Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
1. Interpretieren Sie ausführlich das Gedicht von Trakl nach inhaltlichen und formal-stilistischen Merkmalen.
Das Gedicht „Verfall“ von Georg Trakl aus dem Jahr 1909 nimmt Bezug zum Thema Herbst. Es handelt sich hierbei um ein Sonett1, bestehend aus dem Aufgesang mit zwei Quartetten und dem Abgesang mit zwei Terzetten. Der Rhythmus ist bis auf eine kleine Abweichung in Vers 11 komplett in einem fünfhebigen Jambus gehalten. Bei dem Reimschema liegen zunächst zwei umarmende Reime in den Quartetten vor (abba cddc) und danach ein dreifacher Kreuzreim in den Terzetten vor (efe fef). Zwischen Vers 1 und 4 und Vers 6 und 7 bestehen unreine Reime. Es werden durchgehend nur weibliche Kadenzen2 verwendet. Beim ersten Betrachten fällt auf, dass nach den beiden Quartetten eine Zäsur3 ist, nach der die Stimmung des Gedichtes sich von einer positiven schlagartig hin zu einer negativen wendet.
Sprachlich findet diese Antithetik in der Metaphorik Trakls ihren Ausdruck. Die Beschreibung von Zeit und Ort im Aufgesang durch „Abend“ (V. 1) und „dämmervoller Garten“ (V. 5) erinnert an Dinge wie Heimkehr zur Familie, Ruhe und Gemütlichkeit. Hinzu kommen noch „Glocken die Frieden läuten“ (V. 1) und dazu passend die Vogelschwärme „gleich frommen Pilgerzügen“ (V. 3) welche Sicherheit, Glückseligkeit und Gottgefälligkeit versprechen. Die Zeit scheint still zu stehen. Das lyrische Ich „fühl[t] der Stunden Weiser kaum mehr rücken“ (V. 7) und „hinwandelnd“ (V. 5) ohne Ziel und Eile genießt es die Szenerie.
In dieser momentanen Wahrnehmung gefangen, folgt das lyrische Ich träumend „über Wolken“ (V. 8) „der Vögel wundervollen Flügen“ (V. 2) gen „klaren Weiten“ (V. 4). Hierzu assoziieren sich Begriffe wie Sehnsucht nach Freiheit, Sorglosigkeit sowie auch der der Traumwelt. Ein Hinweis auf die tatsächliche Situation findet man in Vers 6, wo der Protagonist den „helleren Geschicken“ (V. 6) der Vögel nachträumt. Da es sich um die „herbstlich[e]“ (V. 4) Zeit handelt, sind die Vogelschwärme auf dem Weg nach Süden. Entweder bezieht sich diese Passage auf die Sehnsucht nach Sonne und Wärme oder womöglich auch auf herannahendes Unheil in der Realität des lyrischen Ichs, was zum zweiten Teil des Gedichtes passen würde.
Das erste Terzett leitet eine sofortige Kehrtwende der bisherigen Stimmung ein. Der Titel und zugleich auch das Thema des Gedichts, der „Verfall“ (V. 9), taucht hier zum ersten Mal auf. Dieser Stimmungsumbruch ist nicht unbedingt nur auf Vers 9 zurückzuführen, sondern eher in einer gedanklichen Pause zwischen der Träumerei im zweiten Quartett und der folgenden Strophe, welche dann durch den „Hauch“ (V. 9) beendet wird. Wieder in der Realität lässt dieser das lyrische Ich „von Verfall erzittern“ (V. 9). Die neue Atmosphäre ist unheimlich, eine Unsicherheit löst die vorher suggerierte Sicherheit ab. Es ist nicht ersichtlich, wo die Quelle des Hauchs liegt, was seine Bedrohlichkeit noch steigert. Eine „Amsel klagt“ (V. 10) und stört die Ruhe des vergangenen Augenblicks. Die Einsamkeit der einzelnen Amsel und die des Protagonisten bringt nun eine Schutzlosigkeit gegenüber der neuen Bedrohung mit sich. Alles um ihn herum scheint zu verfallen.
Die „entlaubten Zweige“ (V. 10) stehen hier nicht nur für Winter, sondern in erster Linie für den nahenden Tod. In krassem Gegensatz zu dem gemütlichen Hinwandeln im ersten Teil steht hier der „rote Wein“ (V. 11), welcher „schwankt“ (V. 11). Hier verbinde ich mit diesem Bild Blut, Siechtum, Verletzungen und somit indirekt den Krieg. „Der rote Wein“ (V. 11) steht zudem auch für die Erntezeit. Obgleich sie eher mit Freude erwartet wird, ist das Bild des Abernten mit Gottes Ernte unter den Menschen verbunden. Das Bild des Todes findet sich auch hier. Ein weiterer Gegensatz zeigt sich in den freien Vögeln und den „rostigen Gittern“ (V. 11). Nicht nur wird hier auf den Zahn der Zeit und den Verfall an sich angespielt sondern auch auf die Unfreiheit, wofür Gitter ebenfalls stehen.
