Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Die Stadt“ von Georg Heym handelt von der Kritik des Dichters an dem Großstadtleben. Diesem durch Anonymität und Monotonie geprägten Leben prophezeit Heym am Ende des Gedichtes ein baldiges Ende. Der Dichter hat seine Gedanken in 14 Versen zusammengefasst. Beim genaueren Hinsehen stellt sich heraus; dass die Sonett1-Form vorliegt. Somit besteht das Gedicht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten. In den ersten beiden Quartetten liegt ein umarmender Reim vor, wohingegen in den beiden Terzetten jeweils ein Paarreim vorliegt. Erstaunlicherweise reimen sich Vers 11 und 14 –im Gegensatz zum typischen Sonett- nicht. Untersucht man die Metrik2, so wird deutlich; dass alle Verse mit Ausnahme des Verses 5 10 Silben haben (Vers 5 beinhaltet eine Silbe mehr) Auch unterscheidet sich Vers 5 von den anderen Versen darin, dass ein Daktylus vorliegt. In den restlichen Versen liegt der Jambus vor. Eine Gemeinsamkeit der Verse ist es jedoch, dass sie durchgehend männliche Kadenzen3 vorweisen.
Beim Subsumieren des Gedichts wird deutlich, dass man es in zwei Großabschnitte unterteilen kann. Entsprechend der Sonett-Form beinhalten die ersten drei Strophen beschreibende Elemente, während die letzte ein Fazit aus der Situation zieht. Nimmt man eine differenzierte Unterteilung vor; so könnte der erste Abschnitt noch einmal in zwei Abschnitte unterteilt werden. Der erste Abschnitt, der sich dann demnach von Vers 1 bis 8 erstreckt, handelt von der Beschreibung der Stadt durch den Dichter; wobei er vor allem auf die äußere Darstellung der Stadt den Schwerpunkt legt. Die dritte Strophe dagegen stellt eine Art Kontrast zu der zuvor benannten Stille in der Stadt dar. Heym beschreibt in ihr die Leiden der Menschen; die jedoch in der Stadt ungesehen und ungehört bleiben. Eine Wende in dieser Situation kündigt sich in der vierten Strophe an Mit Blick auf die Zukunft wird von dem Autor ein katastrophenähnlicher Zustand in der (Groß-)Stadt erwartet.
Bereits zu Beginn des Gedichts wird durch den Autor eine düstere Stimmung geschaffen. Heym beschreibt die Nacht, die symbolisch für das Düstere, Dunkle und die Stille steht. Die Tatsache, dass er diese mit dem Adjektiv „sehr weit“ am Anfang beschreibt, setzt eine Betonung auf die flächendeckende Wirkung dieser Atmosphäre. Mitten im Vers endet der recht kurze Satz. Der nächste beginnt mit dem Bindewort „Und“, sodass zusätzliche Informationen zu dieser Nacht anscheinend folgen werden. Mithilfe des Enjambements4 in Vers 1 gelingt es dem Dichter das Verb „Zerreißet“ direkt am Anfang der Zeile zu platzieren. Auch dieses Wort verbreitet eine unangenehme, auf Gefahr hindeutende Stimmung. Der Neologismus5 „Wolkenschein“ (Vers 1) solle Heym zufolge noch vor dem Untergang des Mondes zerreißen. Auf irgendeine Art und Weise scheint sich etwas Merkwürdiges anzubahnen, da selbst ein „Schein“ zerreißt.
Die darauffolgenden Verse 3 und 4 beginnen auch mit dem Bindewort „Und“, sodass die Annahme, dass ein Polysyndeton vorliegt, bestätigt werden kann. Immer mehr wird somit nacheinander ein Detail der Nacht in der Stadt offenbart Heym personifiziert dabei in Zeile 3 und 4 die Fenster. Diese roten und kleinen Fenster würden „stehn“ und mit den Lidern „blinzeln“. Das Symbol des Fensters steht für die Verbindung des Zuhauses zur Außenwelt. Dadurch, dass Heym diese personifiziert, gewinnen sie noch an Bedeutung. Anscheinend bewahren die Fenster allein den einzigen „Kontakt“ zur Außenwelt. Die Menschen müssten dem Dichter zufolge in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen versagt haben. Zudem werden die Fenster mit den Adjektiven „rot“ und „klein“ beschrieben. Demnach ist sogar dieser Bezug zur Außenwelt sehr eingeschränkt. Das Adjektiv „rot“ könnte eventuell für die Belichtung in den Häusern stehen, aus denen die Menschen nicht allzu oft herausgehen oder aber für die Abschottung der Menschen.
