Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
August Stramm war ein deutscher Dichter, dessen Werk der literarischen Epoche des Expressionismus zuzuordnen ist. 1874 in Münster geboren, beginnt er nach seinem Abitur auf Drängen seines Vaters, eines Berufssoldaten, eine bald erfolgreiche Karriere im Postwesen; ursprünglich hatte er gewünscht, Theologie zu studieren. Er arbeitet als Postsekretär und tritt nebenher dem preußischen Militär bei, wo er ebenfalls schnell aufsteigt. 1902 heiratet er die Schriftstellerin und Journalistin Else Krafft und verfasst sein erstes literarisches Werk, das Drama „Die Bauern“. Mit Else Krafft bekommt er in den darauffolgenden Jahren zwei Kinder, 1905 zieht er mit seiner Familie nach Berlin um, wo er neben der Arbeit ein Studium aufnimmt. Er hört Vorlesungen in Geschichte und Nationalökonomie und beschäftigt sich zusätzlich mit der Philosophie Kants, Schopenhauers und Nietzsches. Nach seiner Promotion über das Welteinheitsporto wendet er sich ab 1909 verstärkt seinem literarischen Schaffen zu, das zunächst noch keine Anerkennung findet. Über seine Frau lernt er Herwarth Walden kennen, der Herausgeber des etablierten Kunstverlages „Der Sturm“ ist. Bald verbindet die beiden eine enge Freundschaft und Stramms Werke werden gedruckt und finden Resonanz. Zwischen 1913 und 1915 entsteht der Großteil seiner expressionistischen, mit traditionellen dichterischen Formen brechenden Werke, wobei er darin zuletzt verstärkt seine Erfahrungen im 1914 begonnenen Ersten Weltkrieg thematisiert, den er als Bataillonskommandant miterlebt. Im Herbst 1915 stirbt er im Gebiet des heutigen Weißrussland bei der Schlacht um Brest-Litowsk.
Das Gedicht „Untreu“, das August Stramm 1915 zur Veröffentlichung freigab, fällt formal und inhaltlich in die literarische Epoche des Expressionismus.
Während dieser Periode, die ca. von 1910 bis 1920 anhielt, beschäftigten sich Literaten vornehmlich mit Themen wie Verfall, Zerstörung, Krieg, sowie der Übermacht des technischen Fortschritts und des Materialismus1, der das Individuum zum ohnmächtigen Leiden verdammt. Dies wurde einerseits durch die, in vollem Gange begriffene, industrielle Revolution, andererseits auch durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, der von 1914 – 1918 mit ungeahntem Zerstörungspotential Millionen von Opfern forderte, beeinflusst und verstärkt.
Stramm bearbeitet in „Untreu“ zwar nicht, wie in anderen Gedichten, die Erfahrungen des Kriegsgeschehens, aber mit der Beschreibung der sehr negativen Erfahrung, vom Partner betrogen worden zu sein, wählt er ein für den Expressionismus typisches Thema: Den Zerfall zwischenmenschlicher Beziehungen. Im Gedicht drückt ein lyrisches Ich seine Eindrücke aus, die ausgelöst werden durch die Erkenntnis, dass die Geliebte fremdgegangen ist, die Liebestreue gebrochen hat.
Das Gedicht besteht aus einer Strophe und zwölf unregelmäßig langen Versen, wobei auch kein durchgehendes Versmaß zu erkennen ist. Stramm entzieht sich demnach in seinem Gedicht jeglicher Ordnung und Stringenz; das Gedicht wirkt dadurch gleichzeitig impulsiv und assoziativ. Der Titel gibt notwendigen Aufschluss über den Inhalt der Verse: Das lyrische Ich muss die Untreue der Partnerin erkennen. Dass es sich um weibliche Untreue handelt, darauf weist die Nennung des „Kleidsaums“ im zehnten Vers hin.
Das Gedicht beginnt mit der Personifikation2 verschiedener Körperteile bzw.
Gesten der verräterischen Geliebten, die jeweils eine bestimmte Empfindung im lyrischen Ich auslösen: Wenn ihr „Lächeln […] in [s]einer Brust“ „weint“, dann versinnbildlicht dies den Widerspruch zwischen verlegenem oder fröhlichem Lächeln und dem negativen Gefühl, das dadurch beim lyrischen Ich entsteht. Dem Lächeln als Subjekt wird ein widersprüchliches Verb zugeteilt.
Diese ungewohnte Kombination erzeugt beim Leser ein Moment der Verblüffung und Verwirrung und stimmt dadurch auf die entstehende Dissonanz zwischen zwei Menschen ein, die im Verlauf des Gedichtes weiter illustriert wird. Vom Lächeln der Geliebten führt unmittelbar zu ihren „glutverbissnen Lippen“ (Vers 2), die jedoch „eisen“. Stramm benutzt Wortschöpfungen, Neologismen3, um auf diese Weise seine Worte assoziativ aufzuladen: „glutverbissen“ wird verknüpft mit Leidenschaft und Ekstase; damit wird das Wort zu einem Hinweis darauf, dass das lyrische Ich die Geliebte in flagranti ertappt hat. Der Neologismus „eisen“ stellt einen erneuten Widerspruch im Beiwort zu den „glutverbissnen Lippen“ dar. Das Verb „eisen“ klingt sowohl an „Eis“, also Kälte bzw. Erkalten, als auch an das Substantiv „Eisen“, demnach an metallische Härte, an. Dies kann einerseits die abrupte Unterbrechung des Liebesspiels zwischen untreuer Frau und Nebenbuhler aufzeigen, aber es verdeutlicht gleichzeitig auch das Gefühl des inneren Erkaltens bzw. Verhärtens des lyrischen Ichs gegenüber der einstmals glühend geliebten Person.
