Oskar Loerke und die Stadt
Oskar Loerke war ein Naturlyriker. Zunächst erschien ihm die Stadt und die Natur als völliger Gegensatz, der für Loerke aber irgendwann zu einer sich gegenseitig ergänzenden Einheit wurde. So schrieb er 1926 in einem Brief: So nenne ich Ihnen denn eines meiner entscheidendsten Erlebnisse: „lch habe die moderne Großstadt erlebt als ein Stück Natur”.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Sonett1 „Blauer Abend in Berlin“ von Oskar Loerke erschienen 1911 stellt durch einen Vergleich der Stadt und ihren Bewohnern mit einer Wasserlandschaft das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner künstlich geschaffenen Welt und der Natur dar.
Da die Form des Sonetts eingehalten wird, ist das Gedicht in zwei Quartette und zwei Terzette unterteilt. Zu Beginn des ersten Quartetts liegt die Perspektive eines Betrachters vor, der an den Häuserzeilen einer Straße hinaufschaut und dem es scheint, als fließe der Himmel in diesen Straßenkanälen. Dabei wird das „Himmelblaue[ ]“, symbolisch für die Natur zu sehen, von den „steilrecht ausgehauen[en]“, „steinernen Kanälen“ begrenzt. Der Mensch schränkt demnach mit seinen artifiziellen Bauten die Natur ein. Anschließend ändert sich die Perspektive des Erzählers, der sich nun, seiner ersten Assoziation folgend, gedanklich über die Dächer der Stadt begibt und Ähnlichkeiten zwischen den Charakteristika der Stadt („Kuppeln“, „Schlote“) und den Merkmalen einer Wasserlandschaft („Bojen“, „Pfähle[ ]“) entdeckt. Durch diese Vergleiche erzielt Loerke ein feineres Bild der Stadt beim Leser und macht gleichzeitig deutlich, dass sie wiederum in den Bereich der Natur, den Himmel, hineindrängt. Im zweiten Quartett wird die Beschreibung mittels Vergleiche weitergeführt, allerdings liegt nun der Fokus auf den Bewohnern der Stadt: „Die Leben, die sich ganz am Grunde stauen“. Der Begriff Leben kann in diesem Kontext sowohl die Menschenleben als auch alle anderen Leben in der Natur, speziell jene im Wasser, meinen. So wird durch diese Doppeldeutigkeit aufgezeigt, dass der Mensch auch Teil der Natur ist und sich ihr nicht entziehen kann. Die Enge der Stadt („stauen“) ist widernatürlich, weshalb „die Leben (…) Beginnen sacht vom Himmel [(also der Natur)] zu erzählen“. Hier lässt der Erzähler indirekt erkennen, ebenfalls Stadtbewohner zu sein, denn er selbst erzählte dem Leser gerade vom Himmel. Auf diese Weise gelingt es Loerke seine möglicherweise eigene Natursehnsucht zum Ausdruck zu bringen. Die Synästhesie2 „blaue[ ] Melodien“ im ersten Terzett verdeutlicht, dass es die Natur ist, (das Adjektiv „blau“ greift wiederum das Himmel- und Wassermotiv auf) die die Unübersichtlichkeit („Gemengt“) zu ordnen („entwirrt“) vermag. Der Mensch bedarf der Natur als vorgesetzter Gewalt, die ihn mit „Wille und Verstand“ lenkt. Entsprechend werden die Bewegungen in der Stadt, das „Dünen, Kommen, Gehen, Gleiten, Ziehen“, vom Wasser, dem natürlichen Einfluss, fremdbestimmt. Die Menschen sind Spielball der „linden Wellenhand“. Im Vergleich der Menschen mit dem „grobe[n], bunte[n] Sand“ wird deutlich, dass die unterschiedlichen („bunt“) Individuen in der Masse („Sand“) nicht wahrgenommen werden. In der Stadt ist die einzelne Person anonym und die Masse gehorcht der Dynamik einer unbestimmbaren Größe, der „Wellenhand“. So demonstriert die Hauptmetapher3 des Sonetts, das Wasser, im konsequent angewendeten Vergleich die wechselseitige Abhängigkeit von Mensch und Natur. Einerseits greifen die Städte, die symbolisch für alle menschlichen Übergriffe benutzt werden, in die Natur ein, andererseits können sie und demnach die Menschen sich den Naturgewalten und -geschehnissen nicht entziehen.
Die formale Strenge des Sonetts (Einteilung in Quartette und Terzette, vorgegebenes Reimschema der umarmenden Reime in den Quartetten) wird durch die wiederholten Enjambements4 (Bsp.: „Und Kuppeln gleichen Bojen, Schlote Pfählen / Im Wasser.“), die die Zäsuren5 zwischen den Strophen verhindern, überwunden. Hier unterstreicht Loerke mit der klaren Aufteilung des Gedichts den inhaltlichen Aspekt der klar definierten Straßen und des scheinbar geregelten Stadtlebens. Die Enjambements hingegen führen den fließenden Charakter des Wassers, der Natur, stilistisch aus. Der durchgehende Jambus sowie die weiblichen Kadenzen6 in den Quartetten unterstützen diese dynamische Bewegung. In den Terzetten bemüht Loerke jedoch Paarreime und männliche Kadenzen, die den eindeutigen Zusammenhalt der inhaltlichen Aussage begünstigen. Somit wird die Kernthese „Die Menschen sind wie grober bunter Sand / Im linden Spiel der großen Wellenhand“ hervorgehoben.
„Blauer Abend in Berlin“ ist klar in der Epoche des lyrischen Expressionismus (etwa 1905-1925) anzusiedeln. Vor dem Hintergrund der sich vergrößernden sozialen Unterschiede und einer zunehmend beunruhigenden Außenpolitik, die in den ersten Weltkrieg gipfelte, beabsichtigten die Schriftsteller dieser literarischen Strömung gegen die herrschenden Normen und Konventionen durch Aufhebung überkommener Betrachtungsweisen zu protestieren. Wiederholt wurde dabei das Thema der Großstädte behandelt, da sich die sozialen Disparitäten dort am stärksten zeigten. Außerdem versetzten die rapiden wachsenden Metropolen das Individuum in die Anonymität, was im Gegensatz zur Betonung des Subjekts durch die Expressionisten stand und folglich eine Reibungsfläche bot. Loerkes Gedicht ist insofern typisch für die Zeit, als dass es die Großstadtthematik und den Aspekt der Anonymisierung („grober, bunter Sand“) aufgreift. Auch das Sonett wurde häufig verwendet, da die strenge Form erlaubte, unruhige und unbegreifbare Vorgänge klar zusammenzufassen. Darüberhinaus war die Wiederverwertung einer Gedichtform, die ursprünglich aus dem 17. Jahrhundert stammte, auch ein Aufbäumen gegen vorhergegangene literarische Traditionen. Trotz all dieser Übereinstimmungen mit den Merkmalen des Expressionismus besitzt „Blauer Abend in Berlin“ auch eine eigene Note. Denn Loerke präsentiert nach den Schattenseiten der Großstadt („schwarze Essendämpfe“) die harmonische („linde[s] Spiel“) Einordnung der Menschen in die höhere Ordnung der Natur. Damit wendet er sich nicht nur vom subjektkonzentrierten Denken seiner Zeitgenossen ab, sondern verweigert sich auch den teilweise vorherrschenden Untergangsideen.