Autor/in: Johann Wolfgang von Goethe Epoche: Sturm und Drang / Geniezeit Strophen: 3, Verse: 20 Verse pro Strophe: 1-8, 2-4, 3-8
Und frische Nahrung, neues Blut
Saug’ ich aus freyer Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan,
Begegnen unserm Lauf.
Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder?
Goldne Träume kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so Gold du bist;
Hier auch Lieb’ und Leben ist.
Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne,
Weiche Nebel trinken
Rings die thürmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.
Die Literaturepoche des Sturm und Drangs: Gegenbewegung oder Teil der Aufklärung? Diese und andere spannende Fragen beantwortet euch der Germanist Dr. Tobias Klein von Huhn meets Ei: Katholisch in Berlin im Gespräch mit dem Podcaster Wilhelm Arendt.
Das Gedicht stammt aus einem Tagebuch, dass Goethe bei seiner Reise in die Schweiz schrieb. Konkreter Anlass war eine Bootsfahrt auf dem Zürichsee, weswegen das Gedicht auch unter dem Titel aufm Zürichersee auftaucht. Unter diesem Titel schrieb Goethe am 15. Juni 1775 seinen Tagebucheintrag.
Das Gedicht aus dem Tagebuch wurde von Goethe später noch einmal geändert und veröffentlicht. Im Nachfolgenden wird auf die spätere Fassung des Gedichts eingegangen.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Lovis Corinth: Walchensee (1924)
Im Mai 1775 trat der junge Goethe mit Freunden seine erste Schweizer Reise an, dabei schrieb er das Gedicht „Auf dem See“, ganz im Zeichen der Zeit wird dabei die Reise als „Geniereise“ bezeichnet. Die erste Fassung schrieb Goethe in sein Tagebuch, die zweite, Überarbeitete, zum Druck 1789. Hier wird die Überarbeitete interpretiert, da sie verbreiteter ist. Obwohl das Gedicht am Züricher See entstand, nennt die Überschrift keinen bestimmten See, Goethes Erlebnis ist als allgemein gültig zu verstehen.
Das Gedicht beschreibt die Wiedergeburt eines lyrischen Ich durch Kraftschöpfungen aus der Natur. Erinnerungen an vergangene Zeiten versucht das lyrische Ich durch Zuwendungen zu der Natur, welche „hold und gut“ ist, zu verdrängen. Die Entwicklung durch das sich ändernde Verhältnis zu Natur und Welt des lyrischen Ich ist prägend für den Aufbau des Gedichts. Die erste Strophe beschreibt die fürsorgliche, mütterliche Natur in der Gegenwart und dessen positive Wirkung auf das lyrische Ich. Sie besteht aus acht Versen, im Kreuzreim geschrieben. Bestimmt wird die Strophe dabei, was zu dem beschriebenen Wellengang passt, durch das sich abwechselnde vier- und dreihebige jambische Versmaß. Der Eindruck von Eintönigkeit entsteht durch die immer männlich endenden Verse.
Die zweite Strophe stellt inhaltlich einen Einschnitt dar, das lyrische Ich wird in Gedanken zur selbst erlebten Vergangenheit gebracht. Diese Veränderung lässt sich im Versmaß ebenfalls erkennen, so findet man anstatt der wie in dem ersten Abschnitt verwendeten Jamben nun vierhebige Trochäen. Das Reimschema wird auch verändert, Paarreime sind bestimmend. Der Rhythmus ändert sich ebenfalls durch die veränderten Kadenzen1, der erste Kreuzreim ist weiblich, der zweite männlich. Allerdings soll dem zweiten Abschnitt keine allzu große Gewichtung zukommen, da dieser nur aus 4 Versen besteht (8/4/8).
In der dritten Strophe ist die Betrachtung der Natur allumfassend. Das lyrische Ich scheint in den Erweiterungen der Natur (Sterne, Morgenwind, ...) aufgegangen zu sein. Auch dieser Abschnitt hebt sich dabei von den übrigen beiden im Versmaß ab, er kehrt zurück zu dem in der ersten Strophe verwendeten Kreuzreim mit den 8 Versen. Wie schon in der zweiten Strophe weist dieser Abschnitt zuerst weibliche, dann männliche Kadenzen auf. Außerdem lassen sich dreihebige Trochäen sowie einige Daktylen erkennen.