Die bedrohliche Atmosphäre zieht sich auch durch das zweite Terzett. „Blasser Kinder Todesreigen“ (V. 12) lässt an Leichenblässe, Trauerfeiern, Tod unschuldiger Kinder und böse Omen denken. Des Weiteren „verwittern“ (V. 13) „dunkle Brunnenränder“ (V. 13). Brunnen sind tiefe Löcher in der Erde, welche von oben pechschwarz erscheinen und eine beklemmende Enge ausstrahlen. Der Zeitstillstand von vorhin wird nicht nur durch den Verfall der Blätter und Gitter, sondern auch durch das verwittern der Brunnenränder in einem Zeitraffer aufgehoben. Alles um das lyrische Ich herum scheint nach diesem „Hauch von Verfall“ (V. 9) zu altern und verfallen. In diesem Zusammenhang könnte jener Hauch den Hauch des Todes symbolisieren.
Der Hauch erstarkt zu einem „Wind“ (V. 14), welcher für das schnelle Herannahen der mysteriösen Bedrohung spricht. Es „neigen“ (V. 14) „sich fröstelnd blaue Astern“ (V. 14) unter dem Einfluss ebendieses Windes. Auch dieser Vers sagt viel aus. Erstens steht „neigen“ für eine Abwärtsbewegung und steht somit im klaren Kontrast zu den „wundervollen Flügen“ (V. 2). Zwar kann es im Sinne von „verneigen“ auch für Anerkennung stehen, doch sehe ich die Bedeutung eher im Kontext zu „den Kopf neigen“ oder auch „den Kopf hängen lassen“ und somit Hoffnungslosigkeit und Fatalismus. Zweitens ist „fröstelnd“ (V. 14) im Kontext nicht nur mit dem Winter, sondern auch mit dem „Hauch von Verfall“ (V. 9) und Furcht zu assoziieren. Drittens sind „blaue Astern“ (V. 14) ein Symbol der Traumdeutung und stehen im Allgemeinen für überlegene Geisteskraft und klare Entscheidungen. Ob diese Bedeutung durch „neigen“ aufgehoben wird oder ob es auf die klaren Entscheidungen der Staatsoberhäupter, im Vorfeld des Ersten Weltkrieges keine weiteren diplomatischen Deeskalationsversuche zu machen, anspielt, ist nicht feststellbar.
Auffallend ist, dass obwohl sich der Bedeutungsgehalt der Terzette gravierend von dem der Quartette unterscheidet, Trakl die Form beibehalten hat. Formal gesehen besteht kein Unterschied zwischen den beiden Teilen des Gedichtes. Womöglich soll dies den schleichenden subtilen Prozess des Verfallens verdeutlichen.
Die Aussage des Gedichtes lässt sich nun klar darlegen. Die momentane Ruhe wird durch eine nahende Bedrohung zerstört werden und es wird zu einem Krieg kommen. Es entsteht das Bild einer so genannten „Ruhe vor dem Sturm“.
2. Ziehen Sie das Rilke-Gedicht zum Vergleich heran und führen Sie diesen Vergleich nach selbstgewählten Gesichtspunkten.
Ich werde den Vergleich der beiden Gedichte anhand der Form, der Sprache und des Inhalts bzw. der Aussage machen.
Das Gedicht „Herbst“ von Rainer Maria Rilke fällt ungefähr in die gleiche Zeit wie das andere Vergleichsgedicht. Es setzt sich ebenfalls mit dem Thema Herbst auseinander.
„Herbst“ besteht aus vier Strophen. Einem Terzett folgen drei Duette. Auch hier liegt ein durchlaufender fünfhebiger Jambus vor. Im Gegensatz zu Trakls Gedicht liegen hier nebst vier weiblichen auch fünf männliche Kadenzen vor. Das Reimschema besteht aus zwei umarmenden Reimen mit einer Waise in Vers 2 (abc ca de ed). Ähnlich wie bei Trakl liegt auch hier ein Stimmungswandel vor. Jedoch liegt dieser zwischen Strophe 3 und 4 und ist von positiver Natur.
Rilkes Sprachmetaphorik ist um einiges positiver als die von Trakl. Im Gegensatz zum „Verfall“ bei Trakl wird hier nur vom „fallen“ (V. 1) gesprochen. Diese Abmilderung negativer Begriffe findet sich auch bei „welkten“ (V. 2) anstatt „verwelkten“. Rilke stellt nicht das Endprodukt des Verfallens - ergo den Verfall - dar, sondern nur den Prozess, welcher bei ihm nicht abgeschlossen wird, ganz im Gegensatz zur Situation bei „Verfall“. Auffallend ist auch die religiöse Sprache, welche wie bei Trakl auch bei Rilke ihren Eingang gefunden hat. Es ist von „in den Himmeln ferne[n] Gärten“ (V. 2) die Rede, welches eine Anspielung auf den Garten Eden, also das Paradies sein könnte. Da Rilke selbst tief religiös war, liegt diese Deutung nahe. Die Blätter fallen mit „verneinender Gebärde“ (V. 3). Ich vermute, dass Rilke sich auf das gegenseitige Kreuzen der Flugbahnen der Blätter während ihres Fluges bezieht. Welche Bedeutung diese Gebärde jedoch außer der Verstärkung des Kontrasts zwischen negativer fallender Bewegung der ersten drei Strophen und positiver Ruhe und Stillstand haben könnte.
