Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
In seinen Werken „Prometheus“ und „Grenzen der Menschheit“ entwickelt J. W. Goethes jeweils eine Auffassung des Verhältnisses zwischen Göttlichem und Menschlichem; er vollzieht eine Wesensunterscheidung zwischen Gott und Mensch, die jeweils vollkommen unterschiedlich ausfällt: Schrieb Goethe „Prometheus“ während seiner Zeit als Stürmer und Dränger, zeugt „Grenzen der Menschheit“ von dem im Vergleich dazu gesetzteren, ehrfürchtigen Ton von dem künstlerischen Streben nach Ideal und weiser Ordnung in der Weimarer Klassik. Klagt im ersten Gedicht, das um 1773 verfasst wurde, ein selbstbewusstes, empörtes, aktives lyrisches Ich als rebellischer Prometheus die untätigen und willkürlich herrschenden Götter an, so malt das lyrische Ich in „Grenzen der Menschheit“ (ca. 1780 entstanden) ein demütiges Bild von der unermesslichen Diskrepanz1 zwischen vergänglichem Mensch und ewigen Göttern. In beiden Gedichten wird somit die ursprünglich gleiche Thematik vollkommen verschieden aufgefasst bzw. verarbeitet und beantwortet; einmal im Sinne des rebellischen Sturm und Drang, und einmal ganz im Geiste der Weimarer Klassik.
Goethe greift in seinem Gedicht „Prometheus“ auf den antiken Mythos zurück, in dem der gleichnamige Gott, der als Schöpfer der Menschen gilt, es wagt, sich dem Willen des Götteroberhauptes Zeus zu widersetzen und den Menschen trotz eines Verbotes das Feuer bringt. Prometheus wird bei Goethe zu einem Symbol für den im Sturm und Drang aufgekommenen Freiheitsgeist, der das Individuum dazu bringt, sich gegen autoritäre Herrschafts- und Gesellschaftsordnungen zu wehren. Das Gedicht orientiert sich an der religiösen, ursprünglich götterverehrenden Form einer Hymne. Jedoch wird diese Form, ehemals preisend gedacht, zu einer direkten Anklage gewendet, wird somit eine Anti-Hymne, die mit einer spottenden Aufforderung an Zeus beginnt, seine Macht „an Eichen und Bergeshöhn“ auszutoben, was seine Herrschaft als willkürlich und „Knaben gleich“ darstellt, als einen Akt zielloser und unreifer Wilderei. In Abgrenzung zu „deinem Himmel, Zeus“ wird in der darauffolgenden Anapher2 „Und meine Hütte, die du nicht gebaut/Und meinen Herd, um dessen Glut du mich beneidest“ eine Besinnung auf eigene Leistung und ein daraus resultierender Autonomieanspruch verdeutlicht.
Ganz anders mutet die erste Strophe von „Grenzen der Menschheit“ an, die mit einer gewaltigen Metapher4 den als unüberbrückbar angesehenen Abstand zwischen Mensch und Gott veranschaulicht. Demnach wird die Erde als „der letzte Saum seines [sc. Gottes] Kleides“ angesehen, den der Mensch nur noch ehrfürchtig küssen kann. Spricht das lyrische ich in der ersten Strophe noch von dem „Heiligen Vater“, so lässt dies sowohl eine christliche, als auch griechische Anschauung zu. Die „segnenden Blitze“, die dieser allerdings auf die Erde niederlässt, lassen vermuten, dass es sich hierbei doch eher um Zeus handelt. Auch in Strophe 2 und 5 kann man an die griechische Glaubensrichtung denken, da hier immer von mehreren Göttern, dem Polytheismus die Rede ist.
