Hintergrund von „Willkommen und Abschied“
Goethe führte als 21-Jähriger eine etwa eineinhalbjährige, intensive Beziehung zur Pfarrerstochter Friederike Brion aus Sessenheim (bei Straßburg). Später entschied sich Goethe für den Abbruch der Beziehung, weil sie nicht dem gesellschaftlichen Stand entsprach, aus dem Goethe stammte. Die Verliebtheit Goethes, seine wechselhaften Höhen und Tiefen, werden in den Gedichten aus seiner Sturm- und Drang-Zeit deutlich und werden später unter dem Titel „Sessenheimer Lieder“ publiziert.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Und doch welch Glück, geliebt zu werden! / Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ Mit diesen Versen endet Johann Wolfgang Goethes 1771 verfasstes Liebesgedicht „Willkommen und Abschied“. Die beiden Sätze sind bezeichnend für das Gedicht, welches Goethe mehrfach stark überarbeitete. Nur wenige Verse blieben gleich, so auch diese. In dieser Analyse werde ich mich auf die Überarbeitung Goethes von 1789 beziehen, welche sich in die Epoche des Sturm und Drangs einordnen lässt.
Typisch für diese Zeit ist das lyrische Ich, welches von starken, innigen Gefühlen geleitet, zu seiner großen Liebe reitet. Im Gegensatz zum emotionalen lyrischen Sprecher steht die eher konventionelle Form von „Willkommen und Abschied“. Das Gedicht ist in vier Strophen à acht Verse aufgeteilt. Während des gesamten Textes ist das Metrum1 durchgängig der vierhebige Jambus, wobei der erste Vers einer jeden Strophe auf eine weibliche Kadenz2 endet und dann ein Wechsel von männlicher und weiblicher Kadenz folgt. Diese strikte Form entspricht nicht dem Ideal der meist jungen „Stürmer und Dränger“ sich gegen die alten Einschränkungen und Konventionen wendeten. Allerdings trägt der Rhythmus, der durch das einheitliche Metrum erzeugt wird, gerade am Anfang, dass Geräusch und Gefühl eines rhythmischen Pferdereitens, im Kopf.
Denn in der ersten Strophe reitet das lyrische Ich am Abend „Herz über Kopf“ los. Die Beschreibung einer furchterregenden Natur zieht sich dabei bis in die zweite Strophe. In dieser beschreibt das lyrische ich jedoch, dass es dennoch voller Mut auf Grund seiner Liebe ist. In der dritten Strophe trifft der lyrische Sprecher auf seine Liebe und ist davon sehr froh gestimmt. Doch schon in der vierten Strophe kommt es wieder zum Abschied, wobei dieser nicht ausschließlich als negativ von dem lyrischen Ich wahrgenommen wird, da es sich noch immer freut „geliebt zu werden“ und lieben zu können.
Das Gedicht bietet einige Parallelen zum Leben des Autors. Ein Interpretationspunkt ist, dass es sich bei der Geliebten um die Geliebte Goethes Friederike Brion handelt. Zu seiner Studentenzeit machte Goethe, der in Straßburg lebte oftmals Ausritte. Bei einem dieser lernte er 1970 in Sesenheim die Pfarrerstochter Friederike Brion kennen mit der er für circa ein Jahr zusammen war. In folge dessen verfasste Goethe einige Gedichte, die heute als Sesenheimer Lieder bekannt sind. Da Goethe weiterhin in Straßburg lebte, musste er um Friederike Brion zu sehen, wie das lyrische Ich, zu ihr reiten.
Ein anderer nicht biografischer Interpretationsansatz ist, dass das lyrische Ich und seine Liebe sich nur heimlich treffen können, dass sie mit ihrer Liebe gegen die Konventionen verstoßen. Zum einen ist denkbar, dass es sich um eine standesübergreifende Liebe handelt, die damals verboten war. Diese Regel war vielen „Stürmern und Drängern“ ein Dorn im Auge, weshalb sie in einigen Gedichten thematisiert wurde. Zu anderen könnte es sich auch um eine gleichgeschlechtliche Liebe handeln, die zu dieser Zeit ebenfalls unter Strafe stand. Goethe thematisierte diese indirekt bereits in seinem Gedicht Ganymed, in welchem das lyrische Ich, der männliche Ganymed, eine Liebesbeziehung mit dem Göttervater führt.
