Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
In den Gedichten „Der Apfelgarten“ von Rainer Maria Rilke und „Vom Sprengen des Gartens“ von Berthold Brecht befassen sich beide Lyriker in besonderer Weise mit einer Form des „Ordnens“ bzw. des Erneuerns.
Das Gedicht „Der Apfelgarten“ von Rainer Maria Rilke ist in vier Strophen unterteilt und besteht aus einem Satz. In der ersten Strophe bestehend aus vier Versen wird der Leser direkt angesprochen. Der Leser wird nahezu eingeladen erst zu „kommen“ (Vers1), dann zu „sehen“ (V. 2) und schließlich wird er gefragt (V. 3f.). Die „Einladung“ bezieht sich auf das Ende des Tages, der Zeit der Besinnung: „sieh das Abendgrün des Rasengrunds“ (V. 2). Das Augenmerk soll auf die Natur gerichtet werden und dort gezielt auf das „Abendgrün“, die Hoffnung am Ende des Tages und den Rasengrund, also auf den „Boden“. Der „Boden“ könnte hier für die Besinnung auf das Wesentliche stehen. Die direkte Ansprache des Lesens wird im dritten und vierten Vers zur freundlichen Einladung: „ist es nicht, als hätten wir es lange / angesammelt und erspart in uns,“. Das „Wir“ vereint den Leser und das lyrische Ich. Das „Es“ könnte sich hier auf das Eigentliche oder auch Wesentliche beziehen. Das Wesentliche ist hier möglicherweise noch zwischen einer Reihe von Gedanken von „Angesammeltem“ und „Erspartem“.
Das Wesentliche wird in der zweiten Strophe „vor uns hingestreut“ (V. 8). Das Wesentliche wird geradezu herausgefiltert aus „Fühlen und Erinnern“, „neuer Hoffnung, halbvergessenem Freun“ und dem „Dunkel aus dem Innern“ (V. 5ff.). Das Wort Filtern erscheint passend, da vieles noch „vermischt“ (V. 7) ist. Die Auswahl, die es zu ordnen gilt, beinhaltet einen Kontrast. Es wird nicht nur Schönes geordnet, sondern zudem „Verdrängtes“ bzw. „Vergessenes“. Die „neue Hoffnung“ und das „halbvergessene(m) Freun“ zeigt, dass es nicht nur Neues, sondern auch Altes zu strukturieren gibt. In dem „Halbvergessenen“ schwingt eine gewisse Melancholie mit. In der Besinnung auf das Innere in Form von Gefühlen, Erinnerungen und Hoffnungen kommt eine Nachdenklichkeit zum Vorschein, die Rilke oftmals in seinen Gedichten anklingen lässt. Alle diese Eindrücke bzw. Impressionen von Innen gilt es „in Gedanken vor uns hinzustreun“ (V. 8). In diesem Vers spricht das lyrische Ich abermals von der Pluralform „uns“, der Leser bleibt angesprochen und wird dazu angehalten, es dem lyrischen Ich gleichzutun. Etwas vor sich hinzustreuen bedeutet, etwas Gesammeltes vor sich auszubreiten. Das Ausbreiten schafft einen distanzierteren Überblick und erleichtert ein Ordnen. Die zweite Strophe endet zwar nicht mit einem Punkt, hat jedoch trotzdem etwas Abgeschlossenes. Die Geste des „Hinstreuens“ hat etwas Beruhigendes. In Gedanken und beim Lesen hält man nun inne und warte, was nun passieren könnte.
Mit der dritten Strophe tritt eine Veränderung ein. Es beginnt eine Art Gedankenstrom. Die dritte und vierte Strophe sind lediglich durch die äußere Form des Gedichts getrennt. Die Strophen gehen sprachlich direkt ineinander über. Das Naturthema wird hier ebenso wie in der ersten Strophe aufgegriffen: „unter Bäumen wie von Dürer, die / das Gewicht von hundert Arbeitstagen / in den überfüllten Früchten tragen.“ (V. 9ff.). Die Bäume symbolisieren hier Erfahrungen. Da dem lyrischen Ich die Bäume erscheinen, als wären sie von Dürer, also sehr knorrig, deutet dies darauf hin, dass der Baum sehr alt ist, also schon sehr viele Erfahrungen gemacht hat. Die Erfahrungen werden durch das „Gewicht von hundert Arbeitstagen“ noch erkennbarer. Dieser Vers strahlt eine große „Schwere“ aus, die die Bäume, also die Erfahrungen zu tragen haben. Die „überfüllten Früchte“ sind Früchte des Baumes, Ergebnisse der Erfahrungen. Die Schwere findet auch in den Worten „Tagen“ und „Tragen“ Ausdruck. Die unbetonten weiblichen Endungen wirken schwer und ruhig. Das Gedicht gewinnt nun im zwölften Vers durch eine Aufzählung an Schnelle. Die Früchte tragen das Gewicht „dienend, voll Geduld, versuchend, (….)“ (V. 12). Die Früchte sind demnach unterwürfig und wartend. Die dritte Strophe endet mit dem Beginn eines Vergleiches. Die „Früchte tragen, / dienend, voll Geduld, versuchend, wie / das was alle Maße übersteigt“ (V. 11-13). „Das, was alle Maße übersteigt“ ist möglicherweise das Ziel. Etwas, was alle Maße übersteigt, liegt außerhalb der Norm und ist vollkommen. Diese „Vollkommenheit“ zu perfektionieren und schließlich weiterzugeben ist jedoch an eine Bedingung geknüpft. In dieser Bedingung wird nun ein allgemeines „man“ angesprochen. Nur wer „willig“ viele Erfahrungen macht und nur das „Eine“, das Ziel, im Blick hat und „wächst“ und „schweigt“ (V. 16), wird es erreichen. Die vierte Strophe bietet so einen Blick auf Erfahrungen und Einschränkungen und vor allem blickt sie auf das Ergebnis.