Dieser Bruch wird als ein Absterben von Gefühlen inszeniert, indem das lyrische Ich den Atem der Geliebten als „Laubwelk“ (Vers 3) zu erkennen glaubt. Diese Wortschöpfung hört sich für den Leser an wie „welkes Laub“, wobei dies ein Sinnbild des Verfalls und der Vergänglichkeit ist. Welkes Laub sind abgestorbene Blätter, einstmals blühend, jetzt tot auf dem Boden liegend. Die Metapher4 des Todes kommt auch im nächsten Vers zum Ausdruck: „Dein Blick versargt“ (Vers 4). „Versargen“ verdichtet die Worte „versagen“ und „Sarg“ zu einem Begriff der Endgültigkeit und der Ohnmacht. Der Blick eines Menschen, häufig mit Öffnung hin zu jemandem verknüpft, wirkt sich in Stramms Gedicht auf die Beziehung zweier Menschen zerstörerisch aus, begräbt sie, metaphorisch gesprochen, für immer. Indem der Blick nicht nur „versargt“, sondern auch „polternd Worte“ (Vers 6) draufhastet, wird die Metapher des Begrabens der Beziehung bzw. die Beschreibung des Todesgefühls des lyrischen Ichs fortgesetzt: Die Worte, die aus dem Blick der Frau sprechen, beschweren den imaginären Sargdeckel, verschließen den Zugang zueinander endgültig. Die erneut irritierende Kombination von Subjekten und Prädikaten, wie die Tatsache, dass es der „Blick“ ist, der „Worte hastet“, bringt die Verwirrung des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Im erschütternden Moment, in dem ein Mensch zu erkennen gezwungen ist, dass der Partner ihn betrogen hat, sind klare Gedanken ausgeschlossen. In einem Zustand negativer Verwirrung, des Schocks, überwiegen unreflektierte Wahrnehmungen. Dies ist ein essentieller Bestandteil der expressionistischen
Lyrik: es wird ein subjektiver Ausdruck überwältigender Erfahrungen thematisiert, es rückt die Gefühlsüberfülle in den Vordergrund, die noch unverarbeitet ist. Auch die menschliche Verzweiflung, die häufig irrational und lähmend ist, kann durch diese stark assoziative und mit der traditionellen Grammatik und Logik brechenden Lyrik ausgedrückt werden. Stramm bedient sich darüber hinaus noch zahlreicher Enjambements5, um die sprunghafte Wahrnehmung dieses erschütternden Moments der Realisierung des Treuebruchs festzuhalten.
Zu der Stimmung, die in „Untreu“ vorherrscht, fügen sich auch die nachfolgenden Begriffe wesentlich bei: „Vergessen“ (Vers 7), „Bröckeln“ (Vers 8); bereits für sich allein sind diese Worte durchdrungen von Zerfall und negativer Entwicklung. Aber auch im Kontext der Verse ergeben sie einschlagenden Sinn: Die Hände der Treulosen lassen zu spät von dem Nebenbuhler des lyrischen Ichs ab, und indem sie „bröckeln“, wird gezeigt, dass jegliche Hoffnung auch von dieser Seite auf ein Überspielen oder Vertuschen des Geschehenen dahinschwindet. Mit den bröckelnden Händen zerfällt die Beziehung zwischen lyrischem Ich und ehemals geliebter Frau zu Staub. „Frei/Buhlt [ihr] Kleidsaum“ (Vers 9f) jetzt, die Bindung hat sich verflüchtigt. Dem Wort „frei“ wird ein eigener Vers eingeräumt, es verliert seine übliche positive Bedeutung, klingt in Verbindung mit dem „Kleidsaum“ und dem Neologismus „schlenkrig“ (Vers 11) jetzt beinahe obszön. „Schlenkrig“ illustriert Laszivität, indem es an „Schenkel“ und „Schlenkern“ erinnert. Der abschließende Binnenreim „Drüber rüber“ (Vers 12) zeigt die Interdependenz zwischen der entdeckten Laszivität und dem Abbruch der Beziehung: Das „Drüber rüber“ lässt vor dem inneren Auge des Lesers eine hektisch unterbrochene Liebeszene aufsteigen, der Reim verdeutlicht durch seine Plattheit das Schnelle, Wilde, er wirkt durch seine Einfachheit billig und verurteilt so das vom lyrischen Ich als „billig“ empfundene Liebesspiel zwischen den zwei Menschen. Gleichzeitig jedoch kommt mit diesem letzten Reim das Sich-Abwenden zum Ausdruck; das lyrische Ich will sich über die einstige Beziehung hinwegsetzen, und, sich hastig „drüber rüber“ abwendend, die Erinnerung gleichsam wegwischend, schließt das Gedicht mit einem erbitterten Ausrufezeichen.
Die sprachliche Dichte in Stramms Gedicht ist faszinierend. Mit der emotionalen Aufladung von sonst ganz anders empfundenen Begriffen verwirrt er den Leser und lässt durch wenige Worte ganze Assoziationsketten entstehen. Wenige, scheinbar willkürlich aneinandergereihte Ausdrücke lassen den Leser die Gefühlslage des lyrischen Ichs nachvollziehen. Dadurch, dass der Autor es über alle Formalitäten hebt schafft er es durch eine neue Art von Sprache, Gefühle praktisch in Bildern auszudrücken. Das Gedicht entfaltet dabei eine unmittelbare Wirkung: Es ist einprägsam und regt durch seine Wortverwicklungen zum Nachdenken an. Dadurch gewinnt es meines Erachtens nach hohen künstlerischen Gehalt.