Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Ganymed“, im Jahre 1774 von Johann Wolfgang Goethe verfasst, ist der Epoche des Sturm und Drangs zuzuordnen. Es behandelt die Vereinigung des lyrischen Ichs mit der göttlichen Natur und zeigt, dass sich Gott sowohl in der Natur als auch im Inneren des Menschen zu finden ist. Es basiert auf dem gleichnamigen griechischen Mythos, in dem der Göttervater Zeus den Sterblichen Ganymed aufgrund seiner Schönheit als Mundschenk auf den Olymp holt und ihn zu seinem Geliebten macht.
Die erste Strophe behandelt das Schwärmen des lyrischen Ichs vom Frühling und der Natur, wobei sich in den nächsten beiden Strophen eine Sehnsucht nach der Natur entwickelt, die sich im Verlaufe steigert. In Strophe vier drückt das lyrische Ich seine Orientierungslosigkeit, aber auch seinen Willen, einem Ruf zu folgen, aus. Die letzte Strophe beschreibt, wie das lyrische Ich in den Himmel zu seinem Geliebten und Gott aufsteigt.
Die fünf Strophen des Gedichts bestehen aus 32 Versen und besitzen kein Reimschema sowie ein unregelmäßiges Metrum1. Dies ist ein typisches Merkmal des Sturm und Drangs, denn es unterstreicht die Emotionalität des lyrischen Ichs. Außerdem bricht diese unregelmäßige Form aus den festgelegten Gedichtformen dieser Zeit heraus und bildet somit einen Bezug zum Geniekult, einem Hauptaspekt des Sturm und Drangs. Er beinhaltete eine Vergötterung der individuellen Schöpfungskraft: Durch Erschaffen einer unregelmäßigen äußeren Form wird hier die Fähigkeit des Individuums, komplett Neues zu erschaffen, betont.
Das liebevolle Verhältnis zwischen dem lyrischen Ich und seinem Geliebten und das Verlangen, das das lyrische Ich verspürt, wird durch Wörter wie „Sehnsucht“ (V. 2) und „Durst“ (V. 16) verdeutlicht. Außerdem wird beschrieben, wie das lyrische Ich von der Natur umgeben und erfüllt wird, was durch „rings“ in Vers zwei und „drängt“ in Vers fünf klar wird. Durch die Bezeichnung des Frühlings als „Geliebter“ (V. 3), welcher neben prächtiger Natur auch Aufbruch und Neuanfang verkörpert, wird die junge und neue Liebe verdeutlicht, die das lyrische Ich zu seinem Geliebten verspürt. Außerdem wird der Frühling hier personifiziert, was dem Gedicht Lebhaftigkeit verleiht. Der Ausruf in Vers drei betont ebendies noch einmal. Die Überschwänglichkeit der Empfindungen vermittelt das lyrische Ich mithilfe einer Hyperbel2 (V. 4: „tausendfacher“). Außerdem werden dieser und der folgende Vers mit einem Enjambement verbunden, was abermals verdeutlicht, dass das Gefühl der Liebe sehr stark ist. Im Folgenden wird das Göttliche mit der Natur verbunden und darauf bezogen (V. 7: „Heilig“), wodurch auch die Wichtigkeit der Emotionen bekräftigt wird. Dasselbe bezwecken Formulierungen wie „ewigen“ (V.6) und „Unendliche“ (V. 8) und ein Ausruf in Vers acht. Zudem wird das „Herz“ (V. 5 und V.14) als Zentrum der Gefühle dargestellt. Nachfolgend wird mit einem weiteren Enjambement die Natur direkt angesprochen und das lyrische Ich verdeutlicht seine Begierde durch den Wunsch, die Natur zu „fassen“ (V. 9).
In Strophe drei folgen weitere Enjambements3, welche Referenzen zum Geniekult schaffen. Inhaltlich werden Naturbilder (V. 13: „Blumen“; „Gras“) mit metaphorischen Ausdrücken wie „brennenden Durst“ in den Versen 15 und 16 und personifikatorischen Beschreibungen der Natur wie „Du kühlst“ in Vers 15 verbunden. Das schafft eine Vereinigung von Natur und lyrischem Ich, die sich im Laufe des Gedichts weiter steigert. Diese Einheit wird außerdem durch eine Antithese4 (V. 17: „Morgenwind“; V.18: „Nachtigall“) gestützt. Die liebevolle Atmosphäre wird durch Worte wie „schmachte“ (V.12) und „Liebend“ (V. 19) aufrechterhalten.
Strophe vier besteht aus parallelistisch konstruierten Wiederholungen und einem Ausruf, die die Emotionsgeladenheit und die Sehnsucht Ganymeds verdeutlichen. Außerdem macht die Frage „Wohin?“ (V. 21), die Gewilltheit, aber auch die Unsicherheit des lyrischen Ichs klar. Eine weitere Wiederholung findet sich in Vers 28 und 30 („Aufwärts(!)“), welche mit „Abwärts“ in Vers 24 eine Antithese bildet. Die Erwiderung der Liebe wird durch das Entgegenkommen der Natur deutlich (V. 24f: „die Wolken Neigen sich“). Daraufhin beschreibt das lyrische Ich in Vers 26 seine Vorfreude mit einer Wiederholung. Das Aktiv-Passiv-Wortspiel „Umfangend umfangen!“ in Vers 29 kennzeichnet die Vereinigung Ganymeds mit der Natur und somit auch mit dem Göttlichen, welches sich in der Natur befindet. Dies wird durch die Ansprache des „Alliebende[n] Vater[s]“ in Vers 32 deutlich, welche sich auf den Göttervater Zeus bezieht.
Zusammenfassend beschreibt das Gedicht die Vereinigung des lyrischen Ichs Ganymed mit der ihn umgebenden Natur, ihn der sich auch das Göttliche befindet.
Doch inwiefern lässt sich das Gedicht in die Epoche des Sturm und Drangs einordnen und handelt es sich um einen typischen Vertreter dieser? Der Sturm und Drang war eine Jugendprotestbewegung, die ungefähr von 1760 bis 1785 stattfand. Sie richtete sich gegen festgesetzte Normen und das erstarrte Bürgertum. Außerdem lehnte sie sich gegen feudale Herrschaftsverhältnisse auf. Zentrale Motive sind einerseits der bereits erwähnte Geniekult sowie Liebe, Freundschaft und die Natur in ihrer Ursprünglichkeit und Vielfalt. Letztere Motive lassen sich eindeutig im Gedicht festmachen, denn Naturbilder und die Liebe sind Hauptaspekte, die in „Ganymed“ behandelt werden.
Zudem ist der leidenschaftliche und gefühlsgeladene Stil typisch für den Sturm und Drang, welcher sich auch in der Sprache manifestiert. Hier findet sich außerdem durch die unregelmäßige äußere Form, die neu geschaffen wurde, eine Referenz zum Geniekult. Außerdem tritt hier ein pantheistisches Weltbild, also die Vorstellung der Einheit von Gott und Natur, auf, die charakteristisch für den Sturm und Drang ist. Die Figur des Ganymeds, der sich empfindsam, naturverbunden und liebend verhält, taucht zudem oft in dieser Epoche auf.
Insofern findet sich in „Ganymed“ ein recht typischer Vertreter des Sturm und Drangs, der sowohl inhaltlich als auch formal viele übereinstimmende Merkmale aufweist.