Das Fallen wird im Laufe der ersten drei Strophen in einem stetigen Crescendo immer stärker. Nachdem in Strophe 2 die „schwere Erde aus allen Sternen“ (V. 4f) fällt, kulminiert es mit „Wir alle fallen“ (V. 6) in Strophe 3. Ähnlich liegt eine solche Steigerung auch bei Trakl vor. Bei ihm steigert sich der „Hauch von Verfall“ zu einem Wind.
Im Gegensatz zu Trakls Gedicht haben bei „Herbst“ potentielle negative Begriffe wie „in den Nächten“ (V. 4) und „aus allen Sternen“ (V. 5) keine negative Wirkung auf den Leser. Bei Nacht, „schwere Erde“ und „Einsamkeit“ (V. 4f) denkt man eher an Ruhe und Schläfrigkeit. „Aus allen Sternen“ (V. 5) fallen hat im Sprachgebrauch eine ähnliche Bedeutung wie „unverhofft erkennen“ oder „plötzlich zurück zur Realität finden“. Im Kontext des Gedichtes sollte man bei der Deutung eher die positiven Bedeutungen hervorheben.
Das universale Fallen wird auch in Vers 6 noch einmal in einem Parallelismus verdeutlicht. Dadurch dass alles fällt, lässt sich das Fallen wie hier beschrieben auf Prozesse wie Altern, Sterben oder auch Leiden beziehen. Es kann sich im weiteren Bedeutungszusammenhang auf alle negativen Dinge in der Welt des lyrischen Ichs beziehen.
Die Abwärtsbewegung, welche durch das stetige „fallen“ (V. 1, 3, 4, 6, 7) wird mit der vierten Strophe aufgehoben. Als Antithese4 zu dem ewigen Niedergang steht „Einer“ (V. 8), der das Geschehen „unendlich sanft in seinen Händen hält“ (V. 9). Nicht nur, dass „Einer“ (V. 8) groß geschrieben ist macht deutlich, dass hier von Gott die Rede ist. Auch der Begriff „unendlich sanft“ (V. 9) lässt auf Gott schließen, da in der christlichen Vorstellung Gott ein behütender, gütiger Vater ist und Rilke selbst bekennender Christ war.
Rilkes Aussage ist, dass es trotz allen Leidens, Alterns und Sterbens einen Gott gibt, welcher uns behütet und falls unsere Zeit gekommen ist, für immer erlöst.
Gerade hier besteht der größte Unterschied zwischen Trakl und Rilke. Wo bei Rilke stets die Hoffnung auf eine Zukunft im Jenseits bleibt, wartet bei Trakl in der Zukunft nur die Katastrophe, welche sich bereits für die Wachsamen ankündigt.
3. Ordnen Sie das Trakl-Gedicht literaturgeschichtlich ein.
Das Gedicht stammt aus dem Jahr 1909 und fällt somit in die Epoche des Expressionismus, welche ungefähr von 1905 bis 1925 andauerte. 1909 zeichnete sich bereits ab, dass die internationalen Spannungen, welche sich durch viele außenpolitische Krisen aufgebaut hatten, nicht mehr auf diplomatischem Wege gelöst werden würden. Frankreich, Großbritannien und Russland hatten sich zur „Triple Entente“ zusammengeschlossen und nahmen die Achsenmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in die Zange. Der Aufrüstungswettlauf, welcher um die Jahrhundertwende einsetzte, hatte für Unmengen an Kriegsmaterial auf beiden Seiten gesorgt. Die zunehmende Militarisierung der Bevölkerung durch den Ausbau der Volksarmeen sorgte für allgemeine Besorgnis.
Zeitgenossen dieser Zeit fürchteten vor allen Dingen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 die nahende Apokalypse, welche sich womöglich in einem alles vernichtenden Krieg entwickeln würde. Da Trakl auch eine Bedrohung schildert, liegt meine literaturgeschichtliche Einordnung nahe. Es bestand aufgrund der unsicheren politischen Situation in Europa eine allgemeine Unsicherheit. Im zweiten Teil von „Verfall“ spielt die Unsicherheit auch eine Rolle. Alte Wertvorstellungen und Ideale galten als veraltet und schlecht. Man sehnte sich danach, von ihnen befreit zu werden und mit einer neuen Ordnung einen Neuanfang zu wagen. Auch die Sehnsucht nach Freiheit, welche durch die Vögel symbolisiert wird findet sich bei dem Gedicht.