Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Im Jahr 1813 veröffentlichte Joseph von Eichendorff, welcher von 1788 bis 1857 gelebt hat, das Gedicht mit dem Titel „Das zerbrochene Ringlein“, in dem er das Thema der Untreue näher behandelt. Somit lässt sich dieses Werk inhaltlich sowie zeitlich in die Epoche der Romantik einordnen, welche geprägt war von einem intensiven Gefühl der Sehnsucht und Leidenschaft, andererseits aber auch von einer Ablehnung der Wirklichkeit der Revolutionierung und Industrialisierung. Die Romantik kann hierbei als Umbruchphase angesehen werden: Sie versucht, im Anschluss an die Klassik die Unbegrenztheit der Literatur dadurch zu steigern, dass sie den Mangel an individuellem Gefühl ausgleicht, andererseits entfernt sie sich wieder von der Verstandesorientierung und ersetzt sie durch die weitreichende Flucht in die Subjektivität von Traum und Fantasie.
Bereits in der ersten Strophe wird eine Krise zwischen dem lyrischen Ich und seiner (ehemaligen) Geliebten deutlich, indem der ehemalige Wohnort der Frau eingebunden wird. In der zweiten Strophe werden die Aussagen des Autors nun direkter, indem gezielt die Rede von einem Ehebruch ist, welcher von der Frau ausgegangen ist. Die letzten beiden Strophen befassen sich schließlich mit den Folgen der gebrochenen Treue für das lyrische Ich, welches verreist und dem Alltag entfliehen möchte, bis es in der letzten Strophe nur noch den Tod als Ende seines Leidens und seiner Zerrissenheit sieht.
Die daraus entstehenden Folgen sind sehr vielseitig und zugleich konfus: Hat das lyrische Ich noch in der dritten und vierten Strophe viele Pläne für das weitere Leben und einen optimistischen Blick in die Zukunft, so wendet sich diese positive Einstellung im weiteren Verlauf plötzlich in eine ausgeprägte Unentschlossenheit des lyrischen Ichs, bis es in der letzten Strophe keine andere Perspektive mehr sieht als den Freitod („Ich möcht am liebsten sterben“, V. 19).
Formal gliedert sich das Gedicht in fünf Strophen mit jeweils 4 Versen, wobei die dreihebigen Jamben als Kreuzreime strukturiert sind. Dieses relativ eintönige Metrum1 kann dabei als Unterstützung der inhaltlichen Monotonie des lyrischen Ichs und seines Lebens gesehen werden. Es scheint, als hätte es in seinem Leben eine strenge und durchdachte Ordnung gefunden, doch dieser Gedanke erlischt in Anbetracht des weiteren inhaltlichen Geschehens und lässt so eine starke Spannung zwischen Formalem sowie Inhaltlichem entstehen.
Im Gegensatz zur äußeren Form wird den Leserinnen und Lesern aber inhaltlich ein großes Durcheinander präsentiert, wodurch sich insgesamt einige Parallelen zur Epoche der Romantik feststellen lassen. Belege dafür sind beispielsweise die Motive der Wanderschaft und Flucht (vgl. V. 9- 16). Das lyrische Ich hat nach der Untreue seiner Geliebten Sehnsucht nach etwas Neuem und will die Welt entdecken, um die Vergänglichkeit hinter sich zu lassen. Auch das personifizierte „Mühlenrad“ (V. 2) wird in Verbindung mit seiner Geliebten gebracht und verdeutlicht die kreisenden Gedanken des lyrischen Ichs, die sich bildlich zu einem Teufelskreis formieren. Dieser Teufelskreis wird zudem durch das Symbol des Rings (vgl. V. 6, 8) aufgegriffen, welcher üblicherweise für den Bund der Liebe und die Ewigkeit steht. Dadurch, dass aber das „Ringlein (…) entzwei (sprang)“ (V. 8), trennt sich diese Ehe und folglich auch die Liebe zwischen beiden Personen. Im weiteren Verlauf wird schließlich in der dritten Strophe ein inhaltlicher Bruch deutlich, da nicht mehr der Trennungsschmerz, sondern die Sehnsucht nach der Ferne („Weit in die Welt hinaus“, V. 10) im Mittelpunkt steht. So möchte das lyrische Ich „als Spielmann“ (V. 9) reisend die Welt erkunden. Unterstützend wirkt dabei die Metapher2 „von Haus zu Haus“, welche zwar eine gewisse Ungebundenheit seitens des lyrischen Ichs zeigt, welche aber nur als Verdrängung und Ablenkung des eigentlichen Wunsches angesehen werden kann, nämlich seiner Geliebten. Angetrieben von seinem Fluchtversuch endet das Gedicht schließlich mit der Wunschäußerung des lyrischen Ichs, sterben zu wollen, wobei diese Entscheidung noch sehr unsicher und unschlüssig klingt („Ich weiß nicht, was ich will“, V. 18).
