeinanderfolgenden Verse durch ein Enjambement3 miteinander verbunden. Die Strophe wird durch den klagenden Ausruf „Ach“ (V. 1) des lyrischen Ichs eingeleitet, was bereits die bedrückte Stimmung der gesamten Strophe erkennbar macht. Im weiteren Verlauf appelliert das lyrische Ich an seine eigene „innere Schöpfungskraft“ (V. 1), die durch den „Sinn ersch[allen]“ soll. Die vorliegende Personifizierung dieser beiden Begriffe verdeutlicht nochmals die Zusammengehörigkeit der ersten beiden Verse.
Dieses Muster wird auch in den folgenden Versen fortgesetzt, wobei jedoch zwei Metaphern4 die Verse verbinden. Es wird der Wunsch formuliert, dass eine „Bildung voller Saft“ (V. 3) aus seinen Fingern „quölle“ (V. 4). Dieser Wunsch wird durch den Modus des Konjunktivs dargestellt und unterstreicht die flehende Bitte nach Inspiration.
Die Verbindung der zusammengehörigen Verse zu einer Sinnabschnitt-bildenden Strophe wird durch die Anapher „Daß“ im ersten und im dritten Vers geschaffen.
In der zweiten Strophe bilden – im Unterschied zur ersten – der erste und der dritte sowie der zweite und der vierte Vers einen Konsens. Dies wird durch Anaphern5 der zusammengehörigen Verse verdeutlicht. Die gesamte Strophe besteht aus parataktischen, aneinandergereihten Sätzen.
Der erste Vers veranschaulicht die schlechte Verfassung des Künstlers, der nur noch zittert und stottert (vgl. V. 5). Der Künstler kann jedoch seine Arbeit „nicht lassen“ (V. 6), da er selbst einen großen inneren Drang verspürt, sein Werk zu erschaffen. Dabei ist er sehr perfektionistisch und will der utopischen Vorstellung nachkommen, die Natur, die er kennt und fühlt in sein Werk zu bannen (vgl. V. 7f.). Dies unterstreicht wiederum den für den Sturm und Drang typischen Geniekult.
Die dritte Strophe bildet – wie bereits schon erwähnt – eine ganz eigene Einheit m Gedicht. Sie beinhaltet einen Rückblick auf das künstlerische Schaffen des lyrischen Ichs in der Vergangenheit (vgl. V. 9f.). Jedoch ist sie aber formal wie die zweite Strophe aufgebaut, was eine Einheit des Gedichtes schaffen und auch den Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit verdeutlichen soll. Durch den anaphorisch dargestellten Vergleich mittels des Wortes „wie“ am Anfang des ersten bzw. dritten Verses wird diese gleiche Form hier herausgestellt. Außerdem wird die Personifikation6 des Sinns aus der ersten Strophe noch einmal aufgegriffen, welcher sich dem lyrischen Ich in der Vergangenheit sehr oft erschloss (vgl. V. 10). Der Künstler beschreibt die Vergangenheit sehr euphemistisch, indem er zum Beispiel auch beim Anblick einer „dürre[n] Heide“ (V. 11) als Freudenquell für den Sinn beschreibt (V. 12). Es wird auch der Vergleich zur heutigen Zeit, in der der Sinn sehr einfallslos ist gezogen, was die Entwicklung des Sinns geradezu antithetisch beschreibt.
In der vierten Strophe bilden – wie auch in der ersten – die aufeinanderfolgenden Verse einen Sinnabschnitt innerhalb der Strophe. Die Erzählform wechselt wieder in das Präsens. Der Übergang zwischen dritter und vierter Strophe und somit der Übergang zwischen Gegenwart und Vergangenheit wird durch die Verwendung des Wortes „wie“ (V. 13) am Strophenanfang geschaffen. Das lyrische Ich sehnt sich nach der Natur (vgl. V. 13), die es wiederum personifiziert, wendet sich diesmal in direkter Form an sie und beschreibt die Natur als „treu und lieb“ (V. 14). Metaphorisch vergleicht es die Natur mit einem „lust’gen Springbrunn“ (V. 15) der aus „tausend Röhren spiel[t]“ (V. 16), um die Vielfalt der Natur zu verdeutlichen.
In der fünften Strophe findet ein weiterer Zeitformwechsel in das Futur statt. Um wieder eine symbolische Brücke zwischen den Strophen zu bauen wird jedoch das Prinzip der zusammengehörenden, aufeinander folgenden Verse aus der vorhergehenden Strophe beibehalten. Inhaltlich wird jetzt erst deutlich, warum das lyrische Ich die Gestalt eines Künstlers annimmt. Durch seine Kunst erhofft sich das lyrische Ich nämlich aus der bürgerlichen Welt ausbrechen zu können und aber trotzdem als Genie in der ewig in seinen Werken weiterlebt (vgl. V. 19f.).
In diesem Gedicht das Naturverständnis des Sturm und Drang als das Reine, Unverfälschte und das einzig Wahre sehr deutlich herausgebildet. Das lyrische Ich in Gestalt des Künstlers wird wahrscheinlich in Wirklichkeit die Rolle eines Dichters einnehmen, denn die Dichtung war im Sturm und Drang eines der höchst angesehensten Künste. Der Dichter will sich selbst von der bürgerlichen Welt abgrenzen und hat als Genie auch als Einziger das Vermögen zu empfinden, was aufzeigt, dass die Dichtkunst die einzige Möglichkeit zum Ausbruch aus dem bürgerlichen Alltag darstellt.
Alles in Allem ist dieses Werk also ein Paradebeispiel für den Sturm und Drang, da sich alle Motive, Denkweisen und Ansichten der damaligen Zeit sich in diesem Gedicht widerspiegeln.