Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Die Gedichte „Kirschblüte bei der Nacht“ von Barthold Heinrich Brockes aus dem Jahr 1727 und „Ganymed“ von Johann Wolfgang Goethe aus dem Jahr 1774 handeln beide von der Natur bzw. der Schönheit des Frühlings und der Beziehung von Mensch zur Natur und zu Gott. Allerdings fokusiert „Ganymed“ dabei mehr die Liebe und Erotik, während „Kirschblüte bei der Nacht“ bei der reinen Schönheit bleibt.
„Kirschblüte bei der Nacht“ besteht aus einer Strophe mit 29 Versen, Ganymed besitzt 6 Strophen mit unregelmäßiger Länge und insgesamt 32 Versen.
Das Gedicht „Kirchblüte bei der Nacht“ lässt sich keiner der bekannten Epochen zuordnen. Es entstand vor der Epoche des Sturm und Drang. Das Metrum1 sind überwiegend Jamben. Zwei Ausnahmen bilden die ersten beiden Silben der Verse 17 und 27 mit Trochäen.
Seine Syntax bestehen aus klar strukturierten, hypotaktisch konstruierten Sätzen, die z.T. über mehrere Verse verteilt sind. Stilistisch ist „Kirschblüte bei Nacht“ nüchtern und monologisierend und wirkt wie eine Erzählung. Es gibt keine Emotionen und Ausrufe. Alles wird distanziert beschrieben (vgl. V. 1 „mit betrachtendem Gemüte).
Das Gedicht lässt sich in drei Teile einteilen.
Im ersten Teil von V. 1 -14 wird die Schönheit der Natur beschrieben. Das lyrische Ich betrachtet in einer Frühlingsnacht die Blüten eines Kirschbaums. Mit den Vergleichen (V. 5, 8, 9) wird die Schönheit der Kirschblüten, welche das lyrische Ich empfindet, verstärkt. Der Leser kann sich somit selbst ein genaues Bild von der Kirschblüte machen. Laut des lyrischen Ich ist sogar der eigentlich schwache Mondschein, nachdem er „durch die zarten Blätter (gebrochen ist)“, jeden Schatten weiß zu machen.
In V. 13/14 wird beschrieben, dass auf Erden nichts Schöneres aufgefunden werden kann, die Schönheit der Natur demnach unübertrefflich ist.
Die Verse 1-4 bestehen jeweils aus Paarreimen. Durch die Schlichtheit in der Reimgestaltung soll ausgedrückt werden, dass die Schönheit einer Kirschblüte keine subjektive Sache ist, sondern von jedem Menschen als schön empfunden wird. Die nächsten 8 Verse 5-12 sind jeweils als umarmender Reim geschrieben. Hier sind jeweils Zusammenhänge zwischen den sich reimenden Wörtern erkennbar (Ast – Last (V. 6/7) beziehen sich beide auf den Kirschbaum und die Blüten an den Ästen; Licht-bricht (V. 10/11) und „gefallen“ – Ballen (V. 5/8), der Schnee , der symbolisch für die Kirschblüten gefallen ist, sammelt sich als Ballen auf den Ästen).
Der zweite Teil von V. 15-25 bildet eine Überleitung von der Schönheit der Natur zur göttlichen Schönheit. In V. 15/16 beschreibt das lyrische Ich, wie es im nun erhellten Schatten des Baumes geht, sich aber von der Schönheit nicht trennen kann. Dies wird symbolisiert durch „bald hin, bald her“ in V. 15. Die abrupte Erkenntnis bzw. das Bemerken des hellen Scheins durch die Bäume wird durch einen plötzlichen Wechsel des Metrums von den monotonen Jamben zu einem kurzen Trochäus verdeutlicht. Das lyrische Ich sieht durch alle Blumen einen Schein von oben, der noch weißer ist als das Weiß der Kirschblüte. Dass dieser Schein die Schönheit der Natur übertrifft, wird auch dadurch verstärkt, dass der Schein „durch“ (V. 18) alle Blumen (durch die Schönheit) durchschimmert. Das lyrische Ich beschreibt diesen Schein als „tausendmal“ schöner (vgl. V. 20) und bekräftigt sein Argument mit einem erneuten Vergleich mit der Kirschblüte, die neben dem göttlichen Schein schwarz zu sein scheint.
