Autor/in: Oskar Loerke Epoche: Expressionismus Strophen: 4, Verse: 14 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-3, 4-3
Der Himmel fließt in steinernen Kanälen;
Denn zu Kanälen steilrecht ausgehauen
Sind alle Straßen, voll vom Himmelblauen;
Und Kuppeln gleichen Bojen, Schlote Pfählen
Im Wasser. Schwarze Essendämpfe1 schwelen
Und sind wie Wasserpflanzen anzuschauen.
Die Leben, die sich ganz am Grunde stauen,
Beginnen sacht vom Himmel zu erzählen,
Gemengt, entwirrt nach blauen Melodien.
Wie eines Wassers Bodensatz und Tand2
regt sie des Wassers Wille und Verstand
Im Dünen3, Kommen, Gehen, Gleiten, Ziehen.
Die Menschen sind wie grober bunter Sand
Im linden4 Spiel der großen Wellenhand.
Anmerkungen
1
Esse = Schornstein
2
Etwas Schönes, dass aber keinen Wert hat
3
Auf und Ab der Wellen
4
mild, zart, sacht
Oskar Loerke und die Stadt
Oskar Loerke war ein Naturlyriker. Zunächst erschien ihm die Stadt und die Natur als völliger Gegensatz, der für Loerke aber irgendwann zu einer sich gegenseitig ergänzenden Einheit wurde. So schrieb er 1926 in einem Brief: So nenne ich Ihnen denn eines meiner entscheidendsten Erlebnisse: „lch habe die moderne Großstadt erlebt als ein Stück Natur”.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
1. Interpretation Oskar Loerke, Blauer Abend in Berlin (1911)
Oskar Loerke thematisiert in seinem 1911 erschienenem expressionistischem Gedicht „Blauer Abend in Berlin“ die Großstadt als vom Menschen geschaffenes Äquivalent1 einer Unterwasserwelt.
Das Gedicht besteht aus zwei Quartetten im umarmenden Reim (ABBA ABBA) sowie zwei Terzetten im Reimschema DEE-DEE und ist folglich ein Sonett. Es herrscht durchgängig ein fünfhebiger Jambus vor, wobei die Kadenzen2 jedoch nicht überall gleich sind.
Das gesamte Gedicht ist von einer Metaphorik geprägt, welche die Stadt als Unterwasserwelt begreift. So wird direkt am Anfang die Vorstellung von Häuserschluchten als Kanäle für den Himmel etabliert, was im Folgenden weiter ausgebaut wird.
Auffällig ist, dass diese Kanäle erst „ausgehauen“ (V. 2) werden, und nicht, wie anzunehmen ist, nicht zugebaut werden. Dadurch wird jedoch der Eindruck vermittelt, dass zwischen der Enge der Gebäude erst Platz geschaffen werden musste, um die Stadt bewohnbar zu machen. Durch eine Inversion3 erhält der Begriff des Kanals mehr Dominanz im Satz als die
Straße. Die Vorstellung, Wasser würde durch diese Landschaft fließen, wird immer konkreter: Zunächst wurden in den ersten Versen nur die Begriffe „fließ[en]“ und „Kanäle [...]“ verwendet und in Vers 3 auf die gleiche Farbe
(„Himmelblau [...]“, V. 3) von Himmel und Wasser hingewiesen; Die in Vers 4 genannten Bojen und Pfähle machen jedoch außerhalb des Wassers wenig Sinn.
Obwohl an dieser Stelle das Thema bereits offensichtlich ist, zögert Oskar Loerke die Nennung des „Wasser[s]“ (V. 5) durch ein Enjambement bis zum nächsten Quartett hinaus. Auch an anderen Stellen im Gedicht (V. 2-3, ...) treten Enjambements4 auf, jedoch wirkt dieses aufgrund der Position zwischen zwei Strophen sowie der Trennung des Ausdrucks „Pfählen im Wasser“ am stärksten auf den Leser. Diese absichtliche Störung des Leseflusses ist typisch für den Protest des Expressionismus gegen die klassischen Gedichtsformen.
In den Versen 5 und 6 wird ein weiteres Element der industrialisierten Stadt mit einem Unterwasserelement verglichen: Die mit negativ konnotierten Begriffen wie der Farbe Schwarz sowie des Ausdrucks „schwelen“ (V. 5) beschriebenen Rauchschwaden entsprechen hier Wasserpflanzen.
Nach der Uminterpretierung der leblosen Elemente der Stadt beschäftigt sich der Autor im Folgenden mit den Bewohnern.
