Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Hinweis: Die nachfolgende Interpretation bezieht sich auf die unüberarbeitete Fassung des Gedichts mit ursprünglich 8 Strophen.
Kontextualisierung
Goethe schrieb die Hymne "Prometheus" in den Jahren zwischen 1772 und 1774. Diese frühe Phase in Goethes Leben (er war 23 Jahre alt) wird gemeinhin wegen ihres überschwänglichen und romantischen Pathos dem Sturm und Drang zugeschrieben. Auch Goethe konnte mit dem neuzeitlichen, d. h. wissenschaftlichen Geist der Aufklärung, der alles systematisieren und mit dem Verstand nachweisbar machen wollte, wenig anfangen. Der Mensch sei mehr als bloßer Verstand.
In dieser recht kurzen Epoche des Sturm und Drangs lehnten sich die Jüngeren gegen ihre Zeitgenossen auf. Goethes sehr bekanntes Werk "Die Leiden des jungen Werther", das 1774 veröffentlicht wird, ist bis heute das herausragende Charakteristikum dieser Zeit.
Wie später noch gezeigt wird, spielt auch in der Hymne "Prometheus" das Moment der Auflehnung gegen Autoritäten eine entscheidene Rolle. Zum richtigen Verständnis und Einordnung des Werks muss jedoch zunächst auf den Prometheus Mythos eingegangen werden, um besondere Änderungen in der Rezeption in dieser Hymne darlegen zu können.
Wie bei jedem Mythos ist auch bei 'Prometheus' der Ursprung dieser Geschichte nicht ganz deutlich. Die ersten und grundlegendsten Fassungen sind die von Aischylos und Hesiod (ca. 5 Jh. v. Chr.). In ihnen wird geschildert, dass Prometheus, ein Titan, sich gegen das herrschende Geschlecht (die Titanen) auflehnt, um Zeus zur Macht zu verhelfen. Doch Zeus wird für Prometheus selbst zu einem Tyrann.
Prometheus ist weiterhin als Menschenschöpfer bekannt. Er probiert Zeus in mehreren Fällen hinter das Licht zu führen (um einen Vorteil für das Menschengeschlecht zu erkämpfen). Zeus durchschaut die Intrigen und bestraft Prometheus. Nachdem sich dieser jedoch gegen die Strafe widersetzt und das himmlische Feuer für die Menschen stiehlt, lässt Zeus ihn an den Kaukasus schmieden, wo ein Adler ihm jeden Tag die Leber wegfressen soll, die dem Titanen in der Nacht nachwächst.
Dies ist das Grundgerüst des Mythos. Es bietet jedem Interpreten die Möglichkeit, den für ihn wichtigen Aspekt herauszuheben. Aufgegriffen wird dieser Mythos immer wieder, sei es von Platon, Lukian, Ovid und Cicero; aber bis hinein in die Moderne. Die berühmte Frankenstein Geschichte von Mary Shelley, die jeder aus Verfilmungen kennt, trägt beispielsweise den Untertitel: "Der moderne Prometheus".
Die immer neu verhandelten Themen sind im Groben: Prometheus als Menschenschöpfer, Prometheus als Feuerbringer (insbesondere in der Aufklärung), Prometheus als der Gefesselte. Es geht dabei hauptsächlich um philosophische Fragen. Die Geschichtlichkeit eines Mythos ist zweitrangig. Um die Tiefe dieses Mythos anzudeuten, sei nur eines an dieser Stelle gesagt: Prometheus trägt einen sprechenden Namen: Er ist der Voraus-Denkende (pro-metheus) und kann mit einer Fähigkeit in die Zukunft sehen. Keinem anderen sind die Folgen seiner Handlungen mehr bewusst als ihm. Trotzdem entscheidet er sich für die Straftat und damit für seine Bestrafung. Er entscheidet sich dafür, in Ewigkeit an den Kaukasus gefesselt zu sein.
Nun fragt man sich, warum er das auf sich nimmt. Erst mit dem himmlischen Feuer sind die Menschen in der Lage Kultur und Kunst zu schaffen. Im aufklärerischen Sinne (so wurde der Mythos in dieser Zeit oft interpretiert) ist es das von Prometheus gestohlene Feuer, welches den Geist des Menschen 'entzündet'. Das Denken beginnt erst mit dem Feuer.
