Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Der Expressionist Georg Heym, welcher von 1887 bis 1912 lebte, verfasste im Jahr 1910 das Gedicht „Ophelia“. Es ist der Epoche Expressionismus zuzuordnen. Zu der Zeit des Expressionismus begannen die Künstler und Dichter die Dinge nicht so zu malen oder zu beschreiben, wie sie sie mit ihren Augen sehen konnten, sondern sie vermittelten über ihre Werke den Eindruck sowie die Empfindungen, die sie zum Beispiel beim Betrachten eines Gegenstandes hatten. In der Lyrik traten erstmals Themen, wie der Ich-Zerfall, die Ästhetisierung des Hässlichen und der Großstadt auf.
Dies wird auch an dem Gedicht „Ophelia“ deutlich: In Strophe eins bis vier handelt es sich um die Ästhetisierung des Hässlichen, nämlich der Leiche Ophelias, und in den Strophen sieben und neun wird das Thema Großstadt sehr deutlich. Das um 1910 geschriebene Gedicht setzt sich aus insgesamt zwölf Strophen a vier Verse, also Quartetten, zusammen. Des Weiteren wurde das Gedicht in zwei Teile geteilt: I, wobei es um die Beschreibung der Leiche geht, und II, womit in das Thema „Großstadt“ eingeleitet wird. Durch alle Strophen zieht sich der umarmende Reim. Nur in den Strophen eins und drei findet man den Kreuzreim. Auffallend während der Textarbeit war, dass der Dichter mit vielen Metaphern1, wie zum Beispiel in Vers 1 „Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten“, was auf die Verwesung bzw. den Zerfall des Menschen hinweist oder in Vers 43/44 „Wo in dem Dunkelgrün der Wiesen steht Des fernen Abends zarte Müdigkeit.“, arbeitete und somit „Ophelia“ ein metaphernreiches Gedicht ist, wodurch die Vorstellung beim Leser verstärkt wird. Eine besondere Form der Metapher, die Personifikation2, ist ebenfalls in dem Gedicht, zum Beispiel in Zeile 15 „…eine Weide weint“ oder in Vers 48 „…der Horizont wie Feuer raucht.“, was gleichzeitig ein Vergleich ist, zu finden. In den Zeilen 26/27 sind durch das Wort „Der“ und in den Versen 31/32 durch „In“ Anaphern3 verwendet wurden. Die Wortwiederholungen und gleichzeitige Alliteration4 „Vorbei, vorbei“, in den Versen 25 und 41, dient zur Verstärkung. Genau diese Funktion hat auch die Akkumulation in der Zeile 17 („Korn. Staaten. Und des Mittags roter Schweiß.“) sowie die Klimax5 „…Hall…Glocken und Geläut. Maschinenkreischen. Kampf.“ In den Versen 29/30 oder in den darauf folgenden Versen 32/33 „…Kran mit Riesenarmen…schwarzer Stirn,…mächtiger Tyrann, Ein Moloch“. In Zeile 13 setzt Georg Heym eine Periphrase6 „…langer, weißer Aal.“ Ein, damit man sich diesen durch nähere Beschreibung besser vorstellen kann. Der Dichter hat nur in den Zeilen 7 und 8 rhetorische Fragen verwendet, womit er eine Einleitung für das Folgende geschaffen hat. Sehr auffällig sind außerdem die Enjambements7 im Teil I in jeder Strophe von Vers 3 zu Vers 4. Mit Hilfe dieses Stilmittels schafft es der Dichter, Bewegung entstehen zu lassen, welche hier sehr gut passt, da es sich um das Treiben der Leiche im Wasser handelt. Durch die Verwendung all dieser Stilmittel schafft es Georg Heym das Gedicht so zu verstärken oder abzuschwächen, wie zum Beispiel in Strophe 6, dass der Leser die Bewegung von pulsierend zu ruhig sehr gut nachvollziehen bzw. spüren kann.
