Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der am 28.08.1749 in Frankfurt geborene Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) wurde 1775 nach Weimar gerufen. Seine Begabungen und Interessen waren weit gefächert. Sie reichten von biologischen Studien über Kunsttheorie bis zur Ausführung diverser Staatsämter. Als zentralen Vertreter der Weimarer Klassik manifestierten ihn seine dichterischen Fähigkeiten, die ihn bis heute berühmt gemacht haben. Zu seinen berühmtesten Gedichten zählen „Willkommen und Abschied“, „Prometheus“ oder auch die Ode „Das Göttliche“, welche 1783 in Goethes ersten Weimarer Jahrzehnts entstand. Das Werk wurde zum Ende der Aufklärung (1720-1785) bzw. des „Sturm und Drang“ (1770-1785) veröffentlicht, gehört jedoch zur literaturgeschichtlichen Epoche der Klassik, was sich deutlich in den Aussagen und Merkmalen der Ode widerspiegelt.
Die Ode besteht aus 10 Strophen mit jeweils 5-7 Verse. Die ersten zwei Verse der Ode: „Edel sei der Mensch, Hilfreich und gut!“ stellen bereits die Grundaussage des Werkes und einen zentralen Leitsatz der Klassik dar. Der Wert des Menschen als übergestelltes, allmächtiges und göttliche Eigenschaften anstrebendes Geschöpf wird als Idealbild dargestellt. In der gesamten Darstellung kommt kein Gefühl zum Ausdruck, was die schlichte und prägnante Darstellung und somit einen Gegensatz zum „Sturm und Drang“ („Gefühl ist alles“) aufzeigt. Dies wird durch die reimlose Form noch unterstützt und gleichzeitig werden die Auseinandersetzung und das Nachdenken des Lesers damit angeregt. Der Mensch habe die Anlagen für ideale humanitäre Eigenschaften wie Toleranz, moralische Verantwortung, die auch Goethe in seinen zahlreichen Ämtern zeigen musste, oder Hilfsbereitschaft; er müsse sie nur in seinen Taten umsetzen. Gleichzeitig wurde den Menschen eine fast gottesgleiche Macht verliehen, die ihm als Richter über alles eine enorme Verantwortung überließ. Jedoch zeigt sich im oben aufgeführten Zitat Goethes auch die Ablehnung der „Gottesgleichheit“ des Menschen. – Der Mensch ist nur in der Lage, sein Leben nach „göttlichen“, humanitären Idealen auszurichten. Goethe stellt den Menschen in verschiedenen Vergleichsebenen dar.
In den ersten beiden Strophen wird der Mensch mit „[höheren] Wesen“ (V. 8) in Verbindung gestellt. „Ihnen gleiche der Mensch“ (V. 10). Nur das humanistische Handeln macht den Unterschied zwischen der höchsten auf Erden wandelnden Lebensform und den Tieren aus („das allein Unterscheidet ihn Von allen Wesen, Die wir kennen“, V. 3-6). In der 2. Strophe werden die Götter (bzw. der Gott, was den Bezug zum Christentum herstellt) als „perfekte“ Wesen dargestellt, die der Mensch als Vorbild für sein eigenes Handeln sehen soll – schließlich verbindet man mit ihnen alle Tugenden und wünschenswerte Eigenschaften.
In den folgenden 2 Strophen wird die Natur als Gegensatz dargestellt. Sie ist gefühlslos und kann weder Lohn noch Strafe ausüben („Dem Verbrecher Glänzen wie dem Besten Der Mond und die Sterne“, V. 17-19). Der Mensch jedoch entscheidet, beurteilt und richtet – nach dem Vorbild des „Göttlichen“. Dieser Kontrast wird durch Akkumulationen wie „Wind und Ströme, Donner und Hagel“ (V. 20f), Antithesen1 wie „Verbrecher“ (V. 17) und „dem Besten“ (V. 18) und zahlreichen Personifikationen2 („Donner und Hagel Rauschen ihren Weg“, V. 21f; „Der Mond und die Sterne […] Glänzen“, V. 18f) noch zusätzlich verstärkt. Die 5. Strophe zählt nun auch das Glück als eine zufällig, wahllos auftretende Entscheidung auf („Tappt unter die Menge“, V. 27). Dabei wird das personalisierte Glück als unwillkürlich, absichtslos und wahllos durch Antithesen („Lockige Unschuld“, V. 29; „Schuldige[r] Scheitel“, V. 31), die eine Alliteration3 umfassen, dargestellt. Die 6. Strophe bildet eine Zusammenfassung für die vorangegangenen Strophen. Sie zeigt die Vergänglichkeit des Menschen, die Teil der Naturgesetze ist und gegen die sich niemand, egal ob „gut“ oder „böse“ gesinnt, wehren kann. Jedoch kommt auch seine Unumstößlichkeit („ewigen ehrnen, Großen Gesetzen“, V. 32f) zur Geltung.