Das lyrische Ich malt sich das Verhältnis von Gott zu Mensch als eine Beziehung zwischen Vater und Kind aus; wobei dies in starkem Kontrast zu der Stimme des verächtlichen Spötters aus „Prometheus“ steht, der kühn die Götter direkt anspricht und ihnen Schwäche vorwirft. In der Tat ist die Kind-Metapher in beiden Gedichten signifikant: Akzeptiert das lyrische Ich in „Grenzen der Menschheit“ die eigene Unwissenheit und Unterlegenheit gegenüber dem „uralten Vater“, so wird in „Prometheus“ der Begriff der Kindlichkeit mit Naivität gleichgesetzt, welche die Grundlage für die „kümmerliche“ Herrschaft der Götter bilde. Damit enttarnt der aus seinen „Knabenmorgenblütenträumen“ erwachte – wobei diese Wortschöpfung ironisch auf die ehemals eigene Naivität herabblickt - Prometheus die Legitimation der Unterdrücker, der „Götter und Titanen“ als lediglich scheinbar; sie „darbten/wären nicht Kinder und Bettler/Hoffnungsvolle Toren“, während sich das lyrische Ich im anderen Gedicht in eben diesen „menschlichen Grenzen“ wähnt und sich im Angesicht der eigenen Unterlegenheit vor dem unlösbaren Mysterium des Göttlichen verneigt.
Die Symbolik der Sonne und des Himmels, die in beiden Gedichten als Lokationen Gottes bzw. der Götter dienen, als ein nach oben gerichtetes Ansprechen, wird in „Prometheus“ in dem Verlangen nach Autonomie als „dein Himmel, Zeus“ verächtlich zurückgewiesen, ebenso wie die Sonne, zu der einstmals das „verirrte Aug´“ gekehrt war und die jetzt aufgrund des eigenen Feuers, der eigenen Macht, des eigenen „Heilig glühend[en] Herz[en]“ nicht mehr gebraucht wird.
Diese Vorstellung wird in „Grenzen der Menschheit“ durch den Mythos des Ikarus ersetzt, der in jugendlicher Hybris mit seinen mit Wachs befestigten Flügeln zu nahe an die Sonne flog und daraufhin abstürzte. Diese zwei Mythen bieten zugleich Aufschluss über den gesamten Ton des jeweiligen Gedichtes und damit auch der jeweiligen epochalen Geisteshaltung: Die Geschichte des Prometheus wird interpretiert als die eines Helden, der sich bewusst von der Obrigkeit, von den über ihn bestimmenden Göttern mit ihrer Selbstverliebtheit und Missgunst, abwendet und sich den Problemen der Menschen zuwendet, mit dem Feuer als Symbol der Freiheit, der leidenschaftlichen Empörung und Selbstbehauptung. Auf diese Weise gewinnt der Mythos in Goethes Gedicht an Gesellschaftskritik, dient als Verbildlichung des Konflikts zwischen überholter Feudalgesellschaft, Geburtsadel, nicht-legitimierter Herrschaft etc. und das um politische Anerkennung ringende (Bildungs-)Bürgertum. Prometheus folgt nicht mehr den vorgeschriebenen Regeln, sondern wird individuell, wird sich seiner selbst bewusst, seiner eigenen Kraft.
In „Grenzen der Menschheit“ dagegen wird der Mensch aufgefordert, maßvoll zu sein; belehrend und ehrfurchtsvoll warnt das lyrische Ich vor der Vermessenheit, „mit dem Scheitel die Sterne berühren“ zu wollen. Im Zuge der Weimarer Klassik gewann eine Anschauung, die auf Maß, Ausgleich und Einordnung in das gesellschaftliche Ganze abzielte, oberste Bedeutung. Der Mensch muss seine Grenzen akzeptieren, die Welt ist ein Ganzes, erschaffen nach einem logisch-göttlichem Prinzip, das in der Natur zum Ausdruck kommt.
Deshalb auch die vielen Naturbegriffe, mit denen das lyrische Ich sich in „Grenzen der Menschheit“ in Beziehung setzt: Die „Eiche, oder [die] Rebe“, die den Menschen überragt; die Welle, die die Zeit versinnbildlicht, die ihn aufgrund seiner Vergänglichkeit verschlingt, die Erde als Gottes Saum, überall entdeckt das lyrische Ich die allgegenwärtige Gott-Natur, das Vollkommene und Ewige.