Die Personifizierung der Bestandteile einer Stadt wird in Vers 5 fortgesetzt. Heym spricht von den „gehenden“ Straßen und vergleicht diese mit einem „Aderwerk“ (Zeile 5). Dementsprechend wird den Straßen eine enorme Bedeutung zugemessen. Gerade die Straßen stellen nach Heym den größten Beweis für das Leben in der Stadt dar. Wie das Blut in den Adern schnell pulsiert, so herrscht vor allem in der Großstadt anscheinend ein pulsierendes, lebendiges und stark ineinander verzweigtes Geflecht von Straßen. Vers 5 ist auch die Stelle, an der zum ersten Mal die Stadt namentlich erwähnt wird. Könnte man es durch die Überschrift und der Beschreibung der Fenster erahnen, so wird das eigentliche Thema nun direkt angesprochen. Dies ist gerade vermutlich der Grund; warum dieser Vers sich in der Silbenzahl von den anderen unterscheidet und daher hervorsticht. Die Begriffe „Straßen“ und „Stadt“ werden zudem von der aus ihnen gebildeten Alliteration hervorgehoben.
Im nächsten Vers macht sich direkt ein Kontrast bemerkbar. Wurden die Straßen und Fenster zuvor noch personifiziert, werden die Menschen als eine Flut beschrieben. Mit dem Ausdruck „unzählig Menschen“ werden diese beschrieben, die aus- und einschwemmen. Vor allem auf die Mengenangaben sollte dabei das Augenmerk gelenkt werden. Generell macht Heym von ihnen des Öfteren Gebrauch. So spricht er in Zeile 3 von „tausend“ Fenstern und in Vers 6 von „unzählig“. Diese Mengenangaben verdeutlichen, welche große Massen in der Stadt präsent sind. Heym betont dabei indirekt, dass es sich um keine Individuen handelt. Im Gegenteil, er stellt gerade mit dem Vers 6 heraus, dass der Einzelne Teil des Kollektivs ist und daher nur als Kollektiv wahrgenommen werden kann.
In der nächsten Zeile nimmt Heym immer näheren Bezug auf eine genauere Wahrnehmung der Sinne in der Stadt. Beschrieb der Dichter bis zu diesem Zeitpunkt die optisch wahrgenommene Lage in der Stadt, betont er nun die farblose und eintönige Stimmung in ihr: Diese wird durch die Alliterationen6 „Stumpfer Ton von stumpfem Sein“ hervorgehoben. Auffällig ist beim genaueren Hinsehen die Form in den Strophen. Die Quartette beinhalten immer zwei Sätze, die über zwei Verse lang sind. Durch Enjambements werden sie weitergeführt, doch das Verstehen wird durch die häufigen Inversionen7 erschwert. So etwa in Vers 7 und 8. Mit großer Wahrscheinlichkeit soll diese Umstellung der Satzteile die Verwirrtheit und das Chaos in der Stadt verdeutlichen. Gleichzeitig kann diese Umstellung, aber auch die Unstimmigkeit der Reime in den Versen 11 und 14, die Sprengung alter Formen bezeichnen. Paradox ist der Vers 7 in seiner Aussage. Obwohl alles „stumpf sei, komme ein ewig stumpfer Ton in Stille, aber eintönig heraus. Die Monotonie wäre demnach trotz der Stille zu hören.
Ein stärkerer Kontrast tritt in der dritten Strophe auf, sodass sich diese von den bisherigen beiden Strophen unterscheidet. Wurde bis zu Vers 9 die Stille und die Monotonie beschrieben, wo werden in Vers 9 Begriffe aneinandergereiht, die das Gegenteil davon darstellen. Heym spricht von „Gebärden, Tod, Wehen und langen Sterbeschreien“. Mit Ausnahme des Todes beschreiben diese Begriffe Leiden der Menschen, die keineswegs leise stattfinden können, zumal der Dichter von den „Lallen der Wehen“ (Vers 10) und dem „Sterbeschrei“ (Vers 10) spricht. Die Tatsache, dass in den Versen 9 und 10 eine Enumeration vorliegt, führt zu einer gewollten Sinnes- und Reizüberflutung des zuvor mit der Stille konfrontierten Lesers. Vor seinen Augen wird ein Schreckensszenario ausmalt. Obwohl dieses eine erschütternde Wirkung auf dem Leser hat, besteht die eigentliche Erschütterung erst ein Vers 2. Mit dem Satz „Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei“ beschreibt er die Reaktion der Menschen auf das zuvor beschriebene schlimme Geschehen. Dem Dichter zufolge würden diese die Augen vor der Situation verschließen. Dies verdeutlicht das Adjektiv „blind“. Der Ausdruck „Im blinden Wechsel“ beweist, dass keinerlei Blickkontakt zwischen ihnen herrscht. Daher wird Heym nach nicht einmal der „lange“ Sterbeschrei wahrgenommen. Es geht einfach „dumpf vorbei“. Eine gerade zu euphemistische, aber auch banalisierende Beschreibung des Dichters wird an dieser Stelle klar deutlich. Die Menschen sehen und hören das Grauen einfach nicht. Der Grund wird immer wieder betont, was die Untersuchung der Semantik klar beweist. Sei es „stumpf“ (Vers 7); „Stille“ (Vers 8) oder das Adjektiv „dumpf“ in Vers 11, immer wieder wird die Betonung auf die lautlose, fast todähnliche Situation gelegt. Dennoch treten einzelne Wörter auf, die einen Kontrast zu der zuvor beschriebenen Atmosphäre bilden. Beispiele neben den Versen 9 und 10 wären hierfür die Wörter „tausend“ (Vers 3), „heraus- und hereinschwemmen“ (Vers 6). Irgendetwas scheint sich anzubahnen, doch die Menschen bemerken nichts.