Prometheus legt sich mit Gott an und damit mit der herrschenden Ordnung - mit der Notwendigkeit. Er nimmt dies hin, um für die Menschen Kulturstifter zu sein.
So ist auch das Denken selbst ein Spiel zwischen Göttlichem und Notwendigkeit, das gilt für die Aufklärung wie für keine andere Epoche.
Doch auch die Frage, warum gerade die Hoffnung in der Büchse der Pandora bleibt (auch Teil der Strafe für Prometheus), wirft viele Fragen auf: Ist die Hoffnung nun Segen oder Fluch für die Menschen? Eigentlich sind doch nur schlechte Dinge in der berühmten Büchse.
Die Geschichte der Interpretation des Mythos sagt viel über die verschiedenen Epochen aus.
Doch genug, um das Gedicht einordnen zu können. Diese Einführung war auch nötig, um zu erklären, warum es Jacobi so schwer fiel, das Gedicht zu veröffentlichen. Er hielt es für revolutionär und skandalös und man kann sagen, für atheistisch. Deswegen entschuldigte er sich in der Vorrede im Buch, welches die Hymne beinhalten sollte, im Vorfeld bei den Lesern, welchen das Gedicht missfallen könnten. Er ließ sogar Extra-Seiten einfügen, falls man die Hymne herausreißen möchte und andere dafür einfügen. Der Vorsichtsmaßnahmen nicht genug - die Hymne wurde unautorisiert und anonym abgedruckt. Goethe veröffentlichte sie dann erstmals 15 Jahre später zusammen mit der berühmten Ganymed-Ode im Jahre 1789.
Zum Gedicht
Goethe hat den Mythos in mehrfacher Hinsicht umgeformt. Das wichtigste Merkmal ist die Umformung des Titanensohns in einen Sohn von Zeus. Psychologische Aspekte verstärken die radikale Abgrenzung gegenüber Zeus und dessen Himmelsreich. Die Auflehnung ist das zentrale Thema dieser Hymne. Zeus wird in den Strophen 1-3 in freien Rhythmen und freiem Umgang mit der Wortstellung direkt angesprochen. In den folgenden Strophen 4-5 beschreibt der Ich-Erzähler Prometheus die Vergangenheit, um dann in den letzten beiden Strophen 6-7 zum Präsens und zur aktuellen Situation Prometheus' zurückzukehren und einen harmonischen Rahmen für die Hymne zu schaffen.
Prometheus tritt als selbstbewusste und stolze Person auf. Als Gott des Herdfeuers und des Feuers, als der er in der Antike galt, spricht er vom "Herd/ Um dessen Glut/ Du mich beneidest" (Z. 11-13). Ohne Angst verleiht Prometheus seinen Gefühlen Ausdruck. Er vergleicht den mächtigen Vater Zeus mit einem Knaben (Z. 3), und sagt in Strophe 3, dass er "nichts ärmers/ Unter der Sonn als euch Götter" kennt (Z. 13-14). Damit grenzt er sich von den olympischen Göttern ab. Er wird zu einem zweiten Schöpfer, der die Menschen, die er nach seinem Bilde formt (Z. 50-51), lehrt, Zeus so wenig zu achten, wie er es tut (Z. 56-57).
Dieses Bild des kreativen und selbstbewussten Künstlers (ein verbreitetes Motiv im Sturm und Drang, man denke an 'Werther') wird unterbrochen von Strophen, in denen er vorwiegend von seinem Leid spricht. Er spricht von seiner Zeit als Kind (Z.20, f.): "Die Kindheitsstrophen bezeugen Hilfslosigkeit, Verlassenheit und Einsamkeit, die Selbst-Besinnung des Heranwachsenden, den Wechsel von Ohnmachts- und Allmachtsgefühlen." (S. 870, Gerhard Sander, Kommentar, Goethe, Münchener Ausgabe Bd. I. 1, 1985). In diesen mittleren Strophen 4 und 5 verstärkt sich der psychologische Aspekt des Vater-Sohn Verhältnisses von Zeus zu Prometheus. Es spricht nicht mehr der selbstbewusste Künstler, sondern ein rückwärtsgewandter Träumer, der in Fantasien von seiner erlebten Trauer spricht.