Im folgenden dritten Abschnitt (V. 26-29) wird erstmals Gott explizit erwähnt. Das lyrische Ich denkt darüber nach, dass es sich an den von Gott erschaffenen Dingen „im Irdischen“ (V. 26) erfreue, Gott jedoch im Himmel „weit größre Schätze“ (V. 27) besitze. Die Schätze symbolisieren hierbei die Schönheit. Den Schluss bildet die Erkenntnis, dass die irdische Schönheit mit der göttlichen nicht verglichen werden kann, da Gott weit über allem steht. Die Weltanschauung des Deismus, unter der das ganze Gedicht geschrieben wurde, wird hier deutlich.
Vergleich zu Ganymed von Johann Wolfgang Goethe
Das Gedicht „Ganymed“ von Johann Wolfgang Goethe weist kein Metrum und kein Reimschema auf. Die freien Rhythmen weisen darauf hin, dass das Gedicht aus der Epoche des Sturm und Drang stammt.
In der ersten Strophe spricht Ganymed den Frühling als seinen Geliebten an. Durch das Morgenrot und der Wärme des Frühlings fühlt sich Ganymed zu der unendlichen Schönheit des Frühlings hingegezogen. Er beschreibt es als ein „heilig Gefühl“, wobei schon ein Element des Pantheismus deutlich wird. Gott und die Natur sind gleichgestellt.
Die zweite Strophe besteht nur aus zwei Versen und bildet einen Ausruf. Dabei wird der Frühling personifiziert und gleichzeitig Ganymeds Zuneigung noch einmal dadurch verdeutlicht, dass er sich wünscht, den Frühling „in diesen Arm“ nehmen zu können.
Strophe 3 beginnt mit „Ach“, einem Ausdruck des Seufzens. Die erotische Stimmung nimmt mit den Worten „Busen“ (V. 12) des Frühlings und das Schmachten Ganymeds (V. 13) daran zu.
In den folgenden Versen 13/14 lenkt sich der Fokus von der Wärme des Frühlings (Strophe 1) auf die Natur und ihre Blumen und Gräser, die Schönheit der Natur.
Ab V. 15 wechselt das lyrische Ich von Ganymed auf die Nachtigall, die den „lieblichen Morgendwind“ (V. 17) des Frühlings anspricht. Am Ort des „Nebeltal(s)“ (V. 19), aus dem die Nachtigall ruft, ist der Frühling vermutlich noch nicht angekommen, weshalb sich die Nachtigall sehr nach ihm sehnt.
In V. 19 spricht wieder Ganymed. Er antwortet auf die Rufe der Nachtigall und setzt sich somit mit dem Frühling gleich. Auch hier lässt sich wieder der Pantheismus feststellen. Der Mensch (also auch Ganymed als Sterblicher) ist im Kern göttlich.
Strophe 4 bildet wie Strophe 2 einen Ausruf bestehend aus 2 Versen. Ganymed ruft, dass er komme und erkundigt sich nach dem Weg. Die Wiederholungen beider Sätze lassen darauf schließen, dass er es sehr eilig hat, zu Gott bzw. seinem Geliebten Zeus zu gelangen.
In Strophe 5 strebt Ganymed selbst (beschrieben durch das unbestimmte „es“) hinauf zu Gott. Die Wolken hingegen, die symbolisch für Gott stehen, bewegen sich abwärts. Beide Seiten nähern sich einander an, bis sie miteinander verschmelzen und so der Pantheismus entsteht. Das Wort „Hinauf“ (V. 22) und das Wort „Abwärts (V. 24) bilden eine Antithese2, die den Progress noch einmal verdeutlicht.
V. 25/26 beschreiben, wie sich Gott (vgl. die Wolken) sich der sehnenden Liebe“ (V. 25) neigen. Ganymed beschreibt sich selbst als die o.g. sehnende Liebe.
Strophe 6 bildet die letzte Strophe und beschreibt die Liebe zwischen Ganymed und dem Gott Zeus.
Sowohl V. 28 als auch V. 30 bestehen nur aus dem einen Wort „Aufwärts“ und erinnern an den Prozess des Zu-Gott-Kommens, der in Strophe 5 beschrieben wurde. In V. 29 fallen Subjekt und Objekt weg. Dies unterstreicht, dass Natur und Gott gleichgestellt sind und weist erneut auf den stark ausgeprägten Pantheismus im Gedicht hin.