Bereits der Titel „Willkommen und Abschied“ fasst die Kernhandlung gut zusammen. Denn die ersten beiden Strophen handeln beinahe vollständig vom Kommen und die Letzte vom Abschied, sodass wenig Raum für das Zusammensein bleibt. So fällt die Szene des Zusammenseins auch aus dem Reimschema. So besteht dieses in den ersten beiden und in der letzten Strophe immer aus zwei aufeinanderfolgenden Kreuzreimen. In der dritten Strophe ist der Kreuzreim unvollständig, sodass sich das folgende Reimschema ergibt: a b c b d e f e. Doch nicht nur die formelle Ebene ändert sich im Laufe des Textes, auch auf der sprachlichen Ebene vollzieht sich eine Wandlung. So wird in den ersten beiden Strophen die negative düstere, ja, nahezu angsteinjagende Stimmung nicht nur durch die Akkumulation von Worten, wie „Finsternis“ (V. 7), „schwarz“ (V. 8) oder „schauerlich“ (V.12) unterstrichen, sondern auch durch die sich häufenden Personifikationen3 (vgl. V. 3 ff.). Diese erzeugen Bilder im Kopf des Lesers, wie beispielsweise ein furchteinflößender Waldweg bei Nacht. Gerade für die Menschen des 18. Jahrhunderts muss dies sehr eindrücklich gewesen sein, da es damals nachts keine Beleuchtung gab und Dunkelheit nicht wie heutzutage wenig Licht, sondern geradezu absolute Dunkelheit bedeutete. Ab Vers 14 vollzeiht sich allerdings ein Bruch in der Grundstimmung, weg von der Finsternis hin zur Heiterkeit. Dieser wird auch durch einen Wandel in den sprachlichen Mitteln betont. Verwendet Goethe bis dahin ausschließlich einmal das Pronomen der ersten Person Singular, so verwendet er es ab Vers 14 ganze 12 Mal. Er bewegt sich damit ein wenig Weg von einer nahezu epischen Sprache, hinzu dem Ideal des „Sturm und Drangs“: dem Individualismus. Weiterhin werden die Gefühle stärker beschrieben. Es lässt sich vermuten, dass daher auch der Stimmungswechsel rührt. Denn die jungen Dichter nahmen damals, an man könne das Göttliche über die Gefühle entdecken. Das wiederum spiegelt sich dann auch auf die Sicht auf die Natur wider. Zuvor wird sie als gruselig und düster beschrieben, nun wird sie wie beispielsweise Vers 21 als frühlingshaft und aufblühend beschrieben. Dahinter lässt sich der Gedanke des Pantheismus, dass Gott in allen Dingen in der Natur steckt vermuten. Sobald das lyrische Ich das Göttliche erkannt hat, sieht es dieses auch in der Natur. Das „rosafarbene(s) Frühlingswetter“ (V. 21) kann auch als Symbol für die aufblühende Liebe gewertet werden. Diese Einheit von Natur und Gefühl findet man in einigen Gedichten Goethes dieser Zeit, beispielsweise im „Mailied“. Neben dem neuen Naturaspekt gilt der Frühling auch als Symbol für die Jugend. Diese wird dem lyrischen Ich durch die erblühende Liebe neu gegeben. So schreibt Goethe etwa im Vers 14 „Doch frisch und fröhlich war mein Mut“. Schaut man sich darauffolgenden Verse an, wird dem Leser deutlich, wie Stark die Liebe des lyrischen Sprechers ist. In dem Parallelismus „In meinen Adern welches Feuer! In meinem Herzen welche Glut!“ verwendet das lyrische Ich die Begriffe „Glut“ und „Feuer“ als Symbole für die Leidenschaft, wodurch dieser abstrakte Begriff für den Leser verbildlicht und noch verständlicher wird. Unterstrichen wird diese starke emotionale Rede noch durch die Ausrufezeichen, welche das Ideal der „Stürmer und Dränger“, die direkte Übermittlung des Gefühls, betonen. Ab dieser Stelle mehren sich auch insgesamt die Begriffe, die für den Oberbegriff Liebe stehen. Das Gedicht ist voll mit dem Gefühl der Liebe. So neigt das lyrische Ich auch zu Hyperbeln4, wie in Vers 20, da diese zum Verliebtsein dazugehören.
Am Ende der dritten Strophe wendet sich das lyrische Ich mit der Bitte nach Zärtlichkeit an die Götter. Dies erinnert an das Gedicht Prometheus, in dem sich dieser an die Götter wendet, allerdings um an ihnen Kritik zu üben. Man könnte vermuten, dass es sich bei dem Gedicht vielleicht auch um eine Aufarbeitung einer alten Sage bezieht oder dass Goethe zumindest von einer beeinflusst wurde. Denn zum Ende des 18. Jahrhunderts war das Christentum weithin verbreitet, weshalb sich das lyrische Ich an nur einen Gott wenden müsste. Die jungen Poeten verwendeten allerdings häufig die Antike als Vorbild, weshalb es zu dieser Wortwahl gekommen sein könnte. In dem nächsten Vers zeigt sich zum ersten Mal eine leichte Zerrissenheit des lyrischen Sprechers. Mit dem Parallelismus „Ich hofft es, ich verdient es nicht“ bezieht er sich noch immer auf die Zärtlichkeit. Der bis auf das „nicht“ identische syntaktische Aufbau der Sätze betont gerade diesen semantischen Unterschied.
In der letzten Strophe kommt es zum Abschied, welcher dem lyrischen Ich sichtlich schwerfällt, was beispielsweise an der Interjektion5 „ach“ (V. 25) zu erkennen ist. Diese verstärkt allerdings auch noch den Eindruck des direkt übermittelten Gefühls und der Spontanität. Beides waren Kernforderungen des „Sturm und Drangs“ an die Prosa. In den Versen 27 und 28 wird der Parallelismus aus den Versen 15 und 16 umgekehrt und der Blick richtet sich auf die Liebe des lyrischen Sprechers. Der Bruch zwischen den beiden, beziehungsweise der Abschied wird in Vers 29 durch den Parallelismus „ich ging, du standst“ dem Leser deutlich vor Augen geführt. Trotz des Abschieds ist das lyrische Ich nicht gänzlich traurig, sondern wendet sich an die Götter und spricht davon welch ein Glück es ist Lieben zu können und geliebt zu werden. Dabei sind seine Sätze anaphorisch und das Wort „Glück“ wird durch eine Wiederholung betont (vgl. V. 31f.).
Die Deutung des Textes bleibt letztendlich offen. Allerdings ist zumindest der biografische Ansatz kaum abzustreiten. Die Erlebnislyrik kam im „Sturm und Drang“ auf, dass heißt man nahm erlebtes zum Anlass für seine Poesie. Die sehr stark beschriebene Liebe, die mit vielen Bildern arbeitet lässt auf ein selbsterleben Goethes zurückschließen. Ob noch andere Bestrebungen hinter dem Gedicht standen, als sich mit der eigenen Liebe auseinander zu setzen, bleibt allerdings offen.
Insgesamt handelt es sich um ein Gedicht der Gegensätze, der düsteren Seite und der vor Freude beinahe platzenden Seite oder wie man auch so schön über Verliebte sagt: „himmelhochjauzend, zu Tode betrübt“. Doch diese Besondere sprachliche Zeichnung Goethes von der Liebe passt viele Aspekte betreffend sehr gut in seine Epoche. Denn wer kennt es nicht, den Ritt oder heute wohl die Fahrt zu seiner Beziehung über nimmt man alles als düster wahr, doch sobald man seine Liebe sieht, blüht man auf, ist wieder jung, hat neuen Mut. So kann man sagen, dass es sich bei diesem Liebesgedicht Goethes um ein zeitloses handelt, welches sich auch auf die heutige Welt der Digitalisierung noch zuschneiden lässt. Denn selbst der, der nur mit seinem Handy beschäftigt ist, vergisst beim Anblick seiner Liebe, wie das lyrische Ich, die Welt um sich herum.