In der ersten Strophe wird das Aussehen Ophelias und ihr Wegtreiben beschrieben („Im Haar ein Nest von …ratten, …auf der Flut…, also treibt sie…“). In der nächsten Strophe ist von dem Erlöschen des letzten Lichtes die Rede und die Frage, warum dies geschah, wird gestellt. In der 3. Strophe handelt es sich nun um Fledermäuse, welches nachtaktive Tiere in dunkler Farbe sind, die über dem Wasser wie dichter, grauer Rauch wirken. In der 4. Strophe bezieht sich der Dichter wieder auf die Wasserleiche und spricht von Tieren, die auf ihr zu sehen sind („…Aal… über ihre Brust. Ein Glühwurm… Auf ihrer Stirn.“) sowie von der Weide, welche an Ufern steht, nach unten hängende Zweige besitzt und somit für mich auch als „trauernder Baum“ angesehen werden kann, die ihre Blätter auf das Mädchen und ihre stumme Qual, also ihr vergangenes Leid, fallen lässt. Nun wird in der nächsten Strophe die Ruhe in der Natur geschildert und wie die Schwäne ihr weißes Gefieder über Ophelia decken. In der 6. Strophe wird über Ophelias geschlossenen Augen geschrieben und wie sie in den Melodien des Todes auf ewig von einem Kuss Karmoisin, welches roter Farbstoff ist und somit für Leben und Lebhaftigkeit steht, träumt, da sie nie mehr aufwachen wird. In der 7. Strophe kommt es zur Zerstörung der Harmonie und von einem Echo ist die Rede, wodurch, wie nun in der nächsten Strophe erzählt wird, „Hall voller Straßen [ertönt], Glocken… Maschinenkreischen [und] Kampf.“ Und nun bezieht sich Georg Heym auf das Thema Großstadt. In Strophe 9 geht es nun um die Zerstörung der Macht und in der 10. Strophe bezieht sich der Dichter wieder auf die Wasserleiche und der Leser erfährt, dass diese unsichtbar in der Flut schwimmt und Schatten durch ihr Leid mit sich bringt. In Strophe 11 werden nun die Zeit und die Natur beschrieben, nachdem es vorbei ist, dass Ophelia durch die Flut der Stadt treibt, weil der Strom, wie in Strophe 12 geschrieben wird, sie weiter wegträgt auf ewig („Der Strom trägt weit sie fort,… Zeit hinab. Durch Ewigkeiten fort…“) und dass dadurch der Horizont, durch Ophelias Wahnsinn, der sie umbrachte, wie Feuer raucht.
Den Titel „Ophelia“ tragen viele Gedichte ähnlicher Art in der Zeit des Expressionismus.
Es handelt sich dabei um eine Figur aus William Shakespeares Werk „Hamlet“, welches 1601 verfasst wurde. Ophelia ist in Hamlet verliebt. Dieser, welcher seinen Vater verlor, hat dessen Geist gesehen und will sich nun an dem neuen König, seinem Onkel, rächen, da er Hamlets Vater umbrachte. Hamlet scheint dadurch in einen Wahn zu verfallen, den er auch Ophelia vorspielt. Da ihr Vater sowie ihr Bruder von der Liebe Hamlets abraten, ist sie in einen Zwiespalt gefallen, da sie einerseits Hamlet lieben will, aber andererseits nicht ihren Bruder und Vater verletzen will. Nachdem auch noch ihr Vater von Hamlet getötet wird, verfällt sie in einen noch tieferen Wahn, der sie schließlich auch umbringt. In dem Drama heißt es „sie ertrank an ihren Tränen“. Daraus entwickelte sich die Metapher „Ophelia – Das Motiv der schönen Wasserleiche“, welches viele Dichter anregte. Es löste eine regelrechte Bewegung im Expressionismus aus, wobei Gedichte und Kunstwerke zur Wasserleiche Ophelia entstanden. So schrieb zum Beispiel auch Gottfried Benn das Gedicht „Schöne Jugend“, welches als Thema die Ästhetisierung des Hässlichen – die schöne Wasserleiche – hat. Und so machte sich auch Georg Heym Gedanken zu dieser Metapher und verfasste ein Gedicht über Ophelias Zustand und das Treiben der Leiche im Wasser in Verbindung mit der Großstadt.
Zum Schluss möchte ich auf den, wie ich finde, interessanten und starken Kontrast innerhalb des Gedichtes eingehen: Am Anfang des Gedichtes geht Heym auf die Ästhetisierung der Leiche Ophelias ein und ab der 7. Strophe bezieht er sich auf die Großstadt und deren Erscheinungen. Somit stehen sich also der ruhige, ewige Tod und das energische, brisante Großstadtleben gegenüber. Ich finde, dass diese Gegenüberstellung auch möglich ist, da beides mit Zerfall zu tun haben (können): Zum Einen Ophelia, die durch ihren Wahnsinn starb und nun still ihr Leid auf ewig mit sich trägt, und zum Anderen die Stadt, die durch Maschinen und Kampf, allerdings laut, einen Zerfall oder gar Tod herbeiführen kann.