Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Rollengedicht „Prometheus“ von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1774 wird der literarischen Epoche des Sturms und Drang zugeordnet. Prometheus, eine Figur der griechischen Mythologie, lehnte sich gegen den Göttervater Zeus auf, um den Menschen Feuer zu bringen und zog somit dessen Zorn auf sich. Goethes Gedicht greift aus der Mythologie genau jenen Aspekt auf, der den Text am meisten als Gedicht des Sturm und Drang kennzeichnet: die Auflehnung des Helden gegen die Obrigkeit, sein Kampf um Unabhängigkeit um Selbstverwirklichung.
Im Folgenden wird das vorliegende Gedicht mit Hilfe von einer inhaltlichen, formalen und sprachlich-stilistischen Analyse erschlossen, um abschließend die Fragestellung zu klären, inwiefern Goethes Gedicht als Programmgedicht des Sturms und Drang bezeichnet werden kann.
Das Gedicht ist als zornige Rede des lyrischen Ichs gestaltet, welche direkt an Zeus gerichtet ist. Damit ist die Sprechsituation nur scheinbar monologisch, denn sein – freilich unbeteiligter – Gesprächspartner ist gewissermaßen immer präsent, und sei es auch nur in Prometheus Vorstellung.
Ausgehend von der Aufforderung Zeus, den Himmel mit Wolkendunst zu bedecken (V. 1f.) trennt Prometheus die göttliche Sphäre streng von der weltlichen Sphäre ab, in der die Kulturgüter der Menschen positiv hervorgehoben werden. In der zweiten Strophe (V. 11 bis 18) bezichtigt Prometheus die Götter des Olymps als „kümmerlich“ (V. 13) und machtlos, da diese von dem Glauben der Menschen Abhängig seien. Daraufhin (V. 19-25) erinnert sich Prometheus an seine Kindheit, in der er selbst noch Hilfe bei den Göttern suchte, aber schließlich doch selbst helfen musste (vgl. 4.Strophe). In der 5. und 6. Strophe wendet sich Prometheus schließlich gänzlich von Zeus ab, um dann in der letzten Strophe das menschliche Sein und das Ich als autonom1 zu setzen.
Die postulierte Unabhängigkeit des Menschen wird bereits in der Formalen Gestaltung des Gedichts deutlich.
So entsprechen weder die freien Rhythmen noch die ungleiche Verszahl der sieben Strophen der Norm der Lyrik um 1774. Auch das Fehlen eines festen Reimschemas lässt auf ein Aufbrechen der gängigen Ordnung schließen. Die zornige Rede des Prometheus wird durch die hymnische Strophenform unterstützt, da so ein sehr pathetischer und gefühlsbeladener Grundton erreicht wird. Gleich zeitig wird der hymnische Ton auch in sein Gegenteil verkehrt, da dieser eigentlich dem Lob- bzw. Preisgesang Gottes vorbehalten war, hier aber zur Anklage an Zeus dient.
Sowohl der emotionale Grundtenor, als auch das Aufbrechen der gängigen Norm in der Form verweist auf die Epoche des Sturms und Drang.
Die Verachtung, mit der das lyrische Ich den Göttervater Zeus in seine Schranken weist, kommt bereits in den ersten zwei Versen zum Ausdruck. Bereits hier stellt sich Prometheus mit dem Imperativ „Bedecke deinen Himmel, Zeus“ (V. 1) dem Göttervater entgegen und stellt damit die eigentlich zu erwartende Hierarchie auf den Kopf, wobei die nachgestellte Apostrophe2 „Zeus“ der Anrede besonderen Nachdruck verleiht.
Die darauf folgende bewusste Abgrenzung der Sphären – Himmel und Erde – wird durch eine Alliteration3 betont: „Hütte“ (V. 8), „Herd“ (V. 10) stehen in antithetischen Verhältnis zu „Himmel“ (V. 1) und „Bergeshöhn“(V.5) als dem Bereich der Götter. Der Parallelismus (V.8/10) und die Ellipse4 „Musst mir meine Erde doch lassen stehn“ zeugen von der Heftigkeit und starken Emotionalität, mit der Prometheus seinen Lebensbereich gegen Zeus verteidigt.
Diese stark gezeichnete Polarität beider Seiten findet sprachlich auch in der überaus häufigen Verwendung von Personal- und Possessivpronomen ihren Ausdruck. Neben der Abgrenzung der beiden Sphären in der ersten Strophe mit Hilfe der Possessivpronomen „mein“ (V. 6, 8, 9) und „dein“ (V.1), dient die Verwendung der Personalpronomen5 in der zweiten Strophe zur Abgrenzung des Prometheus von den Göttern: „Ich kenne nichts Ärmer’s Unter der Sonn als euch, Götter!“. Ebenso wirkt der erste Satz der fünften Strophe: „Ich dich ehren? Wofür?“ (V.35).
