Drama: Faust I, Marthens Garten / Gretchenfrage (1770-1832)
Autor/in: Johann Wolfgang von GoetheEpoche: Weimarer Klassik
Strophen: 42, Verse: 132
Verse pro Strophe: 1-1, 2-1, 3-3, 4-3, 5-1, 6-1, 7-1, 8-1, 9-2, 10-4, 11-1, 12-27, 13-3, 14-4, 15-3, 16-1, 17-1, 18-1, 19-4, 20-1, 21-6, 22-1, 23-10, 24-1, 25-6, 26-1, 27-1, 28-2, 29-5, 30-4, 31-2, 32-1, 33-4, 34-1, 35-1, 36-5, 37-6, 38-2, 39-1, 40-6, 41-1, 42-1
MARGARETE Versprich mir, Heinrich! | ||
FAUST Was ich kann! | ||
MARGARETE Nun sag, wie hast du's mit der Religion? | ||
Du bist ein herzlich guter Mann, | ||
Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon. | ||
FAUST Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut; | ||
Für meine Lieben ließ' ich Leib und Blut, | ||
Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben. | ||
MARGARETE Das ist nicht recht, man muß dran glauben. | ||
FAUST Muß man? | ||
MARGARETE Ach! wenn ich etwas auf dich konnte! Du ehrst auch nicht die heil'gen Sakramente. | ||
FAUST Ich ehre sie. | ||
MARGARETE Doch ohne Verlangen. Zur Messe, zur Beichte bist du lange nicht gegangen. | ||
Glaubst du an Gott? | ||
FAUST Mein Liebchen, wer darf sagen: Ich glaub an Gott? | ||
Magst Priester oder Weise fragen, | ||
Und ihre Antwort scheint nur Spott | ||
Über den Frager zu sein. | ||
MARGARETE So glaubst du nicht? | ||
FAUST Mißhör mich nicht, du holdes Angesicht! | ||
Wer darf ihn nennen? | ||
Und wer bekennen: "Ich glaub ihn!"? | ||
Wer empfinden, | ||
Und sich unterwinden | ||
Zu sagen: "Ich glaub ihn nicht!"? | ||
Der Allumfasser, | ||
Der Allerhalter, | ||
Faßt und erhält er nicht | ||
Dich, mich, sich selbst? | ||
Wölbt sich der Himmel nicht da droben? | ||
Liegt die Erde nicht hier unten fest? | ||
Und steigen freundlich blickend | ||
Ewige Sterne nicht herauf? | ||
Schau ich nicht Aug in Auge dir, | ||
Und drängt nicht alles | ||
Nach Haupt und Herzen dir, | ||
Und webt in ewigem Geheimnis | ||
Unsichtbar sichtbar neben dir? | ||
Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, | ||
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, | ||
Nenn es dann, wie du willst, | ||
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott | ||
Ich habe keinen Namen | ||
Dafür! Gefühl ist alles; | ||
Name ist Schall und Rauch, | ||
Umnebelnd Himmelsglut. | ||
MARGARETE Das ist alles recht schön und gut; | ||
Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, | ||
Nur mit ein bißchen andern Worten. | ||
FAUST Es sagen's allerorten | ||
Alle Herzen unter dem himmlischen Tage, | ||
Jedes in seiner Sprache; | ||
Warum nicht ich in der meinen? | ||
MARGARETE Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen, | ||
Steht aber doch immer schief darum; | ||
Denn du hast kein Christentum. | ||
FAUST Liebs Kind! | ||
MARGARETE Es tut mir lange schon weh, Daß ich dich in der Gesellschaft seh. | ||
FAUST Wieso? | ||
MARGARETE Der Mensch, den du da bei dir hast, Ist mir in tiefer innrer Seele verhaßt; | ||
Es hat mir in meinem Leben | ||
So nichts einen Stich ins Herz gegeben | ||
Als des Menschen widrig Gesicht. | ||
FAUST Liebe Puppe, fürcht ihn nicht! | ||
MARGARETE Seine Gegenwart bewegt mir das Blut. | ||
Ich bin sonst allen Menschen gut; | ||
Aber wie ich mich sehne, dich zu schauen, | ||
Hab ich vor dem Menschen ein heimlich Grauen, | ||
Und halt ihn für einen Schelm dazu! | ||