Nach Loerkes Beschreibung „stauen“ (V. 7) sich die nur als „Die Leben“ (V. 7) bezeichneten Menschen am Grund - dadurch entsteht beim Leser die Impression einer von Individualismus beraubten, uniformen Masse. Dem wirkt jedoch der nächste Vers entgegen, falls man das „Erzählen“ (V. 8) als Konversation zwischen den Menschen begreift. Dieser Vers drückt die Hoffnung der Stadtbewohner aus und kann auf mehrere Arten verstanden werden: zunächst einmal wörtlich: trübes Wasser bzw. verschmutzte Luft versperren den Blick auf den Himmel; ich halte es jedoch eher für eine religiöse Anspielung: Der Himmel fungiert dann als Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem jetzigen.
In den nun folgenden Terzetten werden die Menschen nur noch als passiv („Bodensatz und Tand“) (V. 10), Sand (V. 13) beschrieben, die vom personifizierten Wasser gelenkt werden („Wille und Verstand“, V. 11, „Wellenhand“, V. 14)
Es fällt auf, dass die Terzette nicht nur formal (Reimschema DAA-DAA und gleiche Kadenzen), sondern auch inhaltlich stark übereinstimmen: Der erste Vers beschreibt jeweils die Bewegung der Menschen, der zweite ihre Natur als Vergleich und der dritte Vers zeigt die Lenkung durch die höhere Macht des Wassers.
In Vers 13 wird die im zweiten Quartett beschriebene uniforme Menschenmasse als Sand dargestellt: von außen ist er nur noch als monotone, zusammenhängende Masse erkennbar, selbst wenn die einzelnen Sandkörner sich unterscheiden und individuell bewegen.
Das personifizierte Wasser lässt sich natürlich nicht nur auf die Unterwasserumgebung beziehen, sondern zum Beispiel als „Geist“ der Stadt, der das Leben in der Stadt kontrolliert.
Die Enumeration der verschiedenen Bewegungsarten in Vers 12 betont einerseits die vielen möglichen Bewegungen, andererseits jedoch auch deren Ähnlichkeit.
Das gesamte Gedicht läuft, wie für Sonette6 üblich, auf das Ende hin zu: Der Autor beginnt mit Bauwerken und Struktur der Stadt und nähert sich immer weiter als das Kleine, den Menschen an.
Obwohl diverse eher negative Beschreibungen der Stadt verwendet werden, wirkt das Gedicht auf mich im Grundtenor eher positiv: Das unangenehme Bild einer Industriestadt wird ersetzt durch eine freundlichere Vorstellung, die von der Natur dominiert ist.
Diese nicht der Realität entsprechende Darstellungsweise spricht für eine Einordnung des Gedichts in die Lyrik des Expressionismus: Loerke beschreibt nicht bloß, was er sieht, er vermittelt, wie er die Stadt wahrnimmt. Wo früher der Mensch in den Mittelpunkt des dichterischen Schaffens gesetzt wurde, ist er hier nur noch ein unbedeutendes Element, das an sich willenlos und machtlos erscheint, nur hin- und hergespült wird.
2. Vergleich mit dem obigen Standfoto aus dem Film „Metropolis“ (1926)
Ich erkenne große Ähnlichkeiten zwischen Loerkes Vorstellung der Großstadt und dem hier gezeigten Bild - wenn auch nicht der metaphorischen Wasser-Ebene, so in der Vorstellung der Stadt und des städtischen Lebens.
Das Standbild zeigt eine aus großer Höhe aufgenommene Ansicht einer großen, vielbefahrenen Straße zwischen sehr hohen Gebäuden, deren Dächer größtenteils schon nicht mehr sichtbar sind. So entsteht zunächst einmal auch der von Loerke beschriebene Eindruck eines Kanals. Die Menschen wirken sehr klein, sind fast nicht mehr einzeln zu erkennen. Dies entspricht der Vorstellung der vom Wasser bewegten Sand-(Menschen)-Berge; ebenso gilt dies für den fließenden Verkehr.
Die vielen im Bild benutzten Licht-Schatten-Kontraste deuten darauf hin, dass vom Himmel nur noch wenig Licht bis zum Boden durchdringt und man nie den ganzen Himmel erblicken kann; dies korrespondiert mit dem 8. Vers des Gedichts - Menschen müssen sich vom Himmel erzählen, um seinen Anblick nicht zu vergessen.
Sowohl Gedicht als auch Bild wirken auf mich mäßig bedrohlich und einschüchternd: Im Bild wirkt das teilweise sehr gut ausgeleuchtete Stadtbild positiv, im Gedicht ist immer wieder Hoffnung erwähnt.
Das Standfoto enthält im Gegensatz zum Gedicht keinen Rauch, es wirkt moderner und auch faszinierend auf mich. Im Gedicht kommt eine leichte Faszination bei der Beschreibung der Unterwasserlandschaft auf.
18;
Bewertungen
Bisherige Besucher-Bewertung: 12 Punkte, gut (+) (12,2 Punkte bei 125 Stimmen) Deine Bewertung: