Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Bei dem vorliegenden Gedicht handelt es sich um das Gedicht "Abschied", das 1906 von Rainer Maria Rilke veröffentlicht wurde und hier nach "Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, Bd1" (Frankfurt, 1955) zitiert wurde. Das Thema des Gedichts ist das emotionale Erleben eines Abschieds.
Das Gedicht gliedert sich formal in drei Strophen zu je vier Versen. Das Metrum1 ist ein fünfhebiger Jambus, das Reimschema in der ersten Strophe a,b,b,a, in der zweiten Strophe c,d,c,d und in der dritten Strophe e,f,f,e.
Die erste Strophe benennt zunächst das Thema des Gedichts: Das lyrische Ich erläutert im Folgenden aus einer Erinnerung heraus die Emotionen und psychischen Vorgänge, die es während eines Abschieds empfunden hat. Hervorzuheben ist, dass die rationalen Vorgänge dabei außer Acht gelassen werden ("Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt", V.1). Dementsprechend wird auch im ganzen Gedicht nicht erwähnt, von wem sich das lyrische Ich verabschieden muss, oder unter welchen Umständen dies geschieht. Der Beginn des zweiten Verses ("Wie weiß ichs noch:") bildet zum einen eine Anapher2 mit Vers 1 ("wie" wird wiederholt) und zeigt zum andern, dass es sich bei den folgenden Beschreibungen nicht um etwas direkt Erlebtes, sondern um eine Erinnerung handelt. Dann setzt die Umschreibung des Gefühlszustandes ein, die sich durch das ganze weitere Gedicht zieht.
Das lyrische Ich empfindet einen inneren Zwiespalt. Zum einen fühlt es noch einmal Freude darüber, dass die Beziehung zu dem Menschen oder der Sache, von dem / der es sich verabschieden muss, besteht. Dies nennt es mit einem Neologismus3 "ein Schönverbundenes" (V.3). Zugleich weiß es aber auch, dass diese Verbindung nun eine Unterbrechung erfährt, die in der poetischen Sprache des Werkes verdinglicht wird. Der Trennungsschmerz wird mit negativ konnotierten Adjektiven als ein "dunkles unverwundnes grausames Etwas" beschrieben. Die Qual für das lyrische Ich besteht also in dem gleichzeitigen Erleben der Schönheit dieser Beziehung und deren Abbruch, was in Vers vier hervorgehoben wird. Möglicherweise dient die zweimalige Wiederholung des Wortes "und" in diesem Vers dazu, den abrupten deutlich zu machen, da es den Vorgang so in drei Teile gliedert, nämlich in zeigen, hinhalten und zerreißen. Des weiteren ist zu sagen, dass sich in der ersten Strophe von Vers zwei zu Vers drei ein Enjambement befindet.
Die zweite Strophe beschreibt den inneren Zustand des lyrischen Ichs erneut, beleuchtet aber mehr seine eigene Rolle dabei, während in der ersten Strophe der Schwerpunkt stärker auf der Beschreibung des reinen emotionalen Vorgangs lag, was man auch daran sehen kann, dass dort nur zwei Mal das Wort "ich" vorkommt.
Das lyrische Ich empfindet sich als ohnmächtig gegenüber dem, was es erlebt ("Wie war ich ohne Wehr...", V.5). Dieser Vers bildet erneut durch das Wort "wie" eine Anapher mit den Versen eins und zwei. Möglicherweise kann man ihn auch als Alliteration4 verstehen (dreimalige Verwendung des Anfangsbuchstabens w). Die folgenden drei Verse bilden einen stark verschachtelten Satz, der erneut die ambivalenten Emotionen während des Abschieds darstellt. Das lyrische Ich muss gehen, während der andere Part seiner Beziehung dort bleibt. Auf der einen Seite wird es gehen gelassen, auf der anderen Seite jedoch auch gerufen. Diese innere Zerrissenheit schlägt sich auch in der Metapher5 in Vers sieben / acht nieder: "alle Frauen" (V.7) ist wohl ein sprachliches Bild für starke Emotionen und den dringenden Wunsch, nicht gehen zu müssen, während im Kontrast dazu das Gefühl als "klein und weiß" beschrieben wird. Möglicherweise deutet diese Stelle den langsam abklingenden Schmerz an, was die Flüchtigkeit der Gefühle im Gegensatz zu den relativ statischen Gedanken und rationalen Vorgängen verdeutlicht. Dies würde auch dem Inhalt der letzten Strophe entsprechen.
Ob das "Winken" (V.9) ein tatsächlich ausgeführter Vorgang ist oder eine Metapher für den Abschied, ist schwer zu entscheiden. Da die quälenden Emotionen sich nun aber langsam verflüchtigen, gilt dieses Winken schon nicht mehr dem lyrischen Ich. So wird erneut angedeutet, dass die äußerlichen Vorgänge auch dann noch ausgeführt werden, wenn die sie begründenden Gefühle nicht mehr bestehen.
Das Gegenüber ist also "ein leise Weiterwinkendes". Mit dem Adjektiv "leise" wird eine gewisse melancholische Stimmung angedeutet, die nicht im Widerspruch zum Abklingen des Abschiedsschmerzes stehen muss. Die Situation ist "kaum erklärbar mehr" (V. 11), was zum einen in den verschwindenden Emotionen begründet ist, zum andern auch in der Tatsache, dass es sowieso nicht die Absicht des lyrischen Ichs war, die Ereignisse rational zu erfassen und damit zu erklären.
Das Gedicht endet mit einer Metapher aus dem Bereich der Natur: Die Vorgänge sind für das lyrische Ich nicht mehr fassbar, sie verlieren ihre Bedeutung und werden ihm fremd. Ein melancholisches Gefühl bleibt trotzdem zurück, denn auch der Kuckuck, der hastig vom Pflaumenbaum fliegt, ist ein Symbol des Abschieds.
Zur Sprache des Gedichts ist zu sagen, dass sie sehr kunstvoll und durchdacht ist, was sich unter anderem in der häufigen Verwendung von Stilmitteln wie Symbolen oder Enjambements6 zeigt.
Der zweite Text ist ebenfalls ein Gedicht, das in den dreißiger Jahren von Franz Werfel verfasst und in dem Buch "Werfel, Franz: Gesammelte Werke. Das lyrische Werk" 1967 in Frankfurt veröffentlicht wurde. Es heißt "Der Mensch ist stumm". Auch hier wird ein Abschied thematisiert.
Das Gedicht setzt sich aus vier Strophen zu je vier Versen zusammen, das Reimschema ist abac, dedc, fgfc, hchc, das Metrum ist ein Jambus.
Die erste Strophe setzt mit dem Abschiedskuss des lyrischen Ichs ein. Daraus wird bereits ersichtlich, dass hier der Abschied von dem oder der Geliebten beschrieben wird, was bei dem Gedicht von Rilke nur vermutet werden konnte. Außerdem werden verstärkt äußerliche Handlungen dargestellt, wie das Ergreifen der Hand in Vers zwei und die sorgenvollen Mahnungen des lyrischen Ichs in Vers drei. Der einzige Hinweis auf den Gemütszustand des lyrischen Ichs findet man im Adjektiv "nervös" (V.2). Die Feststellung am Ende der Strophe ("Der Mensch ist stumm") scheint zunächst im Widerspruch dazu zu stehen, dass direkt davor noch von einem Gespräch die Rede ist, in dem der oder die Gehende darum gebeten wird, gut auf sich aufzupassen.
Der Schlüsses zum Verständnis dieser Problematik liegt darin, zu erkennen, dass das lyrische Ich damit aussagen will, nicht in der Lage zu sein, seine echten Emotionen auszudrücken. Dies dürfte auch der Grund sein, weshalb das Gedicht wesentlich häufiger als es bei "Abschied" der Fall ist, eine Außenansicht der Situation schildert und im Gegenzug nur relativ selten die Gefühle des lyrischen Ichs umschreibt.
Auch in Strophe zwei findet sich zunächst ein Widerspruch: Das lyrische Ich wünscht sich, der Zug möge endlich abfahren, doch trotzdem ist es sehr traurig und empfindet beinahe so viel Schmerz, als wäre die Trennung für immer. Die Wiederholung des Wortes "Zug" (V. 5) kann als Hinweis für das verzweifelte Ersehnen der Abfahrt und somit des Endes der schmerzhaften Situation angesehen werden. Erneut wird auf die Unfähigkeit verwiesen, wirklich etwas Essentielles durch Sprache auszudrücken ("Ich rede runde Sätze, ohne zu begreifen..." V. 7). Darin findet sich eine Parallele zu dem Gedicht von Rilke, da auch dieser eine detailreiche sprachliche Analyse zugunsten einer poetischen, metaphorischen Umschreibung aufgibt. Als Beispiel für diese Haltung kann das Gedicht "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort" angeführt werden, das ebenfalls von Rilke stammt und die Ablehnung von festen Definitionen und einem zu sorglosen Umgang mit Sprache ausdrückt ("Ihr bringt mir all die Dinge um", "Die Dinge singen hör sich so gern").
"Runde Sätze" (V. 7) bedeutet so viel wie "wohldurchdachte, niveauvolle Sätze". Auch diese Strophe endet mit dem Resüme "Der Mensch ist stumm".
Strophe drei bildet eine inhaltliche Entsprechung der vorher gehenden Strophe. Die Beziehung zwischen den Partnern ist sehr stark, denn es wäre "der Tod" (V. 10) für das lyrische Ich, wenn es für immer auf den Anderen verzichten müsste. Die dreifache Wiederholung von "der Tod" soll dies noch einmal unterstreichen. Doch wird die Situation als so quälend empfunden, dass das lyrische Ich alles dafür tun würde, ihr zu entkommen oder sie zumindest (durch eine Zigarette) erträglicher zu machen. Erneut folgt "Der Mensch ist stumm" und zeigt, dass diese ambivalenten Emotionen nicht in ihrer Gänze ausgedrückt werden können.
