Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Abend“ des Modernisten Rainer Maria Rilke kritisiert die Vorstellung des Himmels und der Hölle im Christentum, indem er das hintergründig agierende lyrische Ich dem an seinem Lebensabend stehenden lyrischen Du am Beispiel dessen selbst erklären lässt, dass ein menschliches Leben zu komplex ist, um den Menschen eindeutig an den einen oder anderen Ort zu bringen. Aussagen wie diese sind typisch für Rilke, da er Anhänger Nietzsches Religion geringschätzender Philosophie war.
Das Gedicht ist in drei Strophen geteilt, die jeweils vier Verse umfassen, und weist bis auf im letzten Vers einen fünfhebigen Jambus auf, der das gleichmäßige Fortschreiten der Zeit bis zum Tod verdeutlicht.
Das Reimschema entspricht in den ersten beiden Strophen einem Kreuzreim, der in der dritten Strophe aber von einem umarmenden Reim abgelöst wird. Dieses Muster wird von den Kadenzen1 verstärkt, die das Reimschema exakt nachahmen, und soll einen Gegensatz zwischen dem Himmel und der Hölle schaffen, gleichzeitig kann es aber auch den Zweck haben, beide Seiten zu durchmischen, da sie laut des lyrischen Ichs sowieso keine Bedeutung für den Menschen haben.
Die ersten beiden Verse des Gedichts etablieren einen Teil der Situation, in der es sich abspielt: „Der Abend wechselt langsam die Gewänder, / die ihm ein Rand von alten Bäumen hält“ (Verse 1f.). Der Leser wird somit in das Gefühl versetzt, in der beginnenden Dämmerung auf den Horizont über einem Wald zu sehen. Der Wald kann dabei für Ruhe und auch Einsamkeit stehen, ein Motiv, das im weiteren Verlauf des Gedichts noch einmal auftritt. Die Adjektive „langsam“ (Vers 1) und „alten“ (Vers 2) sowie das Substantiv „Gewänder“ (Vers 1) rufen im Zusammenhang mit der Personifikation2 des Abends sowie des Waldrandes das Bild einer alten Person hervor.
Dies stellt klar, dass es sich beim beschriebenen Abend um den Lebensabend einer Person handelt. Der Gewandwechsel, den der Abend vollzieht, deutet darauf hin, dass dieser im Verlaufe dessen unbekleidet zu sehen ist. Man könnte also vermuten, dass man mit der sprichwörtlichen „nackten Wahrheit“ über den Lebensabend der betreffenden Person konfrontiert wird.
Wer diese Person ist, wird im nächsten Vers klar: „du schaust: [...]“ (Vers 3), das lyrische Du, das erst in der Moderne als zumindest teilweise geläufige Komponente der Lyrik in Erscheinung tritt, ist hier die Person, um dessen Leben es geht. Dass das lyrische Du „schaut“, legt nahe, dass es sich beim Folgenden um einen Blick in die Zukunft handelt. „Und von dir scheiden sich die Länder, / ein himmelfahrendes und eins, das fällt“ (Verse 3f.) ist das, was in der Zukunft gesehen wird. Unschwer zu erkennen ist dabei, dass die „Länder“ Himmel und Hölle symbolisieren sollen. Die Bewegungen nach oben bzw. unten, die die Länder vollführen, stellen ein Gegensatzpaar dar, das noch mehrmals in verschiedenen Variationen aufgegriffen wird. Gleichzeitig sind beide Bewegungen Bewegungen weg vom lyrischen Du, was durch die Formulierung „von dir scheiden“ in Vers 3 sehr deutlichgemacht wird.
Die erste Strophe fungiert also quasi als eine Art Exposition, die das Thema – den Lebensabend mit anschließendem Übergang in den Himmel oder die Hölle – und dessen Beziehung zum lyrischen Du zeigt.
Die Bewegung weg vom lyrischen Du bekommt im ersten Vers der zweiten Strophe durch die Formulierung „und lassen dich [...]“ (Vers 5) zusätzliches Gewicht. Damit einher geht die Vorstellung, Himmel und Hölle ließen das lyrische Du „in Ruhe“. Den Grund hierfür liefert der darauffolgende eingeschobene Nebensatz „[...] zu keinem ganz gehörend“ (Vers 5). Das lyrische Du scheint zu gut für das eine und zu schlecht für das andere zu sein.
Auch die anderen Verse der dritten Strophe, die syntaktisch an „und lassen dich [...]“ in Vers 5 anschließen, beziehen sich auf diesen Umstand, so heißt es in den Versen 6ff.: „nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt, / nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend / wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt“. Sie lassen es also nicht nur alleine, sondern sie lassen es auch so sein, wie es ist, ohne irgendeine Änderung zu erzielen. Auf diese Weise werden Himmel und Hölle als höchst unbedeutend für das lyrische Du bezeichnet, ein klarer Widerspruch zu den Überzeugungen des Christentums.
Das dunkle, schweigende Haus spielt in diesen Versen in mehrfacher Weise eine wichtige Rolle: Es fasst das Thema der Ruhe und Einsamkeit auf, das der Wald schon anzudeuten versuchte, indem es das Symbol des Zusammenlebens als dunkel und unbewohnt darstellt. Außerdem präzisiert es den Ort des Geschehens: Dadurch, dass allein durch den Artikel „das“ auf es verwiesen wird, existiert es auf ganz natürliche Weise in der Szene; das lyrische Du muss es also zumindest sehen können. Allerdings weiß das lyrische Ich, dass im Haus Stille herrscht, es ist also anzunehmen, dass es sich im Haus befindet. Der in Strophe 1 genannte Waldrand mit Horizont wird demnach durch ein Fenster des Hauses aus „sicherer Entfernung“ beobachtet. Dies kann als Distanzierung beider lyrischer Personen vom Geschehen interpretiert werden, eine Haltung, die auch Rilke selbst vertrat. Kombiniert man diese Distanzierung mit der vorher genannten Bedeutungslosigkeit, kommt man zu dem Schluss, das lyrische Ich negiere jegliche Existenz beider Orte.