Vergleich zu „Untreu“ von August Stramm
Dem gegenüber steht das Gedicht „Untreu“, welches 1915 von August Stramm veröffentlicht wurde und die Situation beschreibt, in der sich das lyrische Ich aufgrund seiner untreuen Geliebten befindet. Die einzige Ansprache dieses Themas erfolgt allein durch den Titel, denn es wird von dem Autor in dem Gedicht nicht direkt angesprochen. Weiterhin ist zu sagen, dass sich dieses literarische Werk in die Epoche des Expressionismus einordnen lässt, in dessen Zeit die Menschen den Neuerungen, die der enorme technische Fortschritt mit sich gebracht hatte, skeptisch gegenüber standen. Man meinte, dass das Alte zu Grunde gehen müsse, damit Neues entstehen könne. Verschiedene Ereignisse galten als Vorboten einer nahenden Apokalypse, wie zum Beispiel das Erscheinen des Halleyschen Kometen (1910) und der Untergang der Titanic (1912), des seinerzeit größten und modernsten Schiffs der Welt.
Das Gedicht besteht aus einer Strophe à 12 Versen, welche zusammen vier Sätze bilden, wobei kein durchgehendes Versmaß erkennbar ist und so eine impulsive Wirkung erzielt wird.
Inhaltlich wirkt die beschriebene Situation durch die Worte „weint“ (V. 1), „eisen“ (V. 2) und „versargt“ (V. 4) sehr beklemmend für die Beteiligten, da diese Begriffe mit Trauer und einer gewissen Kälte assoziiert werden. Dieser jetzigen Kälte stehen leidenschaftliche Küsse aus der Vergangenheit gegenüber, da „Die glutverbissnen Lippen eisen“ (V. 2). In Verbindung mit dem Oxymoron3 „Lächeln weint“ (V. 1) wird der Leserschaft schnell deutlich, dass die Gefühle beider Personen heute sich zu früher unterscheiden, da das lyrische Ich durch die Erinnerung an das Lächeln seiner Geliebten nun nur noch Trauer spürt. Unterstrichen wird dieser Gefühlswandel durch den Neologismus4 „Dein Blick versargt“ (V. 4): Der einst leidenschaftliche Blick ´stirbt´ und bewegt nichts mehr im Herzen des Gegenübers. Schlimmer noch: Durch die Personifikation5 „Dein Lächeln weint in meiner Brust“ (V. 1) entsteht in den Köpfen der Leserinnen und Leser das Bild eines gebrochenen Herzens als Folge von starkem Liebeskummer, an dem das lyrische Ich leidet. Dabei beschriebt es die geliebte Person mithilfe zahlreicher Kontraste, welche zudem die Zerrissenheit des lyrischen Ichs hervorheben.
Durch diese sprachliche Darstellung entsteht bildlich im Kopf des Lesers die Situation, als würde das lyrische Ich genau in diesem beschriebenen Moment beim Fremdgehen erwischt werden. Dafür spricht zumindest der „versargt(e)“ Blick (V. 4) und das hochgezogene Kleid („Frei buhlt dein Kleidsaum“, V. 9f.).
Im Vergleich der Gestaltung des Motivs der Untreue ist deutlich erkennbar, dass sich zwar beide Autoren mit dem selben Thema befasst haben, jedoch unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt haben. Joseph von Eichendorff geht nur auf die Gefühle und den Zustand des lyrischen Ichs nach der Trennung seiner ehemaligen Geliebten ein. So werden die Folgen seitens der verlassenen Person näher beschrieben; möglich ist auch der selbst gewählte Freitod.
In dem Gedicht von August Stramm wird der Fokus auf den direkten Zustand während der Untreue (Fremdgehen) gelegt, bei dem das lyrische Ich ohnmächtig in seinem Handeln erscheint und daher auch nicht wirklich agiert, sondern nur beschreibt, was vor seinen Augen geschieht. Beim Vergleich der beiden lyrischen Ichs fällt weiterhin als Grundhandlung auf, dass es sich in beiden Werken um Männer handelt, die von ihren Frauen verlassen wurden.
Alles in allem lässt sich sagen, dass trotz der gleichen thematischen Voraussetzung sich die beiden Gedichte aufgrund der epochentypischen Umsetzung sehr stark voneinander unterscheiden. Sowohl in der Wirkungsweise auf den Leser, als auch in der formalen Gestaltung.
Ein wesentlicher Unterschied ist auch im Hinblick auf die formale Gestaltung auszumachen, denn während das Gedicht „Das zerbrochene Ringlein“ zur Form des Volkslieds passt und eine durchgängige Struktur zeigt, besteht das Gedicht „Untreu“ aus vier Sätzen, die über zwölf Verse aneinandergereiht sind und nur durch die Punktsetzung voneinander getrennt sind. Diese auf der einen Seite überlegte (von Eichendorff), auf der anderen Seite überraschte und verwirrte (Stramm) Struktur ergänzt sich formal wie auch inhaltlich.
Die Unterschiede lassen sich auch mit Blick auf die Epochenzugehörigkeit erklären. Stehen in der Romantik die Sehnsucht und die psychische Zerrissenheit im Mittelpunkt (von Eichendorff), so sind die Liebe, Leidenschaft und der Wahnsinn zentrale Merkmale des Expressionismus (Stramm).
Als Resümee des Vergleichs beider literarischer Werke ergibt sich, dass sich Joseph von Eichendorff mit der Zerrissenheit und dem Selbstmordgedanken des lyrischen Ichs auf die Folgen der Untreue fokussiert, August Stramm hingegen auf die direkte Situation des Fremdgehens eingeht, in dessen Mittelpunkt die Handlungsunfähigkeit des lyrischen Ichs steht.