Doch bleiben auch andere Interpretationen möglich. Die offen bekundete Geringschätzung von Prometheus an Zeus kann auch als Motiv der Hybris verstanden werden. Prometheus stellt sich auf die Ebene der Menschen und lehnt sich gegen die Götter des Himmels auf: "Bedecke deinen Himmel Zeus" (Z. 1). Hybris ist die Selbstüberhebung oder der Hochmut einer Person, die sich gegen die Gesetze der Götter auflehnt. Prometheus galt auch in der Antike als Repräsentant dieses Hochmutes - in dem Moment, als er den Menschen das Feuer brachte.
Prometheus rebelliert gegen die Götter, aber auch gegen seinen Vater. Auch kann Zeus als Tyrann oder Despot interpretiert werden. Er steht für die Gesetze und für die Ordnung - aber nicht für die Gerechtigkeit. Dies war wiederum in der Antike ein oft benutztes Motiv (die Mutter von Prometheus war die Göttin der Gerechtigkeit).
Es bleibt eine Strophe zu erwähnen, die charakteristisch ist nicht nur für den Goethe der Sturm und Drang Zeit, sondern auch für den älteren, "reiferen" Goethe. In der sechsten Strophe sagt Prometheus "Hat nicht mich zum Manne geschmiedet/ Die allmächtige Zeit/ Und das ewige Schicksal / Meine Herrn und deine." (Z. 41-44). Prometheus akzeptiert die Zeit und das Schicksal als seine Herren. Aber es sind nicht nur seine Herren. Auch der "allmächtige" Zeus muss sich diesen Herren unterordnen. Die Schicksalsgöttinnen (Moiren) haben in der griechischen Mythologie die Funktion, einen Lebensfaden zu spinnen, zu verweben und abzuschneiden. Sie sind auf diese Weise verantwortlich für das Leben (und den Tod) des Menschen.
An dieser Stelle werden demnach auch die Götter Prometheus und Zeus diesem Schicksal untergeordnet. Sie werden in zumindest einer Hinsicht 'vermenschlicht'.
Auffallend ist außerdem, dass den beiden Herren ungewöhnliche Prädikate zugeordnet werden. Eigentlich ist es die Zeit, die ewig und das Schicksal, welches allmächtig ist. So wird die Bedeutsamkeit beider in besonderer Weise hervorgehoben.
Auch in späteren Werken und in der religiösen Auffassung des älterwerdenden Goethes spielte der Gedanke der Zeit als oberster Gott eine entscheidene Rolle. Die Zeit ist nicht nur leer und Vorbedingung für Existenz, sondern sie wird aktiv, sie gebiert Leben. Das ewige Schicksal als Pendant zur Zeit ist die individualisierte Seele des Menschen. Doch die Gleichstellung von Göttern und Menschen, romantische Fantasien, und dunkle Anspielungen auf oberste Götter, bleiben nicht nur für die Romantik typisch; sie sind einige der Charakteristika, die die Zeit des Sturm und Drangs treffend beschreiben.
Die gewagten Wortschöpfungen in dieser Hymne Goethes, wie in Z. 48-49: Knabenmorgen/Blütenträume stehen für Goethes pindarisierende Sturm und Drang-Sprache. Auch die freien Rhythmen, das Gefühlvolle des Gedichts und die starke Ich-Bezogenheit des kreativen Künstlers, der in der Ich-Person vorgestellt wird, sind mehr als charakteristisch für ein Gedicht des Sturm und Drangs. Es wird vermutet, dass Goethe eigene Kindheitserinnerungen in diesem Gedicht verarbeiten wollte. Er benutzt den Prometheus-Mythos, um die Hilflosigkeit zu beschreiben, die ein Kind gegenüber seinen Vater verspüren kann. Was ist das anderes als das Verhältnis von einem Tyrann zum Volk? Vom Mächtigen zum Ohnmächtigen?