Während die vorherigen Strophen Vergleichsebenen des Menschen aufzeigten, stellt die 7. und 8. Strophe den Menschen als das Lebewesen überhaupt dar, welches zwischen gut und böse durch Vernunft unterscheiden kann. Als Individuum kann er Neues entdecken und erkennen, kann Altes verwerfen, zwischen sinnvoll und nutzlos wählen, er „vermag das Unmögliche“ (V. 38). Geschaffte Erinnerungen machen Menschen zeitweilig sogar unsterblich. Man ist in der Lage, durch eben diese Erinnerung aus Fehlern zu lernen oder „Augenblicke“ durch die Erinnerung auf ewig einzufangen („dem Augenblick Dauer verleihen“, V. 41f). Die Gabe, Gutes zu belohnen und Böses zu strafen existiert in der wilden Natur nicht, nur der Mensch ist in der Lage dies zu tun. „Den guten Lohnen, den Bösen strafen“ (V. 44f) ist dabei eine Anapher4, die den Kontrast und die Notwendigkeit der Inhalte betont. Der Mensch hat gelernt „[Krankheiten zu] heilen“ und „[Menschen vor dem Tode zu] retten“ (V. 46). Ihm ist die Macht gegeben, Werkzeug zu nutzen und die Natur zu nutzen („Alles Irrende, Schweifende nützlich verbinden“, V. 47f). - Er erfindet, erforscht und erschafft. Somit wird in den beiden Strophen deutlich die besondere Stellung des Menschen gezeigt und begründet („nur allein der Mensch“, V. 37). Jedoch zeigt sich auch die besondere Verantwortung des Menschen in der Richterfunktion. Er kann diese negativ einsetzen (z. B. in einer Diktatur) oder humanitär, positiv handeln. Er ist selbst verantwortlich, kein Gott kann ihm diese Verantwortung abnehmen.
Die 9. Strophe zeigt nochmals den Bezug zu den „Unsterblichen“ (Götter) (V. 50). Jeder Mensch soll selbst handeln. – Kein Gott kann ihm dies abnehmen. Der Mensch hat die genannten Eigenschaften und Möglichkeiten, soll sie nutzen („täten im Großen, was der Beste im Kleinen tu oder möchte“, V. 52ff) und sich nicht primär hinter Gottesbildern verstecken. Er ist sein eigenes Vorbild und kann „göttliche“ Eigenschaften anstreben.
Die letzte Strophe greift auf den Gedanken der 1. Strophe zurück, jedoch wird aus der These am Anfang nun eine Forderung an den Menschen, die auf den Erkenntnissen aus den vorherigen Strophen beruht („Der edle Mensch Sei hilfreich und gut!“, V. 1). Der Mensch muss ständig an sich und seinem Umfeld arbeiten, um ein bestmögliches Zusammenleben zu ermöglichen („Unermüdet schaff er das Nützliche, Rechte“, V. 57f). Er sei ein Vorbild jedes Menschen.
Den Konjunktiv setzte Goethe dabei ein, um klarzustellen, dass kein Mensch perfekt (gottesgleich) sein kann, jedoch jeder danach streben sollte. Der Mensch soll seine Anlagen zu guten Eigenschaften in Taten umsetzen. In dem Werk zeigt sich der Wandel Goethes vom Stürmer und Dränger zum Klassiker. Rebellion und Protest gegen eine übergestellte Macht wird zur Belehrung der Menschen zu Werten und Normen und Anregung derselben zum Nachdenken. In der Klassik bildete sich ein Ausgleich zwischen der rationellen Aufklärung und dem gefühlsgeprägten Sturm und Drang. Schlicht, aber prägnant brachte der damals 34-jährige Johann Wolfgang Goethe seine wesentlichen Aussagen in diesem Werk zu Papier: „Edel sei der Mensch, Hilfreich und gut!“.