Gott verzeih mir's, wenn ich ihm unrecht tu! | ||
FAUST Es muß auch solche Käuze geben. | ||
MARGARETE Wollte nicht mit seinesgleichen leben! | ||
Kommt er einmal zur Tür herein, | ||
Sieht er immer so spöttisch drein | ||
Und halb ergrimmt; | ||
Man sieht, daß er an nichts keinen Anteil nimmt; | ||
Es steht ihm an der Stirn geschrieben, | ||
Daß er nicht mag eine Seele lieben. | ||
Mir wird's so wohl in deinem Arm, | ||
So frei, so hingegeben warm, | ||
Und seine Gegenwart schnürt mir das Innre zu. | ||
FAUST Du ahnungsvoller Engel du! | ||
MARGARETE Das übermannt mich so sehr, | ||
Daß, wo er nur mag zu uns treten, | ||
Mein ich sogar, ich liebte dich nicht mehr. | ||
Auch, wenn er da ist, könnt ich nimmer beten, | ||
Und das frißt mir ins Herz hinein; | ||
Dir, Heinrich, muß es auch so sein. | ||
FAUST Du hast nun die Antipathie! | ||
MARGARETE Ich muß nun fort. | ||
FAUST Ach kann ich nie Ein Stündchen ruhig dir am Busen hängen | ||
Und Brust an Brust und Seel in Seele drängen? | ||
MARGARETE Ach wenn ich nur alleine schlief! | ||
Ich ließ dir gern heut nacht den Riegel offen; | ||
Doch meine Mutter schläft nicht tief, | ||
Und würden wir von ihr betroffen, | ||
Ich wär gleich auf der Stelle tot! | ||
FAUST Du Engel, das hat keine Not. | ||
Hier ist ein Fläschchen! | ||
Drei Tropfen nur In ihren Trank umhüllen | ||
Mit tiefem Schlaf gefällig die Natur. | ||
MARGARETE Was tu ich nicht um deinetwillen? | ||
Es wird ihr hoffentlich nicht schaden! | ||
FAUST Würd ich sonst, Liebchen, dir es raten? | ||
MARGARETE Seh ich dich, bester Mann, nur an, | ||
Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt, | ||
Ich habe schon so viel für dich getan, | ||
Daß mir zu tun fast nichts mehr übrigbleibt. (Ab. Mephistopheles tritt auf.) | ||
MEPHISTOPHELES Der Grasaff! ist er weg? | ||
FAUST Hast wieder spioniert? | ||
MEPHISTOPHELES Ich hab's ausführlich wohl vernommen, Herr Doktor wurden da katechisiert; | ||
Hoff, es soll Ihnen wohl bekommen. | ||
Die Mädels sind doch sehr interessiert, | ||
Ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch. | ||
Sie denken: duckt er da, folgt er uns eben auch. | ||
FAUST Du Ungeheuer siehst nicht ein, | ||
Wie diese treue liebe Seele | ||
Von ihrem Glauben voll, | ||
Der ganz allein | ||
Ihr seligmachend ist, sich heilig quäle, | ||
Daß sie den liebsten Mann verloren halten soll. | ||
MEPHISTOPHELES Du übersinnlicher sinnlicher Freier, | ||
Ein Mägdelein nasführet dich. | ||
FAUST Du Spottgeburt von Dreck und Feuer! | ||
MEPHISTOPHELES Und die Physiognomie versteht sie meisterlich: | ||
In meiner Gegenwart wird's ihr, sie weiß nicht wie, | ||
Mein Mäskchen da weissagt verborgnen Sinn; | ||
Sie fühlt, daß ich ganz sicher ein Genie, | ||
Vielleicht wohl gar der Teufel bin. | ||
Nun, heute nacht-? | ||
FAUST Was geht dich's an? | ||
MEPHISTOPHELES Hab ich doch meine Freude dran! |
Allgemeiner Hinweis zu „Faust I“:
Über die Epochenzuordnung von Faust I
Goethes Faust entstand zwischen 1770 (der sog. Urfaust) und 1832. Aufgrund der langen Entstehungsgeschichte ist die Zuordnung zu einer einzelnen Epoche schwierig. Je nach Gegenstand der Betrachtung lassen sich Merkmale der Aufklärung (ca. 1720-1800), des Sturm und Drangs (ca. 1767-1785), der Weimarer Klassik (ca. 1794-1805) und der Romantik (ca. 1795-1848) erkennen.