Die letzte Strophe beschreibt die Zeit direkt nach dem Abschied, was mit dem Wort "Dahin!" aufgezeigt wird. Hier findet sich eine Parallele zu "Abschied", da auch dort nicht nur die Situation des Abschied-nehmens dargestellt wird, sondern auch das, was darauf folgt. Doch auch hier bleibt der Fokus auf den äußerlichen Vorgängen, die im ersten Gedicht so gut wie gänzlich ausgespart bleiben.
Als das lyrische Ich den Bahnhof verlässt, muss es weinen (wobei "würgt mich weinen" V. 13 als Alliteration gedeutet werden kann). Doch zum Erstaunen des lyrischen Ichs erkennt es, dass nicht einmal dieser nonverbale Ausdruck seiner Gefühle deren wahren Kern widergeben kann. ("Denn auch das Weinen sagt nicht, was wir meinen", V. 15). Innerhalb dieses Verses ist ein Reim (weinen - meinen), der den Fokus des Lesers auf diese wichtige Stelle konzentriert. Auch diese Einsicht bestätigt das lyrische Ich in seiner Ansicht: "Der Mensch ist stumm", die das Ende des Gedichts darstellt und dessen Inhalt zusammenfast.
Auffällig ist beim Vergleich der Gedichte die Differenz in der Sprache. Während sie bei Rilke kunstvoll und poetisch ist, erscheint sie in Werfels Gedicht eher alltäglich. Beide Gedichte haben eine durchgehend formale Regelmäßigkeit, die beispielsweise durch die konstante Einhaltung der Reimschemata gegeben ist. Doch ist hier zu vermerken, dass das Gedicht "Abschied" durch ein exakt eingehaltenes Metrum sehr rhythmisch erscheint, während bei "Der Mensch ist stumm" der Rhythmus am Strophenende immer bewusst zur Hervorhebung eben dieser Aussage unterbrochen wird.
Zusammenfassend ist also zu sagen, dass, obwohl beide Gedichte den Vorgang des Abschiednehmens thematisieren, markante Unterschiede in der sprachlichen Gestaltung und der Beschreibung der Gefühlswelt liegen. Während Rilke ausschließlich diese beschreibt, kommt Werfel zu dem Schluss, dass eben das nicht möglich sei. Eine Parallele besteht jedoch darin, dass auch Rilke nicht versucht, die Emotionen zu definieren und sie rational erfassbar zu machen.
Obwohl Rainer Maria Rilke und Franz Werfel Zeitgenossen waren, lassen ihre Gedichte und die daraus hervortretende unterschiedliche Betrachtung des Themas "Abschied" erkennen, dass sie in unterschiedliche literarische Epochen einzuordnen sind und somit auch teilweise differierende Einstellungen zur Sprache hatten.
Rilke war ein Vertreter des Impressionismus. In dieser Schreibrichtung fand die Abkehr von einer definierenden, alles genau und rational erfassenden Literatur statt. Dies lässt sich gut in dem Gedicht "Abschied" erkennen, da es, wie bereits herausgestellt, nie versucht, die Emotionen des lyrischen Ichs zu definieren oder zu erklären, sondern sich stattdessen einer stark metaphorischen, poetischen Sprache bedient. Auch die Konzentration auf das Innenleben ist oft im Impressionismus zu finden.
Das Gedicht "Der Mensch ist stumm" von Werfel ist dagegen dem Expressionismus zuzuordnen. In dieser literarischen Epoche, die später von den Erlebnissen des zweiten Weltkrieges geprägt wurde, erfährt sich den Mensch als isoliertes, oft auch verwirrtes Individuum. Orientierungsstiftende Strukturen haben sich aufgelöst und die Welt wird oft als bedrohlich und sinnlos empfunden. Die damit einhergehende Einsamkeit des Einzelnen lässt sich auch im Gedicht von Franz Werfel wiederfinden. "Der Mensch ist stumm", daher ist es ihm auch nicht möglich, seine Empfindungen, Wünsche und Ängste mit jemandem zu teilen, selbst wenn er in einer Beziehung lebt. Da er sich nicht mitteilen kann, kann sich auch keine wahre Nähe aufbauen, die ihn aus seiner Isolation befreit und Sicherheit vermittelt.
Diese Stimmung wird auch oft in expressionistischen Großstadtgedichten widergegeben, wie beispielsweise in "Der Gott der Stadt".
Eine Sprachästhetik, wie sie noch im Impressionismus zu finden ist, lässt sich nicht mehr erkennen, vielmehr wird oft Hässliches bewusst betont. Das ist in "Der Mensch ist stumm" nicht der Fall, doch ist das Gedicht weder besonders poetisch, noch bedient es sich vieler Stilmittel, sondern es erinnert an Alltagssprache.
Somit lässt sich bei Rilke und Werfel eine differierende Einstellung zur Sprache feststellen.