Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Bei „Untreue“ von August Stramm handelt es sich um ein expressionistisches Gedicht.
Es besteht aus einer Strophe à 12 Versen, bestehend aus vier Sätzen. Interpunktion ist nur am Satzende vorhanden, Kommata werden, obwohl sie teilweise notwendig wären, nicht verwendet. Vermutlich wird hiermit das Entsetzen des Erzählers zum Ausdruck gebracht, der die Situation wie erstarrt erlebt. Reime gibt es nicht, und zunächst auch kein eindeutiges Metrum1. Wenn man jedoch über die Versgrenzen hinausgeht – und das tut man beim Lesen auf Grund von Enjambements2 automatisch – erkennt man einen Trochäus. Der Autor verwendet ein expressives Sprachschema.
Der Titel des Gedichts „Untreue“ ist ein Schlüsselbegriff, um den Inhalt bei werkimmanenter Betrachtung zu verstehen, denn der Autor spricht das Thema nicht direkt an, sondern beschreibt nur die Situation - ähnlich einer Auflistung. Einzelne in sich widersprüchliche Aussagen werden somit assoziativ an den Titel angeschlossen (z. B. „Lächeln weint“ (V. 1)).
Die vermeintliche Fremdgängerin - auf Grund des „Kleidsaums“ in Vers 10 kann man von einer Frau ausgehen – wird direkt angesprochen und ihr Verhalten bzw. ihr Auftreten beschrieben (Bsp.: V. 1).
Das „Lächeln“ (V. 1), die Lippen (V. 2), der Blick (V. 3), der Atem (V. 4), die Hände (V. 5) und der Kleidsaum (V. 10) werden personifiziert, wodurch der Frau teilweise die Verantwortung für ihr Handeln abgenommen wird, da ihre Körperteile wie eigenständige Personen dargestellt werden.
Die beschriebene Situation wirkt sehr unangenehm und beklemmend für alle Beteiligten, was durch Worte wie „weint“ (V. 1), „eisen“ (V. 2) oder „versargt“ (V. 4) erzielt wird. Diese assoziiert man mit einer gewissen Kälte und Trauer.
Die beschriebene Gestik und Mimik der Geliebten lässt darauf schließen, dass das lyrische Ich sie gerade in flagranti erwischt hat. Hinweise dafür sind die „glutverbissenen Lippen“ (V. 2), die „eisen“. „Glutverbissen“ klingt in Verbindung mit „Lippen“ nach leidenschaftlichen Küssen - da Glut etwas heißes ist -, die nun schlagartig ihr Feuer verlieren.
Das lyrische Ich spricht davon, dass das Lächeln der Liebhaberin in seiner Brust weine. Die Brust ist vermutlich als sein Herz zu sehen, und somit als Herzschmerz, denn das Herz ist ein Symbol für Liebe. Der Atem wird als nicht mehr frisch beschrieben (V. 3), wodurch die Vergänglichkeit des Moments zum Ausdruck kommt.
Bei dem Ausdruck „versargt“ denkt man zunächst an „versagen“ im Sinne von „scheitern“, jedoch handelt es sich – wie man am „r“ erkennt – um einen Neologismus3, bei dem das Wort „Sarg“ zu einem Verb transformiert wird. Somit geht es hier nicht nur um Scheitern, sondern um Tod. Der Blick, der zuvor vermutlich noch leidenschaftlich und lebendig war, stirbt im übertragenen Sinne, d. h. Entsetzen wird in ihm deutlich. Der Blick ist wie erstarrt (V. 4), hastig werden Entschuldigungen und Erklärungen gesucht (V. 6). Das Wörter „hastend“ und „polternd“ deuten darauf hin, dass die Worte unüberlegt und nicht überzeugend sind, da sie schnell und übereilt gewählt wurden. Gleichzeitig wird nicht deutlich, wer genau die Worte „draufhastet“. Der Satzlogik zufolge, handelt es sich dabei um den Blick, der dies tut. Das verdeutlicht erneut die offensichtliche Verwirrung des Erzählers über die gerade entdeckte Untreue, da er die einzelnen Elemente des Geschehens miteinander vermischt und Satzaussagen somit teilweise unklar werden.
Zudem lässt sich feststellen, dass auch „draufhasten“, in der deutschen Sprache so nicht existiert. Auch hier versucht der Autor, durch Wortumformungen, seine intensiven Empfindungen und Gedanken deutlich zu machen.
Auch die Hände lassen schließlich vom Liebhaber ab (V. 8), was offensichtlich nicht direkt geschehen ist, wie die Wörter „Vergessen (V. 7) und „nachbröckeln“ (V. 8) klarmachen, da bröckeln ein eher langsamer Prozess ist.
Das noch hochgezogene Kleid verrät die peinliche Szene endgültig (V. 9-12).
„Frei buhlt dein Kleidsaum“ (V. 10) ist hierbei die einzig eindeutige Aussage, während die anderen teilweise widersprüchlich erscheinenden Aussagen sich assoziativ an den Titel anschließen. Das Wort „Frei“ wird hierbei besonders betont, da es einen eigenständigen Vers bildet. Normalerweise ist „frei“ ein positiv besetztes Wort, jedoch wirkt es in diesem Kontext eher erniedrigend, da die Fremdgängerin in ihrer Freiheit tut, was sie möchte. Eine ähnliche Prägnanz hat das Wort „Schlenkrig“ (V. 11), da es ebenfalls allein einen Vers bildet. Auch hier handelt es sich um eine Wortumwandlung von dem Nomen „Schlenker“ hin zum Adjektiv, welches die Position des Kleidsaums beschreibt.
Das „Drüber rüber“ verstärkt durch die Wiederholung in Form eines Binnenreims den Eindruck einer zuvor leidenschaftlichen Begegnung, bei der alles schnell und irgendwo drunter und drüber geht, und noch nicht einmal Zeit ist, sich zu entkleiden.
Wie es weitergeht, verrät der Autor nicht, sondern er beschreibt lediglich einen sehr kurzen Moment, ohne eine Reaktion wie Weinen, Schreien, Türen schlagen etc. preiszugeben.
Auch in diesem Werk verwendet August Stramm ein expressives Sprachschema in Form von Wortdeformationen, wodurch deutlich wird, dass die normale deutsche Sprache nicht ausreicht, um diese intensiven Gefühle auszudrücken.