Mit der letzten Strophe macht Heym einen Einschnitt, indem er nun die Folge des zuvor genannten Lebens in der Stadt beschreibt. In dem Vers 12 beginnt er mit der Enumeration von Wörtern, deren Konnotation8 für den Menschen gefährlich ist. Heym benennt dabei die Wörter „Feuer, Fackeln, rot und Brand“. Im nächsten Vers beschreibt er diese als Bedrohung („die drohn“). Dabei werden alle Nomen im Vers 12 wieder personifiziert. Anscheinend ist das Feuer, das für die Hitze und das Brennen verantwortlich ist, bereit für den Angriff auf die Stadt. Die Bemerkung „mit gezückter Hand“ verleitet den Leser zu der Annahme, dass das Feuer, genauso wie ein Ritter sein Schwert bereit hält, angriffsbereit ist. Obwohl Heym von den Drohungen „im Weiten“ (Vers 13) spricht, kann anscheinend dennoch die gezückte Hand erkannt werden. Der letzte Vers bekräftigt diese Annahme, da Feuer vor einem dunklen Hintergrund („dunkler Wolkenwand“) gut zu erkennen ist. Der Begriff „Wolkenwand“ kann zudem als Umzingelung verstanden werden, die den Menschen jegliche Sicht auf den Mond verbieten. Es scheint, als nahe ein Weltende. Die drohenden fackeln und Brände sind en Indiz dafür, dass der Stadt in naher Zukunft etwas passieren wird. Auch wenn die Bedrohung vor allem in der Nacht sehr klar zu erkennen ist, können sich die Menschen nicht mehr davor schützen. Denn diese haben längst die Rolle des Objekts übernommen und die Rolle des Subjekts der Stadt mit ihren betonbepflasterten Straßen und den Glasfenstern gegeben. Nicht den Menschen wurden in diesem Gedicht von Heym personenhafte Eigenschaften zugeschrieben, sondern die Fenster und Straßen wurden personifiziert.
Das Gedicht ist eindeutig der Epoche des Expressionismus zuzuordnen. Dementsprechend ist es mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen 1905 und 1925 entstanden. Charakteristische Merkmale des Expressionismus finden sich dabei sowohl in der formalen, als auch in der inhaltlichen Analyse. Obwohl Georg Heym auf dem ersten Blick die Sonett-Form anwendet und die Silbenzahlfast durchgehend beibehält, ist er dennoch bemüht, die bestehenden Formen zu sprengen. So etwa durch Verwendung des Neologismus „Wolkenschein“ oder die sich stark bemerkbar machende Umstellung der Satzglieder. Außerdem scheint es, als würde Georg Heym aus Protest gegen die traditionellen Formen die Verse 11 und 14 nicht miteinander reimen lassen.
Bezüglich der inhaltlichen Analyse weist das Gedicht noch klarere Bezüge zu der Epoche des Expressionismus auf. Es behandelt eines der zentralen Themen dieser Epoche: Die Stadt. Die Beschreibung der Stadt erfolgt so, wie Heym sie selbst sieht und erlebt. In dieser scheint sich der Dichter nicht wohl zu fühlen. Vor allem in der dritten Strophe wird seine Kritik klar deutlich. Die Oberflächlichkeit der Menschen und die enorme Gewichtung, die der Stadt, besonders der Großstadt beigemessen wurde, machen das Leben Anfang des 20. Jahrhunderts in Heyms Augen nicht lebenswert. In der letzten Strophe wird zudem herausgestellt, dass ein grauenvolles Ende naht. Beim Leser macht sich bei der Beschreibung des drohenden Feuers das Szenario einer Apokalypse breit. Diese kündigt sich zwar an, wird aber außer dem Dichter von keiner anderen Person wahrgenommen.