Die Verse 7f. beschreiben im Gegensatz zum schweigenden Haus auf dem Boden wieder eine Bewegung nach oben („das, was [...] steigt“, Vers 8). Damit ist das Gegensatzpaar oben / unten wieder aufgegriffen und es steht fest, dass das Haus mit den Eigenschaften der Hölle (dunkel und einsam) verglichen wird, und das, was „sicher Ewiges“ (Vers 7), also Gott, beschwört, „Stern wird jede Nacht und steigt“ (Vers 8), eine Anspielung in Form des physischen Himmels auf die christliche Vorstellung des göttlichen Himmels ist.
Das lyrische Du wird in den Versen 6f. anaphorisch „nicht ganz so“ gut bzw. schlecht genannt, was an das „zu keinem ganz gehörend“ aus Vers 5 anknüpft. Das Wort „ganz“ kommt dabei dreimal in drei Versen vor, es scheint also berechtigt, ihm besondere Relevanz einzuräumen. Tatsächlich ergibt es Sinn, es als wesentlichen Bestandteil der Hauptaussage des Gedichts gelten zu lassen, wie in der dritten Strophe noch deutlicher wird.
Zunächst wird aber durch eine Wiederholung der Wortfolge „und lassen“ (Vers 5) In Vers 9 noch einmal das Verlassen des lyrischen Dus betont. Darauf folgt die Parenthese „(unsäglich zu entwirrn)“ im selben Vers, die verdeutlicht, dass es unmöglich ist, „dein Leben“ (Vers 10) als entweder gut oder schlecht einzuordnen, was mit der genannten „nicht ganz so“-Konstruktion aus der vorigen Strophe kongruiert. Weiter bestärkt wird diese Ansicht durch eine detaillierte Beschreibung „dein[es] Leben[s:] bang und riesenhaft und reifend“ (Vers 10). Der Begriff „bang“ kann dabei auf das baldige Ende des Lebens deuten (das lyrische Du steht bereits am Lebensabend), „riesenhaft“ erscheint das Leben in der Retrospektive; zu groß, um es überblicken und einschätzen zu können.
Das nahende Ende kann auch durch „bald begrenzt“ in Vers 11 verdeutlicht werden. Das dazu parallele, im selben Vers folgende „bald begreifend“ deutet eine Erkenntnis kurz vor Lebensende an. Der Parallelismus beider Satzteile verdeutlicht, dass beide gleich wahrscheinlich eintreten werden, die Erkenntnis also „todsicher“ ist.
Worum es bei dieser Erkenntnis geht, verbirgt sich im letzten Vers des Gedichts: „[Dass dein Leben] abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn“ (Vers 12). Der (in der Vorstellung des Lesers schwere) Stein im eigenen Körper ist eine Metapher3 für Trauer oder ähnliche negative Gefühle, die das Gemüt beschweren. Das Gestirn hingegen steht für ein nahezu euphorisches Glücksgefühl, das den Körper von innen heraus zum Leuchten bringt. Dass sich beide Gefühle ständig abwechseln, lehnt die Vorstellung ab, sich an einem ausschließlich guten bzw. schlechten Ort, wie dem Himmel oder der Hölle, zu befinden.
Auch das Reimschema (mitsamt es intensivierender Kadenzen) unterstützt diese Ablehnung: In der dritten Strophe wendet es sich vom Kreuzreim ab, der bis dahin den Gegensatz zwischen Himmel und Hölle, von dem es kein Entkommen zu geben schien, verdeutlicht hat, und führt mit dem umarmenden Reim eine Lösung ein, die sich dem alten Prinzip komplett entzieht: An die Stelle einer einzigen, endgültigen Entscheidung darüber, ob das Leben gut oder schlecht war, tritt eine der Riesenhaftigkeit (vgl. Vers 10) und Komplexität des Lebens angepasste Bewertung mitsamt entsprechenden Konsequenzen für das lyrische Du, das sich je nach Tat, die es im Leben vollbracht hat, gut bzw. schlecht fühlt. Noch weiter wird dies betont, indem der letzte Vers statt des sonst üblichen Jambus' im Daktylus verfasst ist, auch hier findet sich also der Ausbruch aus dem bekannten entweder-oder-Muster.
Rilke wirft in seinem Gedicht „Abend“ also einen differenzierten Blick auf das menschliche Leben, indem er eine bloße Aufteilung in gut und böse, wie in Religionen wie dem Christentum üblich, ablehnt, dafür aber einen Alternativvorschlag für Belohnung und Bestrafung macht, der den Leistungen im Leben eines Menschen besser zu entsprechenversucht, und dazu noch ohne Religion und den Übergang in ein Jenseits auskommt. Lohn und Strafe erfährt der Mensch noch zu Lebzeiten durch seine eigenen Gefühle. Rilkes starke Orientierung am rational Erfahrbaren wird ebenfalls deutlich, und zwar durch den Wahrheitsanspruch, den er zu Beginn des Gedichts mit dem Um- bzw. Entkleiden des Abends stellt („nackte Wahrheit“). Er möchte sich nur auf das beziehen, was Menschen selbst erleben und erfahren können, nicht auf das, was sich „ausgedacht“ wurde.
Deswegen stellt er die naturwissenschaftlich nicht nachweisbaren Orte Himmel und Hölle als für den Menschen komplett unbedeutend und unerreichbar, ja sogar als sich ständig weiter von ihm entfernend dar.