Dieses Gedicht bietet den Blick auf eine Art Entwicklung. Die Entwicklung dahin, etwas ordnen zu können, um zu einem Ziel zu gelangen bzw. einer Erkenntnis. Der Beginn des Gedichts mit einer Exposition und vor allem mit der Zeitangabe „nach dem Sonnenuntergang“, einem Hinweis auf das Ende des Tages, zeigt den Willen zur Besinnung. Das Ende des Tages eignet sich ideal zum Revuepassierenlassen. Das lyrische Ich lädt den Leser dazu ein, mitzukommen. Die endgültige Besinnung geschieht hier erst nach einer Zeit des Ordnens von Gedanken und Gefühlen. Die Entwicklung und Ordnung zeigt sich im Reimschema des Gedichts. Die ersten zwei Strophen im Kreuzreim weisen auf eine noch bestehende Unordnung hin bzw. durch das Kreuzen der sich reimenden Versenden entsteht eine gewisse Zerrissenheit. Die zwei letzten Strophen hingegen strahlen eine Ordnung und Ruhe aus. Das lyrische Ich gelangt nach dem Strukturieren seiner Gedanken und Gefühle zu einem Ergebnis. Es wäre möglich, hier von einer Innenraumkonfiguration zu sprechen. Eine Erneuerung durch eine Form des Aufräumens des Inneren scheint hier jedoch passender. Der Leser ist eingebunden und angesprochen.
Vergleich zu „Vom Sprengen des Gartens“ von Bertolt Brecht
Auch in dem Gedicht „Vom Sprengen des Gartens“ wird der Leser direkt angesprochen. Auch in diesem Gedicht soll der Leser aktiv werden. Der Leser soll hier derjenige sein, der den Garten gießt. Der Leser soll derjenige sein, der handelt und für Erneuerung sorgt. Das Naturthema greifen beide Lyriker auf und betiteln ihre Gedichte mit Variationen vom Garten, „Apfelgarten“ und „Vom Sprengen des Gartens“. Die Erneuerung in Form einer Erfrischung der Pflanzenwelt. Ein Blick auf die äußere Form der Gedichte weist bemerkenswerte Parallelen auf. Ist die Form der Gedichte auf den ersten Blick recht unterschiedlich, so fällt bei näherer Betrachtung in beiden Gedichten eine Vierteilung auf. Das Gedicht Rilkes besteht aus einem Satz und vier Strophen. Das Gedicht Brechts besteht aus einer Strophe und vier Sätzen. Rilke trennt hier durch die äußere Form und Brecht durch das Setzen von Punkten. Das Gedicht Rilkes wirkt wie eine Einladung, das Gedicht Brechts eher wie ein Gebet. Der erste Vers „Oh Sprengen des Gartens, das Grün zu ermutigen“ ähnelt nahezu einer Schöpfungsgeschichte. Rilke ist sehr bedacht auf Ästhetik, die ihren Ausdruck in der Sprache und in der Verwendung von Sprachbildern findet und hat all dies auch im vorliegenden Gedicht angewendet. Er hat in Strophen unterteilt, ein Versmaß festgelegt und ein klassisches Reimschema verwendet (Kreuzreim und umarmender Reim). Die vorzufindende Melancholie bzw. Nachdenklichkeit ist typisch für Rilke und findet Ausdruck in den verwendeten Metaphern1 und Symbolen wie dem „Abendgrün“ (V. 2). Brecht verwendet ebenfalls klassische, stilistische Elemente wie Anaphern2 (vgl. V. 3, 109 „gib mehr, gib mehr, gib mehr als genug“. Es finden sich in beiden Gedichten typische Merkmale der Lyriker. Ein wichtiger Punkt erscheint mir Brechts Antithetik und die Gesellschaftskritik zu sein. Eingebettet in ein neutral erscheinendes Gedicht mit einer Naturthematik findet sich in Brechts Gedicht eine Kritik an der Gesellschaft wieder. Diese Kritik zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie eher eine Art Bedingung ist. Es soll der Garten gegossen werden, jedoch, und nun folgt die Einschränkung, soll nicht nur das Schöne, also die Blumen, sondern auch das Unkraut und Gesträuch bedacht werden (vgl. V. 4-9). Zum einen ist dies von Brecht eine gewollte Kritik und zum anderen eine weitere Parallele zum Gedicht von Rilke. In diesem Gedicht sind es nicht Pflanzen, sondern Gefühle, aber auch hier soll an die fast vergessenen Gefühle gedacht werden und nicht nur an die, die noch frisch und neu sind (vgl. V. 4-7). Es findet sich so in beiden Gedichten sowohl eine Entwicklung als auch eine Erneuerung, die zwar auf verschiedene Weisen vermittelt werden, aber auch erstaunlich viele Parallelen aufweisen. Das Element des Ordnens findet sich in der Unterscheidung der Pflanzen in Garten, Bäume, Strauchwerk, Blumen, Unkraut, Rasen und nacktem Boden (V. 1-11) wieder. Die Ordnung wird in der Abstufung verdeutlicht, die zudem eine Ordnung von oben nach unten, vom Schönen zum Schmucklosen ist (äußere Ordnung). Bei Rilke vollzieht sich die Ordnung in Form einer Gedankenordnung, einer inneren Ordnung.