Mit „Alliebender Vater“ (sic.) wird sowohl Gott selbst hier vertreten durch den griechischen GötterVATER Zeus, der in Ganymed lt. Gr. Mythologie verliebt ist, als auch die Natur selbst, zu der Ganymed sich hingezogen fühlt.
Während in „Kirschblüte bei der Nacht“ ein festes Reimschema vorherrscht, bleibt „Ganymed“ reimlos. Ebenso verhält sich das Metrum. „Kirschblüte“ besteht aus durchgängigen Jamben, Ganymed wurde in freien Rhythmen verfasst. Daher lässt sich Ganymed in die Epoche des Sturm und Drang einordnen. Dies zeigt sich außerdem am Syntax. „Kirschblüte“ wirkt durch die klar strukturierten Sätze wie eine Erzählung. Das lyrische Ich schreibt distanziert und häufig teilnahmslos. Die Ellipsen3, Inversionen4, aber vor Allem die immer wiederkehrenden Ausrufe mit „Ach“ als Einleitung oder die Strophen 2 und 4, die formal als Refrain wirken, bestätigen den „Drang“ zur Liebe, die emotionale Aufgewühltheit des lyrischen Ichs (Ganymed).
Das Hauptthema der Gedichte „Kirschblüte bei Nacht“ und „Ganymed“ ist dasselbe. Einerseits ist dies die Schlnheit der Natur, insbesonere die Schönheit des Frühlings. Andererseits besteht das Hauptthema in der Beziehung zwischen den Menschen, symbolisiert durch das lyrische Ich, zur Natur und zu Gott. Jedoch unterscheiden sie sich in der Art der Beziehung.
„Kirschblüte“ stellt einen Progress von der Überzeugung des lyrischen Ichs, die Schönheit der Natur sei nicht zu übertreffen, zum Gegenteil, der göttlichen Schönheit, dar. Im Laufe des Gedichts erfährt das lyrische Ich von der hierarchischen Überlegenheit Gottes, die mit der irdischen Schönheit nicht zu vergleichen ist. Aufgrund der Überlegenheit des Göttlichen bleibt die Distanz zwischen Natur, Mensch und Gott gewahrt. Dies entspricht der Weltanschauung des Deismus. Einordnen lässt sich das Gedicht außerdem in die Gedanken- und Ideenlyrik der Frühaufklärung vor der Epoche des Sturm und Drang. Dies zeigt sich auch an der Naturauffassung. Das Gedicht entstand vor dem Einbezug des schöpferischen Elements in die Natur; die Naturauffassung ist die natura naturans, ohne jeglichen Bezug zu Gott.
Demgegenüber steht Goethes Gedicht Ganymed. Schon zu Beginn entsteht eine erotische Grundstimmung. Das lyrische Ich Ganymed verschmilzt aufgrund der Liebe zuerst mit dem Frühling, der zur Natur verallgemeinert werden kann. In den letzten Strophen findet eine ähnliche Verschmelzung mit Gott statt. (s.o.)
Im Gegensatz zu Kirschblüte, das die Situation sehr nüchtern beschreibt, ist Ganymed voll von emotionalen Ausdrücken wie „Ach“ oder die Wiederholung „Mir! Mir! (V. 26); allerdings lassen sich auch in der Zeichensetzung Unterschiede feststellen. Während „Kirschblüte“ nur Punkte und Kommas verwendet, sind in „Ganymed“, besonders die Strophen 2 und 4, mit vielen Ausrufezeichen versehen, die die emotionale Wirkung unterstreichen.
Die Natur wird nicht mehr nur als natura naturata, sondern als natura naturans, die als schöpferisch und göttlich angesehen wird, dargestellt.
Eine Trennung von Natur und Gott wie in Kirschblüte findet nicht statt. Stattdessen wird auch der Frühling als göttlich beschrieben (vgl. V. 7). Dies entspricht dem Pantheismus, der auch in anderen Gedichten von Johann Wolfgang Goethe benutzt wird.
Gott und die Natur ist im Grunde genommen eins. Alles, sogar der Mensch, ist im Kern göttlich.