Der zentrale Aspekt des ersten Abschnittes ist die mütterliche, nährende Natur. Die Vorstellung eines saugenden Embryos der ersten Fassung verdeutlicht die gefühlsbetonte und innige Verbindung zur Natur, so werden intensiv wirkende Formulierungen wie „frische Nahrung, neues Blut“ verwendet. Da der saugende Embryo den Vorgang des Nährens voraussetzt, offenbart sich die Abhängigkeit des lyrischen Ich von der Mutter-Natur. Außerdem scheint Freiheit eine grundsätzliche Voraussetzung für die durch die Natur erhaltene Kraft zu sein: „aus freier Kraft“. Das Bild der Geborgenheit in der Natur wird durch die Formulierung „hält am Busen“ vermittelt, welcher als Sitz des Herzens gilt, sowie durch die Betonung des Wiegens in den Wellen. Außerdem wird die Natur personifiziert, vermenschlicht, durch den Vers: „Wie ist Natur so hold und gut“. Gleichzeitig scheint es in der Natur etwas Göttliches zu geben, die Präpositionen „hinauf“ und „himmelan“ im Bezug auf die Berge verweisen auf Überirdisches im Irdischen, auf eine Erhöhung, vielleicht sogar auf das Göttliche im Menschen, da dieser sich als Teil der Natur empfindet. Zu der ersten Strophe ist noch hinzuzufügen, dass sich dessen zweite Hälfte um den Gedanken an die Gemeinschaft ausdehnt („unsern“, „unserm“).
Die zweite Strophe weist wie schon beschrieben einen Rhythmuswechsel auf. Zugleich wandelt sich auch die Stimmung des lyrischen Ich. Die Strophe wird eingeleitet durch eine Art Selbstbefragung: „Aug´, mein Aug´, was sinkst du nieder?“ und im zweiten Vers: „Goldene Träume, kommt ihr wieder?“ Das sinkende Auge verweist auf Erinnerungen, das lyrische Ich scheint in Träumen zu versinken. Der Blick ist dabei in eine für das lyrische Ich unangenehme Zeit gerichtet, die Begegnung mit der gegenwärtigen Natur scheint gestört: „Weg, du Traum“. Das angesprochene Gold könnte auf gesellschaftliche Zwänge verweisen, die beispielsweise durch Geschäfte entstehen, wohingegen die Natur Freiheit bedeutet. Das Gold könnte jedoch genauso eine vergangene Verlockung bedeuten, dann würde damit die Schwierigkeit sich von der Vergangenheit zu lösen ausgedrückt. In Auseinandersetzung mit seinen Gefühlen bekennt sich das lyrische Ich jedoch zum Gegenwärtigen. Die Vergangenheit besteht also aus etwas „Goldenem“, allerdings auch aus etwas naturfremden.
In der dritten, letzten Strophe wendet sich das lyrische Ich wieder der Gegenwart zu. Dinge wie „Lieb´ und Leben“ werden in der Natur wiedergefunden. Allerdings nennt sich das lyrische Ich erstmals in einer Strophe nicht. Dieser Aspekt könnte auf eine Art Verschmelzung mit der Natur hindeuten. Erstmals werden auch die Sterne erwähnt, welche auf göttliches sowie auf Erkenntnis hindeuten. Durch die Spiegelung der Sterne im Wasser scheint etwas Göttliches auf der Erde zu sein, es wird eine Einheit von oben und unten geschaffen. Der Einheitsaspekt wird verstärkt durch fehlende Konturen wie Nebel („trinken“) und „Ferne“ und „rings“, welches keine genaue Ortsbestimmung zulässt. Die zweite Strophe kann so auch aufgrund des Rhythmus als Steigerung oder Bestätigung der ersten und als Antwort auf die zweite Strophe gesehen werden. Zusätzlich lässt sich eine Art Reifungsprozess erkennen. Die „reifende Frucht“ kann als abschließende Entwicklungsphase im Kreislauf der Natur gesehen werden. Erst die Betrachtung der Gesamtheit der Wirklichkeit führt also zu dem ausgereiften Menschen, vielleicht auch eine Anspielung auf das Genie. Das Wasser erscheint letztendlich als lebensspendendes Element, als Quelle des Lebens, was auf eine Auffassung Goethes hindeutet, welcher Anhänger des Neptunismus war.
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