In der zweiten Strophe wird zusätzlich deutlich, dass sich Prometheus nicht nur von Zeus, sondern von allen Göttern des Olymps abwendet. Durch das Paradoxon6 „kümmerlich“ (V. 13) und „Majestät“ (V. 15) entlarvt Prometheus die Machtlosigkeit der Götter. Abhängig von „Opfersteuern und Gebetshauch“ (V. 14f.) sind die Götter auf den Glauben der Menschen angewiesen. In der dritten Strophe wird dieser Gedanke weitergeführt, indem Prometheus seine eigene Kindheit thematisiert und sich selbst als einer der hoffnungsvollen „Kinder und Bettler“ (V. 17) beschreibt, dessen Hilfegesuche jedoch nicht erhört wurden.
Im Anschluss daran wird die Abkehr des Sprechers von den Göttern verdeutlicht. Durch die anaphorisch gebauten rhetorischen Fragen (vgl. V. 26/28) wird offenbar, dass es nicht sie waren, die Prometheus vor der „Titanen Übermut“ (V. 29) und aus der „Sklaverei“ (V. 29) gerettet haben. Vielmehr war es sein „Heilig glühend Herz“ (V. 31), das dies selbst vollbrachte. „Glühend“ verweist hier auf Emotionalität und Begeisterungsfähigkeit des Prometheus, welche durch das Adverb „heilig“ noch gesteigert wird. Dies steht im Gegensatz zu den „Schlafenden“ (V. 34) da droben, die somit als emotional kalt und gleichgültig beschrieben werden. Ein genauere Blich auf die Form bringt weiter Erkenntnisse: Der Ausdruck „heilig glühend Herz“ füllt nicht nur einen ganzen Vers, sondern nimmt auch eine zentrale Stellung in dem Gedicht ein. Es steht genau in der Mitte des Gedichts. Das „Glühen“ dieses Herzens – Symbol für seine Lebendigkeit und Gefühlstiefe – ist es, was die Rettung bringt, und es ist selbst „heilig“ (V. 34), ersetzt also die Götter völlig.
Schließlich wird die Ablehnung der Götter zu einer Anklage an Zeus: „Ich dich ehren? Wofür?“ (V. 35) stellt den Auftakt zu einer Reihung von wiederum anaphorisch gebauten rhetorischen Fragen dar. Hier äußert sich die gesamt Verachtung, die das lyrische Ich gegenüber dem Göttervater empfindet, da die mehrmalige Wiederholung des Satzanfangs „Hat“ klanglich wie Schläge wirken, die gegen Zeus gerichtet sind.
Die letzte Strophe Beginnt mit der Inversion7 („Hier sitz‘ ich“), die die räumliche Distanz und die Einteilung der beiden Sphären noch einmal scharf umreißt und damit der ersten Strophe einen formalen Rahmen bildet. Auch positioniert sich das lyrische Ich als fest verankert.
Prometheus formt „Menschen nach seinem Bilde“ (V. 52), das heißt, der echte Mensch ist ebenso schöpferisch, ebenso selbstständig und ebenso kritisch all jenen gegenüber, die ihn in Abhängigkeit halten wollen, wie Prometheus. Ein markantes „Wie ich“ bildet die letzte Zeile des Gedichts, das nicht durch Zufall mit dem Personalpronomen „ich“ endet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht inhaltlich, formal und sprachlich-stilistisch eindeutig der Epoche des Sturms und Drang zuzuordnen ist.
Formal verweist das Fehlen einer festen Strophen- und Reimordnung auf die Epoche des Sturms und Drang. Die Tatsache, dass auf die Übernahme der gängigen poetischen Gestaltungsregeln verzichtet wird, verweist auf ein Aufbegehren der gängigen Ordnung.
Sprachlich-stilistisch fällt der große Anteil von provokativen rhetorischen Fragen, elliptischen Sätzen und ausrufen auf. Auch dies verweist auf die Epoche des Sturms und Drang. Zu beachten ist auch die vermehrte Verwendung Personalpronomens Ich. Hiermit drückt Goethe das gesteigerte Subjetivitätsempfinden des Sturms und Drang aus. Dies ist ebenso inhaltlich zu belegen. So verweist vor allem Prometheus‘ Haltung, welche bestimmt ist durch Subjektivität, Autonomiebestreben und einem Auflehnen gegen Zeus von einem hohen Grad an Ablehnung von Autoritäten. Im historischen Kontext des 18.Jahrhundert kann zeus somit als Bild für die Autorität des absolutistischen Systems, aber auch für die dogmatischen Lehrsätze der Kirche gesehen werden.
Prometheus kann hierbei als Bild für das Menschsein an sich und Zeus als für die zu überwindenden Autoritäten gesehen werden. Einerseits muss Zeus hier als sinnbild für blinden Autoritätsglauben im religiösen Bereich gelesen werden, andererseits stellt er aufgrund seiner autoritären Stellung auch für das absolutistische System im 18. Jahrhundert.
Somit kann und muss Goethes Prometheus als Programmgedicht des Sturms und Drang gelesen werden.